Читать книгу Einführung in den Kriminalroman - Thomas Kniesche - Страница 11
5. Historische Wandlungsprozesse des Kriminalromans
ОглавлениеZu den zwei Grundtypen des Kriminalromans treten sechs Wandlungsprozesse hinzu, die die Gattung und ihre Strukturen verändert haben. Die Gründe für das Zustandekommen dieser Veränderungen können hier nicht im Einzelnen entwickelt werden, sie haben jedenfalls mit einem Wandel der Publikumserwartungen, ausgelöst durch den Einfluss von audiovisuellen Medien, mit sich ändernden sozialen, ökonomischen und politischen Wirklichkeiten, zu denen auch die Globalisierung gehört, und mit den Versuchen von Autoren und Autorinnen zu tun, auf diese neuen Rahmenbedingungen mit innovativen ästhetischen Verfahren zu reagieren.
Variationen des Schemas
Nach Bertolt Brecht besteht die spezifische Anziehungskraft des Detektivromans (Brecht spricht vom „Kriminalroman“, meint aber den Detektivroman) darin, dass er ein „Schema“ hat und dieses variiert (Brecht 1998 [1938/1949], 33). Diese Variationen betreffen den Typus des Detektivs und seine |18|Vorgehensweise, den Hergang der Tat, die Mordwaffen und die Identität des Täters. Bereits in den zwanziger Jahren zeichnete sich ab, dass die Variationsmöglichkeiten der Elemente des Kriminalromans erschöpft waren, was symptomatisch in den Verboten der Regelkatologe zum Ausdruck kam (zu diesen Regeln vgl. Kap. IV.3). Es blieb also scheinbar nur noch übrig, die Regeln zu übertreten, ohne die Leser gänzlich vor den Kopf zu stoßen. Bei alldem sollte man jedoch nicht die „Nachsicht der Leser“ und „die Raffinesse der neuen Autoren im Auffindigmachen und Aufpolieren alter Tricks“ (Symons 1972, 119) unterschätzen.
Realistische Erweiterung
Weitaus wichtiger für die Entwicklung des Detektivromans und seine fortlaufende Popularität als Variationen im Schema ist jedoch das, was man seine „realistische Erweiterung“ genannt hat. Darunter ist die „soziale, milieuspezifische und psychologische Vertiefung und Differenzierung des whodunit-Schemas“ (Vogt 2010, 26) zu verstehen. Als repräsentativ für diese Art von Erweiterung des detektivischen Schemas wurden die Kriminalromane von P. D. James (1920–2014) und Elizabeth George (∗1949) genannt, die auch vom Umfang her den Rahmen des typischerweise um die zweihundert Seiten langen traditionellen Detektivromans sprengen. Bei diesen und anderen Autoren werden durch das Verbrechen bestimmte soziale Milieus in den Blickpunkt (des Detektivs und des Lesers) gerückt, die Detektivfigur hat ein (meist problematisches) Privatleben, dessen Anforderungen mit denen ihres Berufes in Konflikt geraten, die Detektive sind jetzt stärker in familiäre und andere gesellschaftliche Zusammenhänge eingebunden und sie werden auch gezeigt als diese Zusammenhänge reflektierende und an ihnen leidende Charaktere (als Beispiele seien hier nur genannt Tabor Süden bei Friedrich Ani, John Rebus bei Ian Rankin oder Kurt Wallander bei Henning Mankell). Die sozialen und psychologischen Hintergründe des Verbrechens werden schrittweise im Detail während der Detektion enthüllt. In Kapitel V.2 wird als frühes Beispiel für die realistische Erweiterung des Detektivromans Friedrich Glausers Matto regiert (1936) vorgestellt.
Thematische Ausdifferenzierung
Besonders im Bereich des Thrillers ist seit den fünfziger Jahren eine Ausdifferenzierung festzustellen, die durch jeweils aktuelle politische Ereignisse und Konstellationen (der Polit-Thriller, der Spionageroman) oder durch in den Medien hochgespielte, reale Vorkommnisse (der Serienmörder-Thriller, Gangster-Thriller) determiniert werden.
Typenkombination
Die besonders für zeitgenössische Kriminalromane wichtigste strukturelle Modifikation der Gattung Kriminalroman ist die Typenkombination. Hier werden Elemente der Untergattungen Detektivroman und Thriller in einem neuen „Standardtyp“ (Vogt 2010, 26) vereint, so dass zwar am Anfang wie im traditionellen Detektivroman das Auffinden einer Leiche steht, im Laufe der Handlung jedoch weitere Verbrechen geschehen, die Ermittlung meist die Detektivfigur selbst in Gefahr bringt und sowohl Detektivfigur als auch Täterfigur im Mittelpunkt des Interesses stehen. Nur folgerichtig und auch typisch für Kriminalromane, in denen die Typenkombination angewendet wird, ist der Wechsel der Erzählperspektive zwischen Detektiv, Opfer, Täter und anderen Beteiligten im Umfeld dieser Figuren. Als frühe Form der Typenkombination, allerdings ohne Perspektivenwechesel, können die Romane der hard-boiled Schule gelten, die deshalb nicht als eigener Grundtyp angenommen werden sollten. Aktuellere Beispiele sind die Texte von Stieg |19|Larsson und Henning Mankell, dessen Roman Die fünfte Frau (2000, schwed. Orig. 1997) in Kapitel V.6 genauer betrachtet wird.
Hybridisierung
Die Öffnung des Kriminalromans hat besonders in neuerer Zeit eine Qualität erreicht, die nicht mehr nur als bloße Erweiterung durch neue Themen bezeichnet werden kann. In vielen Fällen findet eine Verschmelzung von Kriminalroman und Gesellschaftsroman, von Kriminalroman und historischem Roman oder von Kriminalroman und psychologischem Roman statt. Besonders die seit den frühen achtziger Jahren beliebte Hybridgattung des historischen Kriminalromans im Gefolge von Umberto Ecos Der Name der Rose (1982, ital. Orig. 1980) wäre hier zu nennen. Als in Kapitel V.1 und V.2 zu besprechende Beispiele für die Hybridisierung von Kriminalroman und psychologischem Roman bzw. von Kriminalroman und Gesellschaftsroman (mit starken psychologischen Komponenten) können Georges Simenons Maigret und Pietr der Lette (frz. Orig. 1930) und Friedrich Glausers Matto regiert (1936) gelten.
Moderne Erzählverfahren
Kennzeichnend für viele Kriminalromane, die seit den achtziger Jahren geschrieben wurden, ist die Verwendung moderner Erzählverfahren wie „wechselnder point-of-view, Auflösung des Zeit-Kontinuums, Montage, stream-of-consciousness, Intertextualität“ (Vogt, 2010, 26). Viele neuere Kriminalromane ließen sich hier als Beispiele anführen, in Kapitel V.8 wird Andrea Maria Schenkels Roman Tannöd (2006) analysiert, der alle gerade angeführten erzählerischen Techniken verwendet, Kapitel V.5 stellt mit Patrick Süskinds Das Parfum (1985) einen Roman vor, bei dem insbesondere die intertextuellen Verweise die Lektüre interessant machen.
Abb. 2 zeigt noch einmal die beiden Grundtypen des Kriminalromans und die sechs Wandlungsprozesse, die sich zur Erklärung der mannigfaltigen Formen, in denen der Kriminalroman heute auftreten kann, anführen lassen:
Abb. 2