Читать книгу Blutgefährtin 1 - Thomas M Hoffmann - Страница 5

2 Eine Begegnung

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Als ich zu Hause ankomme, sitzt Großvater bereits im Wohnzimmer, aber unser Besuch ist noch nicht da. Ich gebe Großvater einen Begrüßungskuss.

«Ich ziehe mich nur kurz um und komme gleich.»

Großvater lächelt mich an, nickt und wendet sich wieder seiner Zeitung zu. Schnell laufe ich nach oben, entledige mich meiner Jeans und meines T-Shirts, um mich zu waschen. Nachdem ich mich ein wenig frisch gemacht habe, stelle ich mich vor den Kleiderschrank und überlege, was ich anziehen soll. Nachdenklich betrachte ich mich in dem Spiegel, der in der Tür des Schrankes aufgehängt ist. Eigentlich gefalle ich mir ganz gut. Ich bin nicht so dünn, wie Inès, sondern habe frauliche Kurven und lange Beine. Als ich vor ein paar Jahren aufhörte, wie ein Mädchen auszusehen, war ich heilfroh. Ich will eine Frau sein, kein Mädchen ohne Hüfte.

Na ja, meine Oberweite ist etwas zu groß und ich setze sehr leicht Fettpölsterchen an, wenn ich meiner Naschlust zu oft nachgebe. Aber bisher konnte ich mich immer noch zügeln, so dass ich wegen meiner Beine schlank wirke. Nur mit meinem Gesicht bin ich nicht wirklich zufrieden. Eigentlich habe ich viel von meiner Mutter, die in ihrer Jugend eine Schönheit mit langen, platinblonden Haaren und sportlicher Figur war. Meine Haare sind nicht ganz so hell, und leicht lockig, das gefällt mir besser, als das, was ich auf dem Foto meiner Mutter gesehen habe. Aber ich fürchte, ich habe auch die großporige Haut geerbt, die sie später aufgedunsen hat aussehen lassen, als sie nicht mehr auf ihr Äußeres geachtet hat.

Was soll ich also anziehen bei dem Besuch eines unbekannten Weinhändlers? Bestimmt ist er alt, dick und hat eine rote Nase, dann kann ich in jedem Outfit glänzen. Aber wenn nicht? Nun, zu lässig sollte ich mich nicht anziehen, schließlich ist das etwas Geschäftliches. Ich war noch nicht oft in so einer Situation, also besitze ich keinen Business Anzug. Aber ein Kostüm oder Kleid ist mir jetzt zu dumm.

Ich überlege noch, als ich unten die Klingel höre, offensichtlich ist unser Besuch eingetroffen. Jetzt muss ich mich aber beeilen. Nach kurzem Zögern entscheide ich mich für eine Hose mit passender Bluse. Ob ich etwas Make-up oder Lippenstift auftragen soll? Nein, lieber nicht, wenn ich anfange, jetzt an mir herum zu malen, ist der Besuch weg, bevor ich fertig bin. Also muss eine Gesichtscreme reichen.

Sobald ich fertig bin, eile ich die Treppe hinunter und wende mich dem Wohnzimmer zu, aus dem Stimmen zu hören sind. Nachdem ich den Raum betreten habe, schaue ich neugierig nach unserem Besuch. In einem der Sessel, meinem Großvater gegenüber, sitzt ein schlanker Mann, der sich nach mir umsieht. Unsere Blicke treffen sich.

Heilige Mutter Gottes, der Adonis!

Ein Kribbeln rieselt meine Wirbelsäule entlang, mein Atem stockt, meine Brust wird eng, meine Augen fühlen sich so an, als würden sie jeden Moment aus dem Kopf fallen. Mein Gott, sieht der toll aus. Es ist der Mann, den ich gestern nach der Schule beobachtet habe. Seine Augen leuchten in einem intensiven grün, seine Gesichtszüge sind ebenmäßig, wie bei einer antiken, griechischen Statue. Die kleine Nase war mir ja schon gestern aufgefallen. Aber der Mund sieht so sinnlich aus, dass ich am liebsten gleich hingegangen wäre, um mit meinen eigenen Lippen auszuprobieren, ob er sich auch so anfühlt.

Mit einer fließenden Bewegung, die das Raubtierhafte seines Typs noch verstärkt, steht der Mann auf. Unwillkürlich lasse ich meinen Blick über seine Brust und seinen Bauch weiter nach unten gleiten. Er ist jetzt etwas formaler gekleidet als gestern, eine elegante Stoffhose mit einem roten Hemd, aber keine Krawatte. Beinahe verliere ich mich in der Betrachtung seines knackigen Hinterns, gerade noch rechtzeitig reiße ich mich zusammen und konzentriere mich wieder auf sein Gesicht. Aber so richtig hilft das auch nicht, diese männliche Ausstrahlung lässt mich schwindelig werden. Eben konnte ich kaum atmen, jetzt geht mein Atem schneller und mein Herz rast geradezu.

Ich stehe da wie gelähmt. Jetzt müsste ich etwas sagen, irgendetwas, eine Begrüßung, ja ich müsste ihn begrüßen. Oh Gott, starre ich ihn etwa an? Ich glaube, ich starre ihn mit einem so bewundernden Blick an, dass der mich für völlig meschugge halten muss. Mein Mund öffnet sich, aber ich bekomme keinen Ton heraus. Mit meiner Zunge lecke ich über meine Lippen. Moment. Habe ich mir etwa gerade die Lippen geleckt, als würde ich diesen Mann als Dessert vernaschen wollen? Oh verdammt. Was ist denn bloß los mit mir?


Großvater rettet mich, indem er ebenfalls aufsteht.

«Darf ich vorstellen, Monsieur Polignac, meine Enkelin Trish. Trish, das ist Pierre Polignac. Er ist als Weinhändler kürzlich nach Lorgues gezogen.»

Adonis kommt geschmeidig auf mich zu, nimmt meine erstarrte Hand und führt sie zu seinen Lippen.

«Ich bin außerordentlich erfreut, ihre Bekanntschaft zu machen, Mademoiselle Strong.»

Seine Lippen sind angenehm kühl, wobei dieser altertümliche Handkuss einen Blitz durch meinen Körper jagt. Seine Stimme ist sanft und beruhigend und hat einen sehr angenehmen Klang, irgendwie männlich, aber nicht aggressiv, sondern selbstbewusst. So als wüsste er ganz genau, was er will. Gebannt starre ich auf seine Hand, die die meine immer noch hält. Ob ich einmal über diese glatte, hellè Haut streicheln soll, die aussieht, als wäre sie aus Marmor, aus lebendigem, weißem Marmor?

Mist, jetzt fange ich schon wieder an, mich in irgendwelchen höchst peinlichen Phantasien zu verlieren. Ich muss mich zusammenreißen, aber schnell. Wenn Großvater etwas merkt, werde ich für die nächsten Jahre mit roten Ohren durch die Gegend laufen. Und Adonis wird denken, dass ich völlig abgedreht bin. Was soll ich nur machen? Seufzend in Ohnmacht zu fallen, wäre eine naheliegende Option, wenn wir ein anderes Jahrhundert hätten. Leider befinden wir uns im 21. Jahrhundert und da gilt es, cool zu bleiben.

Aber wie macht man das?

«Die Freude ist ganz meinerseits, Monsieur Polignac», sagt irgendeine beherrschte Stimme.

Gott sei Dank, jemand hat mich gerettet. Aber wer? Die Stimme klang genauso wie meine. Irgendwie muss ich es geschafft haben, etwas Vernünftiges zu sagen. Aber dieser ruhige Tonfall ist eine glatte Lüge, in meinem Inneren herrscht Chaos, absolutes Chaos. Es ist als würde ein Sturm der Gefühle durch mich hindurch toben. Mein Herzschlag rast, in meinem Magen hat sich ein Knoten festgesetzt und ich spüre eine Erregung, wie ich sie noch nie gespürt habe. Selbst bei den heißesten Liebesromanen nicht. Langsam habe ich das sichere Gefühl, als würde mich dieser Mann ziemlich beeindrucken.

Adonis führt mich zu dem Sessel neben seinem und wir setzen uns. Gerade rechtzeitig, denn ich glaube, meine Knie hätten nicht mehr lang gehalten. Ich war kurz davor zusammenzubrechen. Mensch, du bist doch keine fünfzehn mehr, Trish. Du wirst doch nicht gleich zusammenbrechen, nur weil du neben einem schönen Mann sitzt. Ruhig Trish, ruhig Trish, ruhig Trish. Erst nachdem ich mir das ein paar Mal im stärksten Befehlston gesagt habe, fängt mein Herzschlag an, sich zu beruhigen. Ich muss unbedingt fähig werde, wieder wie ein Mensch zu agieren und nicht wie eine hysterische Ziege.

«Wir unterhielten uns eben über die Gründe, warum Monsieur Polignac sich in Lorgues einen neuen Standort aufbaut, Trish», sagt mein Großvater, «möchtest du ein Glas Wein?»

«Ja, gerne Großvater», vielleicht schaffe ich es dann, mich etwas zu entspannen.


Monsieur Polignac nimmt den Faden der Unterhaltung elegant auf, während Großvater mir von unserem prämierten Qualitätswein einschenkt.

«Ich habe gerade erzählt, dass ich einige neue Ideen im Weinhandel umsetzen möchte und dazu gerne die Unterstützung der Erzeuger hoher Weinqualität gewinnen möchte. Diese Gegend in der Provence erscheint mir geradezu ideal, um dies zu versuchen.»

Langsam gewinne ich meine Stimme und Beherrschung wieder. Irgendwo in meinem Hinterkopf verspüre ich zwar immer noch den Wunsch, diese wunderbare Haut zu streicheln, aber ich ignoriere mich einfach. Die Trish da hinten kann gar nicht ich sein. Ich weiß, was sich gehört und einen wildfremden Mann zu streicheln gehört sich nicht. Definitiv nicht.

«Ich hörte, sie haben das Chateau de Marronniers gekauft», sage ich.

Ich will mehr über diesen beeindruckenden Mann erfahren, eigentlich will ich alles erfahren. Wie alt er ist, ob er eine Freundin hat, ob er mich nett findet, ob – nein, daran sollte ich jetzt nicht denken. Adonis lächelt mich an, ein Lächeln, das mein Herz schon wieder zum rasen bringt. Himmel, ruhig bleiben, Trish.

«Sie sind gut informiert, Mademoiselle Strong. In der Tat habe ich dieses Anwesen erworben und möchte es zu meiner Zentrale ausbauen.»

Großvater reicht mir mein Glas und ich benutze die Gelegenheit, um mich von meinen höchst unangebrachten Ideen abzubringen. Das ist ein geschäftliches Treffen. Außerdem sitzt Großvater neben mir, was soll er denn von mir denken? Ich nehme das Glas entgegen, proste Adonis zu und nehme einen Schluck. Der Geschmack des Weines füllt meinen Mund, mit voller Absicht konzentriere ich mich auf das Bouquet. Die Normalität dieser Sinneseindrücke beruhigt mich. Adonis macht es mir nach und trinkt ebenfalls einen Schluck. Ich muss unbedingt anfangen, von ihm als Monsieur Polignac zu denken, sonst verplappere ich mich noch. Das wäre eine Katastrophe.

Wo waren wir? Ach ja, das Chateau, das er gekauft hat.

«Das muss ja eine Stange Geld gekostet haben.»

Monsieur Polignac lacht.

«Ja, ich hatte ein paar kleine Rücklagen, die ich dafür verwenden konnte.»

Kleine Rücklagen, soso. Das Anwesen ist sicherlich mehrere Millionen Euro wert.

«Polignac ist alter französischer Adel, nicht wahr?»

«Alter verarmter Adel, wie ich betonen möchte. Aber woher wissen sie das? Die meisten Franzosen sind sich dessen nicht mehr bewusst.»

«Unser Geschichtslehrer hat ziemlich auf den typischen Adelsnamen herumgeritten, als wir die Revolution durchgenommen haben.»

«Sehr gut. Einer meiner Vorfahren stammt sogar aus der Gegend hier, aber die meisten Aufzeichnungen sind im Verlauf der Jahre verloren gegangen. Doch wie kommen Amerikaner wie sie dazu, hier in der Provence Wein anzubauen?»


Ich bedeute Großvater, diesen Part zu übernehmen. Nicht dass ich die Geschichte nicht auch erzählen könnte, aber ich fühle mich besser, Monsieur Polignac im Stillen zu bewundern. Ich muss nur aufpassen, nicht wieder in absurde Träumereien zu verfallen. Ich hätte wirklich nie gedacht, dass mich ein Mann dermaßen aus der Bahn werfen könnte.

«Wir haben dieses Weingut vor ein paar Jahren geerbt», erzählt Großvater, «wir wussten gar nicht, dass wir hier Verwandte hatten. Aber dann kam die plötzliche Nachricht, dass der Vorbesitzer verstorben und wir die nächsten Verwandten sind. Ich war eigentlich in der Bankbranche tätig, habe die Gelegenheit dann aber genutzt, um zusammen mit meiner Frau und Trish hier ein neues Leben aufzubauen.»

Monsieur Polignac hebt sein Glas.

«Und sehr erfolgreich, wie ich denke. Es ist gut, wenn diese alteingesessenen Regionen immer mal wieder jemanden abbekommen, der neuen Schwung in den Weinanbau bringt.»

Großvater hebt die Hände.

«Sie schmeicheln mir, Monsieur Polignac. Wir stehen noch ziemlich am Anfang.»

«Ein guter Anfang.»

«Aber sie sind wohl auch einer von denen, die neuen Schwung in die Gegend hinein bringen wollen. Ich vermute, dass das etwas mit ihrem Besuch zu tun hat.»

Wieder lächelt Monsieur Polignac, Junge hat der Charme. Ob Großvater das auch merkt?

«Das ist tatsächlich so. Ich möchte allen Weinbauern der Gegend einen Handelsvertrag anbieten, der ihnen fünf Prozent mehr Einkünfte garantiert, als sie über ihre bisherigen Händler erzielen können.»

Großvater zieht die Augenbrauen in die Höhe. Auch ich merke auf, wie will er das denn erreichen?

«Sie wissen doch sicher, dass der Markt mit Wein ziemlich gesättigt ist. Inzwischen tummeln sich ja auch die Amerikaner, Südafrikaner und Australier mit großen Mengen in Europa, was die Margen auch gerade der französischen Produktion ziemlich unter Druck gesetzt hat. Wie wollen sie diese Garantie erfüllen?»

«Indem ich die Kundenbasis vergrößere und Direktmarketing mache. Statt über die normalen Vertriebswege mit bis zu fünf Zwischenhändlern, möchte ich über das Internet gehen. Dadurch kann man dann auch Kunden außerhalb Europas erreichen.»


Wieder zieht Großvater die Augenbrauen hoch und blickt zu mir. Er ist diesem Medium gegenüber recht skeptisch eingestellt, obwohl er sich aus seiner Bankerzeit ganz gut damit auskennt. Ich bin da eigentlich aufgeschlossen, aber diese Idee des Monsieur Polignac halte ich für etwas zu wenig durchdacht.

«Die Leute bevorzugen aber die klassischen Vertriebswege», schalte ich mich ein, «normalerweise möchte man eine Flasche Wein in der Hand halten, seine Farbe und das Etikett kontrollieren, bevor man sich für einen Kauf entscheidet.»

«Durchaus richtig, Mademoiselle Strong. Aber ich denke, dass das geändert werden kann, wenn man über ein Internetportal besondere Vorteile anbietet. Meine Ideen reichen von dem kostenlosen Versand von Probefläschchen über eine großzügige Rückgabe-Regelung ungeöffneter Flaschen, bis hin zu einem Bewertungsforum, in dem Weine beurteilt werden können. Der entscheidende Punkt ist es, sich einen guten Ruf zu erarbeiten.»

Er erzählt in einer Art und Weise von seiner Idee, dass ich merke, dass er vollkommen überzeugt davon ist, dass es klappen wird. Seine grünen Augen leuchten regelrecht und er unterstreicht seine Ausführungen mit knappen Handbewegungen. Dabei strahlt er einen Optimismus aus, der mich beeindruckt. Na ja, noch mehr beeindruckt. Mir läuft schon wieder ein Schauder über den Rücken, weil Monsieur Polignac so charmant lächelt. Ich brauche einen Moment, um mich von diesen grünen Augen loszureißen.

«Und in welcher Zeit hoffen sie, diesen guten Ruf zu erreichen?»

«Nun, ein paar Jahre wird es schon dauern. Aber ich möchte die Risiken nicht auf meine Lieferanten abwälzen. Sie erhalten garantierte Abnahmen zu garantiertem Preis, ich kümmere mich um den Rest.»

Mit der Schulter zuckend schaue ich zu Großvater. Unter solchen Bedingungen kann es uns sogar egal sein, wenn er all den Wein selbst trinkt, solange ihm das Geld nicht ausgeht. Großvater übernimmt die Unterhaltung wieder und fragt nach Details der Geschäftsidee. Das gibt mir Gelegenheit, die Art und Weise zu bewundern, wie Monsieur Polignac die Unterhaltung führt. Sein Gesichtsausdruck ist freundlich, seine Mimik lebhaft. Ich muss schon wieder ein Seufzen unterdrücken.

Irgendwie kenne ich mich selber nicht mehr. Klar habe ich mal für den einen oder anderen Popstar geschwärmt, aber eigentlich dachte ich, ich wäre aus dem Alter raus. Das hier ist ein realer Mann, jemand, mit dem man persönlich reden kann. Vielleicht ist er ja gar nicht so nett, wie er aussieht.

Ich versuche, mir Monsieur Polignac als reißendes Tier vorzustellen, das Furcht verbreitet, Frauen zum Kreischen bringt und in der Presse mit riesigen Lettern als Gefahr dargestellt wird. Beinahe muss ich kichern. Hastig unterdrücke ich diesen Drang. So etwas geht ja gar nicht, Trish die knallharte Geschäftsfrau kichert wie eine Zwölfjährige. Aber sich Monsieur Polignac als Tier vorzustellen, ist gar nicht so schwer. Wenn ich ihn mir so ansehe, dann kommt mir ein Bild in den Sinn, eine sanfte Katze. Ein schnurrender Kater, der sich an einen schmiegt, einem die Beine streichelt, der ein seidiges Fell hat und den man streicheln und an seinen Körper pressen … Trish!!

Verdammt, Monsieur Polignac schaut mich so durchdringend an. Ich hoffe sehnlichst, er kann keine Gedanken lesen.


Großvaters Fragen scheint er jedenfalls alle beantwortet zu haben, auch wenn ich das nicht mitbekommen habe, weil ich irgendwie, na ja, irgendwie mit etwas anderem beschäftigt war. Ich darf mich wirklich nicht so ablenken lassen. Monsieur Polignac schaut wieder auf Großvater und zieht ein Papier aus seiner Tasche, das verdächtig nach einem Vertrag aussieht.

«Ich habe hier einen Vertrag vorbereitet, den ich gerne ab Herbst in Kraft treten lassen würde, wenn die neue Produktion auf den Markt kommt. Ich würde mich freuen, wenn wir miteinander ins Geschäft kommen würden.»

Großvater wirft einen kurzen Blick darauf und schiebt mir das Papier zu. Sein Französisch ist ja ganz ok, aber für die Feinheiten eines Vertrages reicht das nicht unbedingt aus. Daher habe ich solche Dinge übernommen, aber wir sind klug genug, bei wichtigen Verträgen sowieso unseren Hausjuristen mit einzubeziehen.

Während Großvater erklärt, dass ein Großteil unserer Produktion des kommenden Jahres bereits vertraglich gebunden ist, schaue ich kurz über die Paragraphen. Sieht mehr oder weniger so aus, wie andere Verträge dieser Art. Es gibt nur einen besonderen Absatz mit den Abnahmegarantien, den ich versuche, etwas besser zu verstehen. Ich kann keine nachteiligen Formulierungen entdecken. Aber nur weil ich den Kerl heiß finde, heißt das noch lange nicht, dass ich einen Vertrag von ihm unterzeichnen möchte. Schließlich bin ich eine knallharte Geschäftsfrau und so. Also schiebe ich den Vertrag zurück zu Großvater

«Sieht in Ordnung aus, aber wir müssen das natürlich prüfen lassen.»

Monsieur Polignac lächelt mir wieder zu.

«Selbstverständlich, ich lasse ihnen gerne alle Zeit, die sie brauchen. Bitte sagen sie mir Bescheid, wenn sie an einem Geschäft interessiert sind.»


Das ist wohl das Zeichen, dass der Besuch beendet ist. Großvater steht auf und bedankt sich bei Monsieur Polignac. Die beiden tauschen noch ein paar Höflichkeiten aus, danach begleite ich diesen beeindruckenden Mann zur Tür. Ich habe mich etwas gefangen, immerhin schaffe ich den Weg, ohne in Ohnmacht zu fallen. Ein gewaltiger Fortschritt, wie ich finde. Bevor er geht, nimmt er nochmals meine Hand und küsst sie geradezu sanft. Plötzlich ist mir schwindelig, die Option mit der Ohnmacht liegt wieder im Bereich des Möglichen.

«Es war wirklich eine Freude, sie getroffen zu haben, Mademoiselle Strong. Ich freue mich sehr auf ein Wiedersehen.»

Mann oh Mann, dieser elektrische Schlag, der durch meinen Körper geht, bringt bestimmt meine Haare zum Leuchten. Schon wieder nach Luft ringend, starre ich starre in seine grünen Augen und weiß nicht, was ich sagen soll. Mein Blick gleitet zu seinen Lippen, der unbändige Drang, sie zu küssen, überfällt mich. Ich habe mich schon beinahe in Bewegung gesetzt, als ich mich gerade noch abfangen kann. Schnell schlage ich meine Augen nieder, hoffentlich hat er nichts gemerkt.

«Vielleicht wollen sie ja zum Frühlingsfest morgen kommen. Das ist hier im Dorf eine große Tradition.»

Krächze ich? Oh, Gott, bestimmt habe ich gekrächzt. Da begegnet man mal einem richtigen Mann und was macht die dumme Trish? Sie krächzt.

«Wenn sie dort sein werden, wird nichts in der Welt mich davon abhalten können, zu kommen», sagt Monsieur Polignac, wendet sich um und geht geschmeidig zu seinem Auto.

Ich nehme mir ein paar Minuten, um mich zu sammeln und diesem Mann hinterher zu schauen. Na, das kann ja heiter werden. Wenn ich mich auf dem Fest auch so zum Affen mache, sobald ich unseren Monsieur dort sehe, werde ich die nächsten Jahrzehnte von Chloé und Inès verspottet werden. Mein Gott, was ist bloß los mit mir? Aber eines ist ganz sicher, ich will diesen Mann wiedersehen. Ich möchte herausbekommen, warum er mich so dermaßen aus der Fassung bringt.

Langsam gehe ich zurück ins Wohnzimmer, wo Großvater nachdenklich an seinem Wein nippt. Die Präsenz von Monsieur Polignac hängt immer noch in der Luft.

«Ich kenne solche Menschen von früher, Trish. Sie sind jung, dynamisch, haben immer ein Lächeln auf den Lippen, sind freundlich und hilfsbereit. Aber wenn du das Gefühl hast, du könntest ihnen bedingungslos vertrauen, dann sollten alle Alarmglocken klingeln. Dann ist etwas faul. Die Frage ist also, was ist faul an diesem Monsieur Polignac?»

Großvater hat ja manchmal eine so optimistische Art.

«Wenn ich es herausfinde, dann sage ich es dir, Großvater», meine ich, schenke mir noch etwas Wein ein und proste Großvater zu.


Ich stehe vor einem Mann, der mir vage bekannt vorkommt, kenne ich ihn? Aber irgendwie ist das egal, dieser Mann sieht einfach nur toll aus. Er sieht mich an, in seinem Blick liegt etwas, ich bin mir nicht sicher, was es ist. Er hat eine Präsenz, die mir den Atem verschlägt. Ich sehe volle Lippen und als ich sie mit meinen eigenen Lippen berühre, sind sie genauso weich, wie ich mir das vorgestellt habe. Der Kuss wird immer inniger und heißer. Feuer fließt durch meinen Körper. Ich liege in den Armen des Mannes, er hat nichts an, aber eine weiße, ebenmäßige Haut, die mich berührt und sich wunderbar anfühlt. Er umfängt mich, streichelt mich. Plötzlich wird mir klar, dass ich nackt bin. Die Hände des Mannes streicheln meinen Rücken entlang. Etwas durchströmt mich, das mich verkrampfen lässt. Mein Atem stockt als sich die Hände auf meine Brüste legen, voll Verlangen biege ich meinen Rücken durch.

In diesem Augenblick wache ich auf. Verwirrt schaue ich mich nach dem Mann um, aber das Bild von Monsieur Polignac verschwindet schnell. Mein Bett ist so zerwühlt, als hätte ich die Bewegungen in meinem Traum sehr real durchgeführt. Seufzend sinke ich zurück und versuche, das Bild festzuhalten. Aber vergeblich, ich bin wach geworden, bevor es richtig interessant werden konnte. Davon will ich Chloé und Inès aber lieber nichts erzählen, schließlich sind das meine Träume und da kann ich machen, was ich will.

Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass der Tag schon angebrochen ist. Es ist Wochenende und zudem auch noch der Tag vor dem Frühlingsfest. Das Frühlingsfest ist eigentlich noch schöner als das Weinfest ein paar Monate später, denn auf dem Weinfest sind wir als Produzenten gezwungen, einen Stand aufzubauen und unseren Wein anzubieten. Das ist für die anderen eine angenehme Abwechslung, aber für uns ist es eigentlich hauptsächlich Arbeit.

Natürlich ist das Frühlingsfest auch nicht ganz ohne Bezug zu unserem Weingut, es ist praktisch Pflicht, sich dort sehen zu lassen und sich mit den anderen Leuten aus der Gegend auszutauschen, seien es nun Bauern oder Weinhändler oder eben Winzer. Aber dieser offizielle Teil geht nur bis etwa zehn Uhr abends und danach ist Spiel und Tanz angesagt, was natürlich nichts für die Honoratioren ist. Dann treffen sich die jungen Leute und ich liebe diesen Teil.

Vor drei Jahren habe ich einen Tanzkurs besucht, wo ich meine Begeisterung entdeckt habe, mich zu Musik zu bewegen. Wenn da bloß nicht die Jungs wären. Mein Tanzpartner auf dem Abschlussball war so schrecklich ungeschickt, dass ich ihm danach die kalte Schulter gezeigt habe. Seitdem bin ich auf der Suche nach jemanden, der sich halbwegs gut bewegen kann, ich bin aber noch nicht fündig geworden. Nun, vielleicht ergibt sich ja dieses Jahr etwas, aber viel Hoffnung habe ich nicht. Die guten Tänzer, die ich kenne, sind mittlerweile in festen Händen.

Doch am Vormittag steht erst einmal Morelle auf dem Programm. Ich komme so selten dazu auszureiten, dass ich mich richtig auf die paar Gelegenheiten freue. Deshalb stehe ich schnell auf und gehe ins Bad, um danach zu schauen, ob Catherine das Frühstück schon fertig hat. Ich bin recht früh dran, also helfe ich ihr einfach, alles zurecht zu machen und den Tisch zu decken, bevor Großvater herunterkommt. Nach dem Frühstück plaudere ich noch ein wenig mit ihm, räume dann mein Zimmer auf und mache mich anschließend auf den Weg zu unseren Nachbarn.

Zuerst mache ich die Box von Morelle sauber, miste aus und striegle sie. Morelle ist ein sehr ruhiges Tier mit viel Geduld, aber man merkt ihr an, dass sie die Zuwendung von mir sichtlich genießt. Wie es nicht anders sein kann, ist sie auch eine Naschkatze. Sie weiß genau, dass ich immer eine Leckerei für sie dabei habe und auch diesmal enttäusche ich sie nicht. Während ich mich um sie kümmere kommt die Nachbarin in den Stall und wir geraten ins Plaudern. Sie betreibt nicht nur die Pferdezucht und bietet Stellplätze für Pferde an, sondern ist auch noch als Pferdepädagogin ausgebildet und betreut ein paar behinderte Kinder, die durch den Umgang mit den Tieren in ihrer Entwicklung unterstützt werden sollen. Auf diese Weise ist sie ununterbrochen beschäftigt, was aber ganz gut zu ihrem rastlosen Naturell passt.

Weil eine Unterhaltung mit unserer Nachbarin immer sehr spannend ist, ist es etwas später als ich geplant hatte, bis ich dazu komme, Morelle zu satteln und ein wenig auszureiten. Es gab mal eine Zeit, in der ich überlegt hatte, ob ich Reiten als Sport betreiben soll, aber das habe ich schnell aufgegeben. Dressur ist mir zu langweilig und für Rennen oder Springreiten ist mir Morelle zu schade. Um ein Pferd für so etwas auszubilden, fehlt mir das Temperament und meine Statur ist auch nicht geeignet.

Also ist reiten nur zu einem geliebten Hobby geworden.


Als ich endlich im Sattel sitze, lasse ich Morelle zuerst ein wenig den Weg entlangtraben, der sich am Fuße der Weinberge zwischen den Lavendelfeldern und durch einige Waldstücke hindurchschlängelt. Auf den offenen Abschnitten atme ich den Duft der Felder tief ein. Das Wetter lässt bereits die Hitze des kommenden Sommers erahnen, aber noch ist es angenehm warm, ideal für einen Ausritt und auch ideal für unser Frühlingsfest am Abend.

Ich verfalle in eine meditative Stimmung und achte fast gar nicht mehr auf den Weg. Ich bin mit Morelle schon oft hier entlang geritten, vermutlich kennt sie die Strecke fast von allein. Daher lasse ich meine Gedanken schweifen, der Druck der Schule aus der letzten Woche fällt von mir ab, fast kommt es mir so vor, als würde ich durch die Landschaft schweben. In wenigen Wochen beginnen die Prüfungen und vorher muss ich noch meinen neunzehnten Geburtstag organisieren, also werde ich vermutlich schön viel Stress haben. Aber im Moment ist mir das egal.

Immer wieder kehren meine Gedanken zu diesem Monsieur Polignac zurück, der mich so stark beeindruckt. Ob ich mir wohl Hoffnungen machen soll? Aber was denke ich mir da nur? Ich habe gestern nicht nach seinem Alter gefragt, aber er ist bestimmt schon weit über zwanzig und wird an einem Teenager, wie ich es bin, keinerlei Interesse haben. Aber schön wäre es schon. Er ist ein richtiger Mann, das merke ich genau. Nicht so schüchtern und ungeschickt, wie so viele Jungs in meinem Alter. Er strahlt Selbstbewusstsein und Begeisterung aus und vermutlich hat er auf dem Gebiet der Liebe auch schon jede Menge Erfahrungen. Also ist er genau das, wovon ich immer geträumt habe.

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als der Weg in den Wald hineinführt. Hier muss ich Morelle zügeln, denn wenn ich so verträumt durch die Gegend trabe, kann das schnell mit einer kräftigen Beule enden. Dazu braucht nur ein Ast etwas zu tief über den sandigen Weg ragen, der für die Reiter vorgesehen ist. Nicht auszudenken, was dann Chloé und Inès heute Abend sagen würden.


Der Weg schlängelt sich zwischen den dichten Bäumen hindurch, verengt sich so stark, dass ich mit den Schultern fast die Zweige berühre, bevor er sich auf eine kleine Lichtung öffnet. Ich bin gerade dabei, auf diese Lichtung zu reiten, als von rechts eine Gestalt aus dem Dickicht springt und mir den Weg versperrt. Morelle ist genauso erschrocken, wie ich, und scheut vor der Gestalt zurück. Sie geht hoch, ich muss mich entschlossen nach vorne werfen, um nicht abgeworfen zu werden. Rasch nehme ich die Zügel ganz straff und zwinge Morelle in einen engen Kreis, wodurch ich verhindere, dass sie in Panik davonstürmt.

Ich muss ein paar Sekunden mit meinem Pferd kämpfen, bevor ich die Kontrolle wiedergewinne. Erst dann komme ich dazu, die Gestalt anzuschauen, die sich mitten auf dem Weg breitbeinig hingestellt hat. Wut quillt in mir hoch, als ich die gedrungene Gestalt von Mathéo Dubois erkenne.

«Monsieur Dubois. Sind sie lebensmüde? Wenn Morelle durchgegangen wäre, hätte ich sie glatt über den Haufen geritten.»

Mathéo grinst unbekümmert.

«Es ist ja wirklich nett, dass du so um meine Gesundheit besorgt bist, Trish. Aber ich kann schon auf mich selber aufpassen.»

Morelle schnaubt zwar noch ein wenig, scheint sich aber beruhigt zu haben. Immer noch wütend funkele ich diesen blöden Mathéo an. Ihm zu verbieten, mich zu duzen, würde vermutlich nichts bringen, aber ich weigere mich, mit diesem ekelhaften Typ vertraulich umzugehen.

«Ihre Gesundheit ist wirklich das Letzte, was mir Sorgen macht. Würden sie mir jetzt bitte aus dem Weg gehen. Sie stehen auf einem für Pferde vorgesehenen Weg.»

«Ich kann stehen, wo ich will. Versuche doch, an mir vorbeizukommen.»

Irritiert blicke ich den Kerl an, ich bin mir nicht sicher, was er will. Sein Tonfall ist irgendwie aggressiv, ob er mir irgendwie zu nahe kommen möchte? Seine Gegenwart macht mich unsicher, am liebsten würde ich wenden und wegreiten. Aber so einfach schlägt mich dieser Feigling nicht in die Flucht.

«Morelle ist sowieso schon nervös wegen ihnen. Ich würde es nicht verantworten können, wenn sie einen Tritt mit dem Huf abbekommen würden.»

Mathéo lächelt höhnisch.

«Du hast mich gestern vor meinen Kumpels lächerlich gemacht. Das werde ich dir heimzahlen.»

Jetzt läuft mir doch ein kalter Schauder meinen Rücken hinunter. Die Sache mit der Afrikanerin hatte ich schon fast wieder verdrängt. Vorsichtig packe ich die Zügel von Morelle fester, ich will bereit sein, wenn Mathéo irgendetwas vorhat.

«Du hast dich selbst lächerlich gemacht. Ihr habt ein Mädchen bedrängt, das nun wahrlich genug durchgemacht hat. Sie hat euch doch nichts getan.»

«Sie ist schwarz, das reicht.»

«Ziemlich erbärmlich, jemanden anzugreifen, nur weil er eine andere Hautfarbe hat.»


Das scheint Mathéo nicht zu gefallen. Sein Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse und er macht einen Schritt auf mich zu. Ich will Morelle gerade wenden, da geht sie hoch und tänzelt ein paar Schritte zurück. Mit aller Mühe bleibe ich im Sattel, verzweifelt an meiner Balance festhaltend. Jeden Augenblick kann mich Mathéo anfallen. Wie hat er es nur geschafft, Morelle so aufzuregen. Kaum steht sie wieder auf den Beinen, blicke ich mich hastig um. Wo ist Mathéo?

Doch offensichtlich hat der Feigling Respekt vor den Hufen meines Pferdes. Er ist ein paar Schritte zurückgewichen, eine Mischung aus Ärger und Angst ist in seinem Gesicht zu erkennen. Ich will ihn gerade wieder auffordern, endlich zu verschwinden, da fällt mir auf, dass eine zweite Gestalt die Lichtung betreten hat.

«Alles in Ordnung, Mademoiselle Strong?»

Diese Stimme treibt mir wieder ein Schaudern über den Rücken, diesmal aber einen wohligen, einen ziemlich wohligen sogar. Sanft ist die Stimme, mit einer stahlharten, männlichen Härte, beruhigend, aber gleichzeitig Respekt erheischend. Man könnte vor dieser Stimme Angst haben, aber ich habe keine Angst davor. Im Gegenteil, ich finde sie unglaublich sexy, die Stimme von Monsieur Polignac.

Bevor ich irgendetwas sagen kann, ist Mathéo herumgefahren. Seine Fäuste ballen sich, einen Augenblick glaube ich, dass er sich auf den Mann stürzen will, der so plötzlich hinter ihm aufgetaucht ist. Doch dann stößt er lediglich einen zischenden Laut aus und ehe ich mich rühren kann, rennt er wie verrückt zurück in das Dickicht. Verblüfft schaue ich hinter dem Blödmann her. Was war das denn? Was hat er bloß in Monsieur Polignac gesehen, dass er so plötzlich Speedy Gonzales spielt?

Morelle tänzelt schon wieder zurück, so dass ich keine Zeit habe, meinen Schwarm zu bewundern. Ich bin zu sehr damit beschäftigt, mein Pferd zu beruhigen. Was hat sie nur?

«Ruhig Morelle, ruhig. Bitte kommen sie nicht näher, Monsieur Polignac, Morelle hat anscheinend Angst vor ihnen.»

Tatsächlich rührt er sich nicht vom Fleck.

«Keine Angst, ich bleibe ganz ruhig stehen. Pferde mögen mich leider nicht, es muss wohl etwas mit meinem Geruch zu tun haben.»

Schließlich schaffe ich es, Morelle wieder in den Griff zu bekommen. Sie schnaubt zwar noch vor sich hin und beäugt die Gestalt am anderen Ende der Lichtung misstrauisch, aber zumindest scheint sie nicht mehr gewillt zu sein, die Flucht zu ergreifen. Erleichtert wende ich mich zu ihm, wobei mir wieder ein Stich durch den Körper fährt. Mann, es müsste verboten werden, so gut auszusehen. Wieso hat der eigentlich nicht eine ganze Traube wahnsinnig kreischender Mädchen an den Fersen? Nicht, dass ich das gut finden würde, aber verstehen würde ich das nur zu gut.

«Ja, das kenne ich. Meiner Tante geht es genauso, dabei reitet mein Cousin für sein Leben gern.»

Um sicher zu gehen, steige ich ab und packe Morelle fest an den Zügeln. Wenn sie Angst vor ihm hat, dann sollte ich besser vorsichtig sein, sonst geht sie doch noch durch. Dann wende ich mich wieder diesem Mann zu, der einige sehr merkwürdige Ideen in meinen Kopf zaubert, von denen Küssen noch die harmloseste ist.


Monsieur Polignac beobachtet mich genau, so als wüsste er, was in mir vorgeht. Hoffentlich werde ich nicht rot, ich darf nicht rot werden, auf keinen Fall.

«Wer war denn dieser komische Bursche da eben?»

«Ach, das war Mathéo Dubois, ein Widerling, der Anhänger der FN ist.»

«FN? Ist das diese rechtspopulistische Partei?»

Jetzt bin ich erstaunt. Die FN ist eigentlich beständiges Thema in der Gegend und es gibt hitzige Diskussionen zwischen den zahlreichen Befürwortern und den Gegnern.

«Ja, die sind doch ständig präsent in den Medien. In Lorgues haben sie häufig einen Stand und bei den letzten Wahlen sind sie hier auf fast 20 Prozent gekommen.»

«Na ja, ich interessiere mich nicht sehr für diese Politik. Was wollte er denn?»

Diese Politik? Ein merkwürdiger Ausdruck, was meint er damit?

«Keine Ahnung, was er genau wollte. Ich glaube er war sauer wegen des afrikanischen Mädchens gestern.»

«Afrikanisches Mädchen?»

Ich gebe ihm kurz eine Zusammenfassung der Ereignisse von gestern. Monsieur Polignac hört mir konzentriert zu, wobei er ein paar Mal den Kopf schüttelt.

«Sie haben vollkommen richtig gehandelt. Diesen Leuten muss man unbedingt Paroli bieten. Aber seien sie auf der Hut. Vielleicht hegt der Bursche tatsächlich irgendwelche finsteren Gedanken. Sie sollten ihm aus dem Weg gehen.»

«An mir soll es nicht liegen.»


Für einen Moment herrscht Schweigen zwischen uns, eigentlich wäre es jetzt der richtige Augenblick, sich zu verabschieden. Aber ich will eigentlich noch gar nicht gehen. Was für ein Zufall, dass ich ihm hier begegnet bin.

«Waren sie auf einem Spaziergang, Monsieur Polignac?»

Er wirft mir einen Blick zu, den ich aber nicht deuten kann.

«Ja, ich gehe gerne durch diese Gegend. Sie gibt einem das Gefühl der Zeitlosigkeit. So ganz anders als die Rastlosigkeit der Menschen.»

Einen Moment weiß ich nicht, was ich antworten soll. Er hört sich an wie ein alter Mann.

«Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Aber das Gefühl kenne ich, ich hatte es, als ich vor zwei Jahren meine Tante im Monument Valley besucht habe. Dort sind es aber die Jahrtausende der Unveränderlichkeit, die mich so beeindruckt haben. Hier in der Provence ändert sich doch die Natur andauernd.»

«Das schon, aber man stellt schnell fest, dass in diesem Kreislauf der Jahre eine tiefe Unveränderlichkeit steckt. Wohnt ihre Tante im Monument Valley?»

«Ja, über Teile des Jahres, den Rest der Zeit arbeitet sie in San Diego. Aber mein Cousin John-John ist ihr Stiefsohn und stammt von den Navajos ab. Weil er die Beziehung zu seinen Wurzeln nicht verlieren soll, verbringen sie so viel Zeit wie möglich im Monument Valley.»

«Sie haben so einen besonderen Tonfall, wenn sie von ihrer Tante reden. Sie scheinen sie sehr zu mögen.»

«Außer Großvater und Onkel Daniel gibt es keinen Menschen auf der Welt, der mir wichtiger wäre.»

Monsieur Polignac wirft mir einen Blick zu, in dem ich Neugierde lese. Er hat wohl gemerkt, dass hinter meiner Bemerkung eine lange Geschichte steckt. Aber ich bin nicht bereit, diese Geschichte einem Fremden zu erzählen und er fragt nicht weiter.


Jetzt ist es aber Zeit, dass ich zurückreite. Ich werfe die Zügel über Morelle, um wieder aufzusteigen.

«Vielen Dank für das Gespräch, Monsieur Polignac. Ich glaube, ich mache mich jetzt auf den Rückweg.»

«Darf ich sie begleiten?»

«Danke nein, ich komme schon zurecht. Und ich will Morelle noch ein wenig traben lassen, da würden sie doch sowieso nicht mithalten können.»

Monsieur Polignac schaut mich schief an.

«Nun gut, ich lasse sie reiten. Aber nur, wenn sie mir einen Gefallen tun.»

«Welchen denn?»

«Nennen sie mich nicht Monsieur Polignac. Das hört sich so alt an. Nennen sie mich Pierre.»

Jetzt schaue ich ihn schief an, mein Herz klopft schon wieder schneller. Ist es klug, mit diesem Mann vertraulicher umzugehen? Klug vielleicht nicht, aber es ist das, was ich mir von Herzen wünsche.

«Einverstanden, M ... Pierre. Ich heiße Trish.»

«Trish ist ein schöner Name.»

Jetzt lächelt er schon wieder, dass ich ganz verlegen werde. Ich überspiele den Schwall an Gefühlen, die mich überfallen, indem ich auf mein Pferd steige. Nachdem ich mich zurecht gesetzt habe, wende ich Morelle in die Richtung, aus der ich gekommen war und blicke noch einmal zurück zu Monsi – Pierre.

«Sehen wir uns heute Abend, Pierre?»

«Ich werde da sein. Achte auf diesen Mathéo.»

Ich nicke, lächle ihn zum Abschied an und gebe Morelle das Zeichen, sich in Bewegung zu setzen. Als sie im Schritttempo dem Weg aus dem Wald heraus folgt, fühle ich, wie sich Pierres Blick in meinen Rücken brennt. Aber ich schaue mich nicht um, Pierre soll nicht denken, ich sei einfach zu beeindrucken.

Selbst wenn es stimmt.

Blutgefährtin 1

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