Читать книгу Blutgefährtin 1 - Thomas M Hoffmann - Страница 4
1 Der Fremde
ОглавлениеIch schlendere aus dem Schulgebäude mit meiner Tasche über der Schulter und halte nach Chloé und Inès Ausschau. Der Nachmittag hat sich mal wieder gezogen wie Kaugummi und ich sehne mich nach ein wenig Ruhe.
Meine beiden Freundinnen stehen etwas abseits des Eingangstores zu unserem Lycée, der französischen Oberstufe, und schnattern miteinander. Vermutlich geht es wieder einmal um die gestrige Folge von „Beauty Queen“, die ich natürlich verpasst habe, weil ich Besseres zu tun habe, als fremden Frauen dabei zuzusehen, schön auszusehen.
Aber Chloé und Inès sind richtige Fans.
Als ich mich nähere, merke ich, dass ich mal wieder Recht habe. Chloé und Inès haben sich immer noch nicht einigen können, wer denn die Favoritin ist und tauschen Argumente für oder gegen die eine oder andere aus. Ich stelle mich zu den beiden und warte ein paar Minuten ab, bevor ich sie unterbreche. Ich will ja nicht unhöflich sein, aber bei dem Thema kann ich nun wirklich nicht mitreden.
«Wartet doch einfach auf das Finale in zwei Wochen, dann wisst ihr, wer gewonnen hat»
Chloé zieht eine Schnute.
«Du kannst einem ja alle Vorfreude verderben, Trish.»
«Vorfreude? Ha, wieso soll ich mich darauf freuen, wenn irgendeine von den Tussis schöner aussieht als eine andere?»
«Na, immerhin kann die Siegerin bei der Miss Frankreich Wahl antreten. Und du glaubst gar nicht, was man alles an Schönheitstipps in der Sendung aufschnappen kann.»
Ich verzerre mein Gesicht zu einer Fratze und zeige mit den Fingern von zwei Seiten auf meinen Kopf. «Du meinst ich muss gar nicht so aussehen?»
Chloé lacht und stampft mit dem Fuß auf.
«Du bist unmöglich, Trish!»
Ich will gerade etwas erwidern, als Inès uns zuvorkommt.
«Schaut mal da.»
Ich drehe mich um, um in die Richtung zu schauen, in die Inès zeigt.
Wow! Ist der Kerl heiß!
Ich sehe den Mann schräg von der Seite, er trägt eine enge Jeans, ein schwarzes T-Shirt und sportliche Schuhe. Während er geschmeidig die Straße entlanggeht, kann ich erkennen, wie sich seine Muskeln bewegen. Die ganze Ausstrahlung ist geballte Männlichkeit, aber ohne diese Künstlichkeit, die man so oft in irgendwelchen Magazinen sieht. Die Gestalt ist schlank, er hat vermutlich kein Gramm Fett zu viel. Unwillkürlich gleitet mein Blick seine Rückseite entlang, der Hintern ist so knackig, dass sich etwas unterhalb meiner Magengegend zusammenkrampft.
Rasch schaue ich wieder nach oben. Die Haare erinnern mich an die sanften Brauntöne des Herbstes, ob sie sich wohl so weich anfühlen, wie sie aussehen? Er hat eine hübsche, kleine Nase und sein Mund sieht von der Seite so aus, als würde er lächeln. Was er wohl für eine Augenfarbe hat? Ich merke, wie mein Herz anfängt zu klopfen, unwillkürlich lecke ich mir mit der Zunge über die Lippen, der hat ja einen echten Traumbody.
Aber es ist nicht allein der schöne Körperbau, der den Eindruck macht. Er hat die Ausstrahlung eines Raubtieres, ich möchte nicht in der Nähe sein, wenn der mal wütend wird. Meine Augen verfolgen ihn, wie er sich der Ecke nähert und stehen bleibt, um ein paar Worte mit dem Besitzer des Käseladens zu wechseln. Fasziniert verfolge ich, wie dieser Mann mit dem oft grimmigen Ladeninhaber redet, der eigentlich immer schlechter Laune ist, wenn wir dort mal etwas Baguette und Käse kaufen. Man hat den Eindruck, er wolle uns Schüler gar nicht als Kunden haben. Aber diesem Fremden gegenüber macht er ein beinahe freundliches Gesicht – ein Anblick mit Seltenheitswert.
Er geht weiter und ich kann meinen Blick einfach nicht losreißen. Wenn mir jemand erzählen würde, der da sei der Mensch gewordene griechische Gott Adonis, ich würde es sofort glauben. Bewundernd verfolge ich jeden Schritt. Ein lautes Kichern stört mich dabei und ich brauche einen Moment, um zu merken, dass es von meinen Freundinnen kommt.
Chloé und Inès lachen im Duett, wobei sie mich im Blick haben. Ich schaue sie verwirrt an.
«Ich glaube, das beantwortet meine Frage», kichert Chloé, «dir gefällt der Typ.»
Mist. Wenn man mit der Hand in der Keksdose erwischt wird, ist Angriff die beste Verteidigung.
«Na klar. Der sieht doch super aus. Das ist mal ein echter Hingucker.»
«Der? Der ist ja schon halb tot. Mindestens dreißig würde ich sagen.»
Seltsamerweise war das Gesicht des Mannes geradezu zeitlos, also könnte Chloé schon Recht haben. Aber das würde ich niemals zugeben.
«Ach Quatsch. Mitte zwanzig maximal.»
«Ha, Mitte zwanzig hat der vielleicht vor zehn Jahren mal gesehen. Ich sag dir, ab nächstem Jahr geht der am Rollator.»
«Bevor der am Rollator geht, sitzt du im Rollstuhl, wetten?»
Wie immer, wenn Chloé und ich uns in unseren Diskussionen verzetteln, greift Inès mäßigend ein.
«Vater hat mir erzählt, dass der das Chateau de Marronniers gekauft hat.»
Allerhand. Das Chateau ist ein schlossartiges Herrenhaus am Ende einer Kastanienallee am Rande des Dorfes, mindestens zwanzig Zimmer, echt riesig. Als Tochter des Bürgermeisters ist Inès natürlich gut informiert, was die Vorgänge im Dorf angeht, also wird sie wohl Recht haben, aber wozu ein solcher Mann so ein Anwesen braucht, ist mir schleierhaft.
Vielleicht will er sich ja als „der Bachelor“ zur Verfügung stellen. Dann würde ich mich auf jeden Fall bewerben.
«Mannomann», sage ich, «Der sieht ja nicht nur klasse aus, der muss auch noch jede Menge Geld haben.»
Inès zuckt mit den Schultern.
«Keine Ahnung. Seine Kontoauszüge habe ich nicht gesehen, aber Vater war richtig begeistert. Er will irgendwas mit Weinhandel aufziehen und Vater sagt immer, dass Lorgues mehr Gewerbe braucht.»
«Na, da hat er sich ja den richtigen Fleck ausgesucht.»
In der Ecke der Provence, in wir leben, wird viel Weinbau betrieben, Großvater baut ja schließlich auch welchen an. Im Frühling duften die Weinberge rund um Lorgues von den vielen Pflanzen und im Früherbst schallen die Stimmen der Saisonarbeiter durch das Tal, wenn die Lese beginnt. Das ist immer eine richtig aufregende Zeit.
In diesem Moment kommt Frank, der Freund von Chloé, um die Ecke, wodurch Inès und ich sofort vergessen sind. Frank ist ein Junge aus einer Parallelklasse und eigentlich ganz nett. Ein echter Könner in Mathe und Informatik, aber er kommt mir immer so schrecklich jung vor. Dazu ist er pickelig. allerdings kann er dafür vermutlich nichts. Chloé macht das wohl nichts aus, denn die beiden sind schon eine Ewigkeit zusammen, mindestens sechs Monate oder so.
Also sage ich noch „hey“ zu Chloés Freund, winke Inès und Chloé zum Abschied zu und mache mich auf den Heimweg.
Mit dem Fahrrad brauche ich etwa 20 Minuten bis zu Großvaters Weingut, einige Kilometer außerhalb von Lorgues. Bei gutem Wetter genieße ich die Fahrt durch die Olivenbaum und Lavendel Felder, um den Hügel der Chapelle d’Saint Marie herum und an den Weinbergen vorbei, die teilweise zu unserem Weingut gehören. Gott sei Dank ist das Wetter in der Provence meistens gut, das erinnert mich an San Diego, wo ich aufgewachsen bin.
Um diese Zeit des Jahres, nach Anbruch des Frühjahrs, aber bevor die Hitze des Sommers beginnt, ist in den Weinbergen zwar einiges zu tun, um die Pflanzen zu hegen, zurecht zu schneiden, vor Schädlingen und Krankheiten zu bewahren und all das, aber verglichen mit der Zeit der Lese und der Kelter ist es eine geruhsame Zeit. Großvater lässt es sich nicht nehmen, täglich selbst nach den Weinstöcken zu sehen, wobei er die schwere Arbeit unserem Knecht Jules und seinen Helfern überlässt. Seit dem Tod meiner Großmutter vor ein paar Jahren, hat er zwar kräftemäßig abgebaut, aber er bemüht sich, eine aufrechte Haltung zu zeigen.
Ich glaube hauptsächlich meinetwegen.
Ich bin fest entschlossen, das Gut einmal zu übernehmen und bereits jetzt so viel wie möglich von Großvater zu lernen. In diesem Jahr werde ich meinen Schulabschluss machen und wenn alles gut geht, werde ich Weinbau studieren. Dazu muss ich aber von Lorgues weg, mindestens nach Marseille, vielleicht sogar nach Bordeaux, wo es die beste Universität in diesem Fach gibt. Über einige Jahre müsste ich Großvater dann alleine lassen.
Manchmal liege ich deswegen vor Sorgen wach. Ich bin die einzige, die sich noch um ihn kümmern kann. Mein Vater ist schon lange tot, Tante Anna lebt am anderen Ende der Erde und ich bin seine einzige Enkelin. Ich will ihn nicht alleine lassen, er braucht mich und ich brauche ihn. Aber ich will auf keinen Fall, dass dieses Weingut, das uns so unerwartet zugefallen ist, wieder verkommt. Meine Großeltern haben so viel Mühe hereingesteckt, die Erfolge haben sie unter so viel Arbeit erreicht, das soll nicht umsonst gewesen sein.
Außerdem ist hier mein zu Hause, wo ich glücklich sein kann nach der Hölle von San Diego.
Ich verdränge meine grüblerischen Gedanken, die Sonne strahlt und der Duft der Felder, die in voller Blüte stehen, steigt mir in die Nase. Ich hole tief Luft, es riecht nach Lavendel, Weinreben, Holz und Sommer. Ein Kichern steigt in mir hoch, weil ich an diesen Traummann von eben denken muss, da ist kein Platz für unangenehme Erinnerungen.
Als ich zu Hause ankomme, ist noch etwas Zeit bis zum Abendessen. Ich rufe Catherine, unserer Haushälterin, die nach dem Tod von Großmutter die volle Kontrolle über den Haushalt übernommen hat, ein kurzes Hallo zu und laufe auf mein Zimmer, um mich umzuziehen. Anschließend gehe ich noch ins Büro, um die Post durchzusehen. Großvater, als ehemaliger Banker, prüft zwar alle Umsätze und Rechnungen noch selbst, hat mir aber den Großteil der Buchhaltung überlassen, damit ich lerne, wie so ein Betrieb funktioniert. Um diese Zeit des Jahres haben wir etwa dreiviertel der Produktion verkauft und das deckt bereits die Kosten des Jahres.
Wir stehen ganz ordentlich da.
Der Hauptgrund dafür ist, dass wir mit einer unserer Lagen eine Bronzemedaille errungen haben. Das hat es uns ermöglicht, einen größeren Kundenkreis zu erreichen. Großvater arbeitet eifrig daran, auch noch eine Silbermedaille zu erhalten, aber meiner Einschätzung nach wird das ziemlich schwierig werden. Das Weingut war eben zu lange vernachlässigt und nicht bewirtschaftet worden.
Als Catherine zum Abendessen ruft, bin ich mit der Post durch, habe Rechnungen und Zahlungseingänge geprüft und alles abgeheftet. Ich gehe ins Esszimmer und sehe, dass Großvater bereits in seiner Zeitung blätternd am Tisch sitzt.
«Hallo Großvater», sage ich, umarme Großvater und gebe ihm einen Kuss auf seine rauen Wangen.
«Hallo Trish, mein Schatz», sagt Großvater und drückt mich. «Wie war die Schule?»
Ich verziehe das Gesicht. «Nichts Besonderes, außer dass die Lehrer jetzt, wo die Prüfungen bald anstehen, versuchen, versäumten Stoff nachzuholen. Das macht gehörig Stress.»
Man stelle sich das mal vor. Prüfungen in zwölf Fächern und in allen werden die Prüfungsfragen zentral vorgegeben. Wenn ein Lehrer in nur einem Fach mit dem Stoff nicht durchgekommen ist, fehlt der ganzen Klasse das Wissen, um die Prüfungen zu bestehen. Dummerweise haben so einige Lehrer die Zügel schleifen lassen. Was sie jetzt versuchen aufzuholen.
«Arme Trish. Musst Du noch etwas für die Schule machen?»
«Nein, ich konnte alles am Nachmittag erledigen. Nur nächste Woche schreiben wir eine Arbeit in Bio, da muss ich dann wohl auch abends noch etwas vorbereiten. Aber heute Abend gehe ich noch fix zu Morelle.»
Morelle ist mein Pferd, das bei unseren Nachbarn steht, die einen geeigneten Stall haben. So oft ich kann, gehe ich zu ihr und kümmere mich um sie. Zum Ausreiten komme ich dabei meist nur am Wochenende. Seit ich in der Oberstufe bin, hat die Schule so viel Raum eingenommen, dass das das Einzige ist, was mir vom Reiten noch geblieben ist.
«In Ordnung, Trish, tue das.»
«Und wie war dein Tag?»
«Ich habe heute die Ostlage inspiziert. Dort sind ein paar Pflanzen etwas kümmerlich und haben braune Blätter. Ich bin mir noch nicht sicher, mit was wir es hier zu tun haben. Aber ich habe vorsorglich mal ein paar Proben zu Doktor Chavier geschickt.»
«Meinst du, wir müssen die Stöcke herausnehmen?»
«Ich hoffe nicht, aber wir werden sehen.»
Jetzt setzen sich auch Jules und Catherine zu uns und wir beginnen mit dem Essen. Früher haben die Angestellten separat gegessen, aber seit Großmutter gestorben ist, war mir das zu einsam. Deshalb habe ich Großvater überredet, wenigstens diese beiden einzuladen und das hat sich bewährt. Mit Catherines mütterlichen Art und Jules ungezügeltem Optimismus können wir die Abwesenheit von Großmutter verdrängen, auch wenn ich immer das Gefühl habe, als müsste sie jeden Augenblick hereinkommen und sich lachend zu uns setzen. Ich glaube, Großvater empfindet das genauso. Manchmal, in bestimmten Situationen, schaut er plötzlich gedankenvoll und traurig auf den Platz, wo sie immer gesessen hat.
Bestimmt vermisst er sie schrecklich, so wie ich auch.
Aber ich darf mir nichts anmerken lassen, denn ich muss Großvater helfen, damit ihn dieser Verlust nicht überwältigt.
Nach dem Essen schwinge ich mich wieder auf mein Rad und fahre zu den Nachbarn. Ich verbringe eine Stunde damit, mit Morelle zu reden, ihren Stall sauber zu machen, sie zu bürsten und ihr ein wenig an der Lounge Bewegung zu verschaffen. Es ist bereits dunkel, als ich mich endlich mit dem Heather Graham Roman, den ich gerade lese, in den Sessel in meinem Zimmer kuscheln kann. Es ist ein wunderschöner Liebesroman mit einer leidenschaftlichen Heldin, einem gutaussehenden, wenn auch etwas widerspenstigen Helden und einer verwickelten Geschichte. Ich hoffe, sie kriegen sich am Ende.
Da klingelt mein Handy, es ist Chloé.
Seufzend lege ich das Buch beiseite um mir die Erlebnisse des Abends von Chloé anzuhören. In den letzten Monaten hat sie bei solchen Gelegenheiten hauptsächlich über Frank geredet. Nicht dass das nicht interessant wäre, aber schließlich ist er nicht mein Freund und die Geschichte von Heather Graham ist definitiv interessanter.
Freundinnen können ja manchmal so anstrengend sein.
Am Ende ist es mir dann doch gelungen, noch ein paar Seiten aus meinem Roman zu lesen, aber nur weil ich Chloé versprochen habe, dass wir uns am nächsten Tag nach der Schule in ein Café setzen, um ein wenig zu tratschen. Das hat auch den Vorteil, dass Inès dann dabei ist. Um nicht alles zwei Mal erzählen zu müssen, hat sich Chloé kurz gefasst. Wobei mir einfällt, dass ich sie darauf aufmerksam gemacht habe. Aber Chloé musste einsehen, dass ich Recht habe.
Nun ja, so konnte ich noch lesen, wie die Heldin ihrem Angebeteten den ersten Kuss abnehmen konnte. Innerlich muss ich grinsen, der arme Kerl hat gar keine Chance, er weiß es nur noch nicht. Leider wird es schnell zu spät und ich muss mich schlafen legen. Meine Träume sind gefüllt mit Bildern von Schönheiten und heißer Liebe.
Die Idee, nach der Schule noch ein wenig zu tratschen, findet Inés klasse und so sitzen wir am Nachmittag in dem größten Café von Lorgues. Genießerisch schlürfe ich meinen Milchkaffee, denn pur ist mir der französische Kaffee viel zu bitter. Ich habe keine Ahnung, wie die Franzosen dazu kommen, schwarzen Kaffee gut zu finden, vermutlich muss man hier geboren sein, um sich an so etwas zu gewöhnen. Chloé trinkt ihn so, sie behauptet immer, dass die Milch den Kaffee verwässert. Aber Milch nimmt der Bitterkeit die Spitze und rundet den Geschmack richtig gut ab. Das ist zumindest meine Meinung.
Inès hat mit Kaffee gar nichts am Hut. Sie behauptet, Kaffee würde die Haut unrein machen und man würde später Falten davon bekommen. Ich bin zwar der Meinung, dass es das Alter ist, was die Falten erzeugt, aber davon will sie nichts wissen. Also trinkt sie Mineralwasser, denn ein Saft oder gar eine Cola hat viel zu viele Kalorien. Inès ist zwar dürr wie ein Streichholz, sie meint aber immer, sie hätte zu viele Kilos auf den Rippen. Ich bin ja davon überzeugt, dass bei ihr eher die Propaganda für Magermodells ihre Wirkung zeigt und sie gar nicht mehr beurteilen kann, was die richtigen Proportionen für eine Frau sind.
Als Chloé und Inès gerade irgendwelche neuesten Informationen zu „Beauty Queen” austauschen schaue ich mich auf dem Hauptplatz von Lorgues um. Auf der gegenüberliegenden Seite hat sich ein Stand der Front National breit gemacht. Ich muss meinen aufkeimenden Ärger unterdrücken, während ich diesen Stand mustere. Plakate mit irgendwelchen Parolen zu Heimat, Vaterland und Familie sind dort aufgehängt. Nicht, dass ich etwas gegen Heimat und Familie habe, aber als noch-nicht Französin fühle ich mich durch deren fremdenfeindliches Gehabe immer persönlich angegriffen.
Die schimpfen zwar hauptsächlich auf Afrikaner, aber ich bin eben noch Amerikanerin und erhalte die französische Staatsbürgerschaft erst, wenn mein Antrag auf Einbürgerung endlich bewilligt ist. Den habe ich bei meinem achtzehnten Geburtstag gestellt, denn Frankreich ist inzwischen zu meiner Heimat geworden. Aber nicht so, wie sich das die Typen von der Front National vorstellen. Außerdem steht dieser blöde Mathéo Dubois dort. Mathéo war in seinem Abschlussjahr der Mittelstufe eine Klasse über mir. Irgendwie hatte er ein Auge auf mich geworfen und hat versucht, sich an mich ranzumachen.
Bäh, der Kerl ist ziemlich widerwärtig. Natürlich habe ich ihn abblitzen lassen.
Er hat nach der Schule als Knecht auf einem nahegelegenen Bauernhof angefangen, was aber seinem Eifer für die Front Nationale keinen Abbruch getan hat. Er war immer der erste, wenn es darum ging, die Kinder von Einwanderern zu drangsalieren, vorausgesetzt sie hatten eine dunkle Hautfarbe.
Ich verdränge den Kerl aus meinen Gedanken und überlege, wie ich Chloé und Inès von dieser dummen Show abbringen kann.
«Sagt mal, habt ihr schon überlegt, was ihr für das Frühlingsfest anzieht?»
Dass sie morgen auf das Fest gehen, steht nicht in Frage, das Fest ist eine Pflichtveranstaltung für das ganze Dorf. Die Frage ist vielmehr, wie man aussieht und wie die anderen aussehen werden.
Chloé springt sofort darauf an. «Ich komme in Tracht. Mama hat einen super schönen Stoff in rot und weiß ausgesucht.”
Chloés Mutter betreibt eine kleine Schneiderei und kann ganz phantastische Kostüme nähen. Darum hat Chloé auch nie Mangel an traditioneller Bekleidung der Gegend. Das sieht an ihr ganz großartig aus, ich mag diesen Stil aber nicht. Ich bin eher für schlichte Farben und weniger verspielte Details. Nicht, dass ich nicht auch gerne mal ein Kleid oder Rock anziehe, aber meine Standardbekleidung ist Jeans und T-Shirt. Chloé jedoch muss ein ganzes Haus von Kleidern, Röcke oder Trachten haben, denn sie erscheint regelmäßig in einem anderen Outfit.
Inès zuckt mit den Schultern. Sie ist recht einfallslos, was ihre Bekleidung angeht, meistens kommt sie auch in Hosen oder Jeans. Trotz ihrer Begeisterung für diese Schönheitsshow legt sie wenig Enthusiasmus an den Tag, sich zurechtzumachen. Dabei hat sie einen sehr feinen Gesichtsschnitt, der gut zu ihrer schlanken Gestalt passt.
«Ich habe mich noch nicht entschieden. Mal schauen, was ich so im Kleiderschrank finde.”
«Sieh zu, dass du ein Kleid oder Rock findest, ich komme auch in einem Rock», meine ich dazu. Ich fühle mich in Jeans zwar wohler, aber bei solchen Festivitäten sollte man korrekt gekleidet sein, um positiv anzukommen.
«Dann sollten wir aber farblich zusammen passen», wirft Chloé ein und schon sind wir in eine Diskussion verwickelt, welche Farbtöne denn Chloés Kostüm hat und was dazu passend wäre.
Wir werden durch ein Gejohle und Gepfeife aus unserer Unterhaltung gerissen.
Als ich hochschaue, sehe ich, dass sich die drei Leute vom Stand der Front National über dem Hauptplatz verteilt haben. Sie blicken einer schwarzen Frau entgegen, die wohl gerade den Platz überqueren wollte.
Was die drei durch ihre gewollte Konfrontation verhindert haben.
Die Frau steht mit aufgerissenen Augen am Rand des Platzes und weiß offensichtlich nicht, was sie machen soll. Ich habe die Frau schon ein paar Mal gesehen. Sie arbeitet für einen der lokalen Bauern als Magd. Der Bauer ist nicht gerade als guter Arbeitgeber bekannt und daher denke ich, dass ihr Lohn erbärmlich und die Arbeit schwer ist.
Sie kommt meines Wissens aus einem Land, in dem Bürgerkrieg herrscht, weswegen sie sich nach Frankreich durchgeschlagen hat. In der Schule sind ein paar Geschichten rumgegangen, was sie so alles erlebt haben soll. Aber französisch spricht sie kaum und englisch schon gar nicht. Vom Alter her würde ich sie als nur ein wenig älter einschätzen als ich es bin, aber sicher bin ich mir nicht. Jetzt sieht sie auf jeden Fall aus, wie ein verängstigtes Kind.
Wut quillt in mir auf. Verdammte Mistkerle, Männer die hilflose Mädchen nach Gutdünken behandeln, sollten selbst mal erleben, wie sich so etwas anfühlt. Ich schmecke Galle auf meiner Zunge. Das soll nicht sein, das darf nicht sein.
Bevor ich noch weiß, was ich eigentlich denken soll, bewegen sich meine Beine. Chloé ruft etwas, aber ich beachte sie nicht. Ich sehe nur diese Frau und die Männer, die ihr entgegenpfeifen. Mit geballten Fäusten gehe ich auf die Frau zu. Diese Typen sollen mich kennenlernen. Dies ist ein freies Land und niemand sollte daran gehindert werden, sich frei zu bewegen, niemand, egal, welche Hautfarbe er hat. Die Frau bemerkt mich erst, als ich schon fast vor ihr stehe und zuckt regelrecht zusammen. Ich ergreife ihre Hände und flüstere, damit mich die Mistkerle nicht hören:
«Komm, du brauchst keine Angst zu haben.»
Ich weiß nicht, ob sie mich verstanden hat, vielleicht ist sie auch nur zu verängstigt, um Widerstand zu leisten, aber als ich sie hinter mit her ziehe, folgt sie mir. Ich gehe direkt auf Mathéo zu, die anderen kenne ich nicht, aber bei Mathéo weiß ich, dass er im Grunde ein Feigling ist. Mathéo hat aufgehört zu pfeifen und schaut mir erstaunt entgegen. Er hat wohl nicht erwartet, dass irgendjemand der Frau zur Hilfe kommt. Ich sehe Unsicherheit in seinen Augen, er kann sich vermutlich daran erinnern, dass ich mich nicht so einfach herumschubsen lasse.
Was mache ich hier eigentlich?
Ein unangenehmes Gefühl steigt in mir auf, so langsam setzt mein Denken wieder ein. Was wenn Mathéo sich besinnt? Er ist allemal stärker als ich, zusätzlich trainiert durch die harte Arbeit auf dem Bauernhof. Er hat eine bullige Gestalt, man kann sehen, wieviel Kraft er hat. Es ist diese Art von roher Kraft, die mich von Beginn an abgestoßen hat. Wenn er uns einfach angreifen würde, hätte ich keine Chance.
Ich wäre kein echter Schutz für die Frau.
Egal, jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ich starre Mathéo in die Augen und versuche Entschlossenheit aus mir heraus zu holen. Als wir uns nähern, bewegt er sich nicht, vermutlich versucht er mit seiner einzigen Gehirnzelle immer noch, zu begreifen, was ich tue. Während ich knapp an ihm vorbeigehe, halte ich mich zwischen ihm und der Afrikanerin. Es scheint zu funktionieren. Mathéo lässt mich passieren. Rasch gehe ich ein paar Schritte, gebe der Frau einen Schubs, so dass sie weiterläuft, und wende mich dann Mathéo zu, um ihn im Auge zu behalten. Er scheint erst jetzt zu verstehen, was ich getan habe. Sein Gesicht verzerrt sich vor Wut.
«Was soll das, du amerikanische Hure?» zischt er mir entgegen.
Als ich höre, dass die Frau sich mit schnellen Schritten entfernt, wird mir leichter ums Herz. Nun kann ich im Notfall die Flucht ergreifen, ich bin mit Sicherheit gelenkiger als dieser Knecht.
«Dies ist ein freies Land, Monsieur Dubois. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, schon vergessen? Und sobald mein Antrag auf Einbürgerung genehmigt ist, bin ich Französin, aber meine Stimme habt ihr dann mit Sicherheit nicht.»
Einen Moment scheint er darüber nachzudenken, ob er jetzt mich herumschubsen soll, aber offensichtlich geht sein Mut doch so weit nicht.
«Das wirst du büßen», knurrt er und wendet sich wieder seinem Stand und seinen Kumpels zu.
Puh, mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich gehe zurück zu Chloé und Inès, die von ihren Plätzen aufgesprungen sind. Chloé sieht mich mit aufgerissenen Augen an.
«Bist du verrückt, dich mit diesen Kerlen anzulegen, nur wegen einer Afrikanerin?»
Wieder sprudelt Hitze in mir hoch. Jetzt auch noch Chloé, diese gedankenlose Pute.
«Was heißt denn, nur wegen einer Afrikanerin? Meinst du etwa, nur weil sie schwarz ist, hätte sie hier nicht die gleichen Rechte?»
Chloé holt schon Luft, um mir eine Retourkutsche zu erteilen, da springt Inès dazwischen.
«Chloé, was Trish gemacht hat, war sehr mutig und richtig. Trish, wir haben doch nur Angst um dich, diese Typen von der FN können ziemlich brutal sein.»
Ich atme tief ein, schaffe es aber gerade noch, mich zu besinnen. Es hat keinen Zweck, meinen Ärger über diese Kerle an Chloé auszulassen. Sie ist ja nicht fremdenfeindlich, nur manchmal ein wenig gedankenlos. Meine Wut lässt so schnell nach, als hätte jemand die Luft aus mir herausgelassen.
«Ist ja ok, ich weiß. Aber diesen Mathéo kenne ich doch von früher. Der ist ein Schisser.»
Chloé schlägt die Augen nieder.
«Entschuldige Trish. Du hast ja Recht. Das war sehr mutig.»
Wir setzen uns wieder, aber irgendwie hat uns die Konfrontation mit der FN die Laune verdorben. Es kommt einfach kein Gespräch mehr zustande, jede von uns hängt ihren Gedanken nach. Was wäre wohl passiert, wenn Mathéo sich nicht hätte ins Bockshorn jagen lassen? Mir kommen verschiedene Zeitungsberichte in den Sinn, die von Prügeleien zwischen der FN und ihren Gegner berichtet haben. Ich werde in meinen Grübeleien durch das Klingeln meines Smartphones unterbrochen. Der Nummer nach ist Großvater dran.
«Hallo Großvater, was gibt’s?»
«Hallo Trish, was machst du aktuell?»
«Ich sitze hier noch mit Chloé und Inès im Café, warum?»
«Wir bekommen Besuch. Ein Weinhändler hat sich angekündigt. Er kommt in etwa einer halben Stunde vorbei. Es wäre schön wenn du dabei sein könntest.»
«Klar, das kann ich noch schaffen. Bis gleich.»
Ich lege auf, stecke mein Smartphone weg und sage zu meinen Freundinnen,
«Ich muss nach Hause, wir bekommen geschäftlichen Besuch. Chloé, bezahlst du für mich?» und halte ihr einen fünf Euro Schein hin.
Chloé nimmt den Schein und meint, «Klar, ich gebe dir das Wechselgeld morgen zurück.»
Ich schnappe mir mein Fahrrad, winke Chloé und Inès zu und mache mich auf den Weg. Aus den Augenwinkeln bemerke ich dabei, wie mir Mathéo finster hinterherstarrt.