Читать книгу Einführung in den Kriminalroman - Thomas Kniesche - Страница 8
2. Gattungsfragen und Definitionsversuche
ОглавлениеDer Kriminalroman als literarische Gattung
Dies ist natürlich auch versucht worden, allerdings mit unterschiedlichen und sich oft widersprechenden Ergebnissen. Das hängt einmal damit zusammen, dass der Kriminalroman sich erst relativ spät aus verschiedenen Vorformen entwickelt hat, die aber in seinen späteren Ausformungen Spuren hinterlassen haben. Zum anderen hat der Kriminalroman eine erstaunliche Fähigkeit gezeigt, mit anderen Gattungen Kombinationen oder „Hybridformen“ (Thielking 2014, 7) einzugehen und auch medienübergreifend realisiert zu werden, was in der Kürzel „Krimi“ zum Ausdruck kommt. Abgesehen von seiner weiteren Bedeutung als Kennzeichnung eines spannenden Ereignisses („Das war wieder ein Fußball-Krimi heute“) bezeichnet das Kurzwort „Krimi“ Texte, die als Roman, Erzählung, Hörspiel, Fernsehserie, Kinofilm oder Internet-Spiel auftreten können.
Terminologie
Ein weiteres Problem der Begriffsbestimmung für den Kriminalroman und seine Untergattungen besteht darin, dass es keine Einigkeit über die verwendete Terminologie gibt. In dieser Einführung wird der Terminus „Kriminalroman“ als Oberbegriff verwendet. Der Kriminalroman hat die beiden Untergattungen „Detektivroman“ und „Thriller“. „Kriminalroman“ als Oberbegriff zu wählen ist sinnvoll, weil es dem allgemeinen Sprachgebrauch folgt und weil so die Nähe zu der Kurzform „Krimi“ gewahrt bleibt, obwohl beide Begriffe nicht identisch sind. Der Begriff „Detektivroman“ ist unproblematisch, solange er nicht mit dem Kriminalroman gleichgesetzt wird. Bei der Wahl des Begriffs „Thriller“ ist die Entscheidung nicht so einfach. Die Wahl fiel jedoch gegen die alternativen Begriffe „Verbrechensroman“ bzw. „psychologischer Verbrechensroman“ (Hühn 2008), weil „Verbrechensroman“ nicht dem alltäglichen Sprachgebrauch entspricht, weil „Verbrechensroman“ dem Begriff „Verbrechensliteratur“ zu ähnlich ist und damit eine implizite Wertung verbunden ist und weil der „Verbrechensroman“ den diffusen Grenzbereich zwischen Kriminalroman und kriminalistischen Romanen, die keine Kriminalromane sind (dazu später mehr), abdecken soll.
Definitionen des Kriminalromans
In den einschlägigen Fachlexika und Handbüchern wird der Kriminalroman thematisch und formal als längerer erzählender Text, bei dem ein Verbrechen im Mittelpunkt steht, definiert, so etwa bei Vogt: „Kriminalroman […] ist die Genrebezeichnung für längere Erzählwerke, die thematisch auf die Ursachen u. Umstände, bes. aber die Aufdeckung von Verbrechen […] gerichtet und mehr oder weniger eng an ein standardisiertes Erzählmuster gebunden sind“ (1992, 495) oder bei Wörtche: „Thematisch definierte Form |9|erzählender Prosa seit dem späten 19. Jh. […] Der Kriminalroman handelt in sowohl typologisierten als auch ‚freien‘ Erzählmustern von Verbrechen und deren Aufklärung“ (2007, 342). In beiden eben zitierten Definitionen klingt schon eine Differenzierung an, nämlich ob ein Kriminalroman sich auf das Verbrechen selbst konzentriert oder auf seine „Aufdeckung“ oder „Aufklärung“. Diese Frage spielt bei der Typisierung von Kriminalromanen eine entscheidende Rolle, wie wir weiter unten sehen werden. Ein weiterer Definitionsversuch zeigt, dass diese Differenzierung für eine genauere Bestimmung des Kriminalromans über das rein Inhaltliche hinaus wichtig ist: „Der Kriminalroman, insbesondere in seiner klassischen, im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts kanonisierten Form als (kurzer) Detektivroman, hat unter den literarischen Genres eine Sonderstellung schon dadurch, dass er sowohl inhaltlich/thematisch wie auch formal/erzählstrukturell genau definiert ist“ (Vogt 2008, 225). Dies impliziert, dass die Definition von Kriminalromanen, die keine Detektivromane sind, problematisch ist oder anders gesagt: Als Detektivroman ist der Kriminalroman ohne große Schwierigkeiten definierbar, in seinen anderen Spielarten oder Untergattungen ist das jedoch nicht so einfach möglich.
Abgrenzung von der Verbrechensliteratur
Dies führt auf das bereits angesprochene Problem, den Kriminalroman von der Verbrechensliteratur abzugrenzen. Zur „Verbrechensliteratur“ könnte man Dramen wie Sophokles’ Oedipus Rex oder Shakespears Macbeth und zahllose andere Werke der Weltliteratur zählen, zur Kriminalliteratur gehören sie eindeutig nicht. Auch wenn es sich um Texte handelt, die keine Romane sind sondern Erzählungen, wie E. T. A. Hoffmanns „Das Fräulein von Scuderi“ (1819) oder Edgar Allan Poes „Die Morde in der Rue Morgue“ (1841), hat man noch recht einfaches Spiel (obwohl vieles, was hier für den Kriminalroman gesagt wird, auch für solche Erzählungen gilt bzw. die Gattung des Kriminalromans wichtige Vorläufer in den gerade genannten beiden Erzählungen hat, vgl. Kap. IV). Betrachtet man jedoch Romane wie Oliver Twist (1838) von Charles Dickens (um nur einen Roman dieses Autors herauszugreifen), Dostojewskijs Verbrechen und Strafe (1866), Ricarda Huchs Der Fall Deruga (1917) oder Jakob Wassermanns Der Fall Maurizius (1928), dann sind die Zuordnungen nicht so klar. Diese Romane könnte man aufgrund ihres Inhalts zur Verbrechensliteratur zählen, ob sie Kriminalromane sind oder nicht, ist dagegen diskutierbar. Man könnte die Liste der Beispiele hier noch vielfach erweitern. Für solche Texte ist vor Kurzem die Bezeichnung „Beinahekrimis“ geprägt worden (Thielking/Vogt 2014) und Überlegungen solcher Art belegen, dass die Übergänge zwischen dem Kriminalroman und der Verbrechensliteratur fließend sind. Die Matrix in Abb. 1 soll diese Tatsache verdeutlichen:
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Abb. 1 Kriminalromane und Verbrechensromane
|11|Die beiden Achsen der Matrix sollen anzeigen, wie wichtig das Verbrechen für den jeweiligen Roman ist bzw. wie ausgeprägt die Bedeutung von Elementen ist, die man üblicherweise mit „literarischen“ Texten in Verbindung bringt, wobei von Fragen der Wertung zunächst noch abgesehen werden soll. Die gepunktete Linie, die die Schwelle zum Kriminalroman anzeigt, ist als Grauzone zu verstehen, hier bewegt man sich in dem Bereich, wo die Übergänge zwischen Kriminalroman und Beinahekrimi(nalroman) fließend sind.
Probleme der Wertung
Fragen und Probleme der literarischen Wertung sind komplex und können hier nicht im Einzelnen entwickelt werden (siehe dazu Heydebrand/Winko 1996;Rippl/Winko 2013, zum Kriminalroman insbesondere 335–349; Hoffmann 2012). Bei der Begriffsbestimmung von Kriminalromanen kann man von diesen Fragen aber nicht absehen. Es gehört zur deutschen kulturellen Tradition, „hohe“ (künstlerische, wahre, richtige) Literatur von dem, was seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts als „Schmutz“ oder „Schund“ bezeichnet wurde und was heute Trivialliteratur genannt wird, streng abzugrenzen. In den angelsächsischen Ländern mit ihrer „middlebrow culture“, also einer gehobenen Ansprüchen entgegen kommenden Unterhaltungskultur, war diese Unterscheidung nie so trennscharf. Heute mag diese unterschiedliche Bewertung kultureller Erzeugnisse auch im deutschsprachigen Bereich nicht mehr so ausgeprägt sein, für die Zeit, in der sich der Kriminalroman als Gattung etablierte und bis zur Ablösung der Geisteswissenschaften durch die Kulturwissenschaften Ende der achtziger Jahre war sie aber enorm wichtig.
Kriminalroman vs. Verbrechensroman?
Das führte zu solchen Begriffsbestimmungen wie „Der Kriminalroman ist kastrierte Verbrechensdichtung“, weil er „nicht einfach ein Roman [ist], der ein Verbrechen schildert, sondern ein Roman, der das Verbrechen auf eine ganz bestimmte Art behandelt, beschränkt behandelt. Die Beschränkung der Dimension ist das entscheidende“ (Gerber 1998 [1966], 74). Das sei zwar „etwas kraß, aber unmißverständlich.“ (75). Es ist durch seine tendenziöse Vereinfachung aber auch schlichtweg falsch. Man bedient sich hier einer Definition, die auf dem Modell ‚Abweichung [Reduzierung] von der Norm‘ beruht. Eine solche Definition geht zurück auf die Vorurteile eines kulturkonservativen Bewusstseins, das dem Kriminalroman jede Zugehörigkeit zur Sphäre der Kunst („Dichtung“, „Verbrechensdichtung“) verweigert und ihn zur bloßen Unterhaltung (verstanden als Befriedigung niedriger Bedürfnisse) degradiert. Eine solche, auf vorhersagbare Muster beschränkte und primär der Unterhaltung dienende Produktion hat es natürlich gegeben und wird es auch weiter geben. Das ist aber kein Argument, die Gattung Kriminalroman auf solche Erzeugnisse zu reduzieren. Wertungsneutral gesehen ist der Kriminalroman neben solchen Romanarten wie Gesellschaftsroman, Entwicklungsroman, Abenteuerroman, Künstlerroman usw. eine Untergattung des Romans, die sich weiter differenzieren lässt.
Lesererwartung und Rezeptionshaltung
Bei der Frage, was ein Kriminalroman ist und was nicht, spielen auch die Erwartungen und Reaktionen der Leser und die Art der Vermarktung der Texte eine Rolle. Zugespitzt könnte man formulieren: Ein Kriminalroman ist, was als Kriminalroman gelesen wird. Das mag in seiner einseitigen Orientierung am Konsumverhalten des Lesepublikums überspitzt sein, es verweist jedoch auf den auch für die Frage nach dem Kriminalroman wichtigen Bereich |12|des literarischen Feldes (nach Bourdieu), das bestimmt wird durch die Machtpositionen bestimmter Akteure wie Autoren, Leser, Verlage, Kritiker oder Literaturwissenschaftler, die in einem hochkomplexen Zusammenspiel wechselseitiger Einflussnahmen bestimmen, wie Texte gelesen und in literarische Gattungen eingeordnet werden. Lesererwartungen, Rezeptionshaltungen und Vermarktungsstrategien spielen eine große Rolle dafür, was eher als (bloßer) Kriminalroman gelesen wird, was als literarischer Kriminalroman gelten könnte und was eher zur (Verbrechens-)Literatur gezählt wird.
Es sollte jedoch nochmals betont werden, dass die Übergänge zwischen Kriminalroman und „Literatur“ (im Sinne eines Textes, der hohen ästhetischen Anforderungen genügt) fließend sind. Wenn in dieser Einführung für definitorische Zwecke der Kriminalroman vom Bereich der „hohen“ Literatur abgegrenzt wird, dann hat das heuristische Zwecke und impliziert kein Werturteil.