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4 Annäherung

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Eigentlich hatte ich damit gerechnet, nicht einschlafen zu können, aber ob es nun die frühe Stunde ist oder der Wein, ich bin in kürzester Zeit weg. Noch nicht einmal an Träume kann ich mich erinnern. Es ist schon komisch. Als ich nur gehofft hatte, Pierre würde mich küssen, hatte ich wilde, intensive Träume. Aber jetzt, wo das, was ich geträumt habe, Wirklichkeit geworden ist, schlafe ich tief und traumlos.

Ich kann auch in Ruhe ausschlafen, denn für den Sonntag hatte ich mir mit Absicht nichts vorgenommen. Als ich aufwache, braucht es einen Moment, bis mir der ganze Abend wieder einfällt. Plötzlich spüre ich wieder seine wunderbaren, weichen Lippen auf meinen, das Feuer dieses Augenblicks durchzieht mich, unwillkürlich muss ich die Augen schließen. Oh Gott, war das ein Kuss. Eine ganz neue Erfahrung lag darin, ein Versprechen, das mich verkrampfen lässt, ein Horizont, an den ich bisher nicht zu denken wagte. Eines ist aber so etwas von klar. Ich will mehr, ich will mehr Küsse, mehr Nähe zu Pierre, mehr – mehr von diesen Gefühlen. Ich habe von dem Kuss geträumt, jetzt träume ich von mehr.

Nachdem ich ein Mal heftig durchgeatmet habe, versuche ich Bilanz zu ziehen. Auf der positiven Seite steht, dass Pierre den ganzen Abend mit mir getanzt hat. Mit mir alleine. Er hat noch nicht einmal in die Richtung von anderen Frauen geschaut. Dann hat er mit mir geflirtet und zwar heftig. Das kann man auch auf der positiven Seite verbuchen. Er hat aktiv an mir Interesse gezeigt, das ist mehr als ich erwartet hatte. Ich hatte eigentlich geglaubt, ich müsste ihm ins Gesicht springen und dabei winken, damit er auf mich aufmerksam wird.

Dann hat er mich geküsst. Äh – definitiv positiv.

Dann hat er mich nicht an Ort und Stelle vernascht. Na gut. Das werte ich mal neutral. Vielleicht sogar positiv. Einem Mädchen gleich am ersten Abend an die Wäsche zu gehen zeugt eigentlich von schlechtem Stil. Und auf der negativen Seite? Mir will irgendwie nichts einfallen. Aber ich habe bisher ja nur Pierre ins Auge gefasst. Was ist denn mit mir. Will ich das alles überhaupt? Definitiv ja. Das wäre also auch positiv.

Wieso will ich eigentlich diesem Mann so nahe kommen, dass ich nichts dagegen gehabt hätte, wenn er letzte Nacht weiter gegangen wäre als schicklich ist? Normalerweise reagiere ich nicht so, schon gar nicht, nach dem, was ich in San Diego so alles mit Männern erleben musste. Aber bei Pierre ist irgendwie alles anders. Bei ihm fühle ich Dinge, von denen ich dachte, sie würden mich eher ekeln, bei ihm wünsche ich etwas, was ich bisher für mich niemals in Betracht gezogen hätte. Was hat mich nur dermaßen verändert, was nur ist mit mir los?

Da wird es mir blitzartig klar. Ich bin verliebt.

Spontan fallen mir all die Dinge und Anzeichen ein, von denen ich gelesen und über die ich mit Chloé und Inès getratscht habe. All die Dinge, die mit Liebe und verliebt sein in Verbindung gebracht werden. Ich gehe die Liste in Gedanken durch. Jawohl, wie es scheint bin ich ein klassischer Fall. Junges Mädchen verfällt Schönling. Nur dass Schönlinge in meinen Romanen immer so schlecht weg kommen. Meist lauert hinter der schönen Fassade ein finsteres Inneres. Pierre scheint da eine Ausnahme zu sein. Er ist charmant, zuvorkommend, höflich, ein guter Tänzer und jemand, der verdammt gut küssen kann.

Innerlich gebe Ich mir einen Tritt. Wenn ich jetzt anfange, die guten Seiten von Pierre aufzuzählen, werde ich nicht vor dem Nachmittag aus dem Bett kommen. Ich bin sicher, er hat auch ein paar schlechte Seiten, aber aktuell wollen mir keine einfallen. Na wenn das nicht eine hervorragende Entschuldigung ist, ihn näher kennenlernen zu wollen.

Ich schlüpfe aus dem Bett und gehe mich waschen. Nur das Gesicht lasse ich dabei unberücksichtigt, wer weiß, wann er mich das nächste Mal küsst, vielleicht hat er ja heute schon alles vergessen. Bei diesem Gedanken spüre ich einen Eisklumpen, der sich in meinem Magen bildet. Er darf nicht alles vergessen haben, er muss es so meinen, wie es sich gestern angefühlt hat. Ich werde dafür sorgen, dass er den gestrigen Abend nicht vergisst und wenn ich ihn fesseln müsste, um ihn dann zwangsweise zu küssen. Ich weiß jetzt, was ich will und schon Großvater hat lernen müssen, dass ich auch bekomme, was ich will. Mit diesem festen Entschluss gehe ich nach unten, um zu schauen, ob ich noch etwas zum Frühstück bekommen kann.


Catherine werkelt gerade in der Küche und bereitet wohl das Mittagessen vor. Ich werfe ihr ein fröhliches «guten Morgen» zu, was mit hochgezogenen Augenbrauen quittiert wird. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass von Morgen eigentlich keine Rede mehr sein kann. Großvater sollte innerhalb der nächsten Stunde aus der Kirche kommen, dann wird es Mittagessen geben. Eigentlich war Großvater nie so der große Kirchgänger gewesen, das war immer die Leidenschaft von Großmutter. Aber seit ihrem Tod hat Großvater diese Gewohnheit angenommen und auch angefangen, sich in der Gemeinde vor Ort zu engagieren. Vielleicht hat er so das Gefühl, Großmutter näher zu sein. Ich selbst habe mich seit meiner Kommunion nicht mehr um Kirche oder so gekümmert, ich schlage da mehr auf die Seite von Tante Anna.

Da ich Hunger habe, schaue ich neugierig, was Catherine als Mittagessen zubereitet. Vielleicht gibt es ja etwas zu Naschen. Aber dann sehe ich, dass sie Crêpes Teig angerührt hat. Crêpes! Ich könnte töten für einen Crêpe. Mit einem durchaus beabsichtigten Augenaufschlag werfe ich Catherine einen mitleiderheischenden Blick zu.

«Ich weiß, dass es bald Mittagessen gibt, Cathy, aber es ist doch sicherlich noch Zeit für einen kleinen, süßen Crêpe, oder?»

Catherine betrachtet mich kopfschüttelnd.

«Es ist gestern wohl spät geworden, was? Eigentlich solltest du dir den Appetit nicht verderben. Wer so spät aufsteht, hat auch kein Anrecht auf Frühstück.»

Aber ich kenne ja meine Catherine, bittend schaue ich sie an, die ganze Intensität meines Wunsches hineinlegend. Sie hält tatsächlich einen Moment stand, fast fünf Sekunden. Ich hätte geglaubt, ihr Widerstand würde schneller brechen. Dann muss sie lachen.

«Du und deine Hundeaugen. Na gut. Ich mach dir etwas. Aber wehe, du verschmähst dann das Mittagessen.»

Catherines Crêpes sind göttlich. Ich mag sie am liebsten mit Marmelade oder Honig, reinlegen könnte ich mich in sie. Und mit dem Mittagessen braucht Catherine auch keine Sorgen zu haben. Ich esse gerne und manchmal zu viel. Immer wenn ich vor dem Spiegel meine Hüften betrachte, bereue ich die Kalorien, die ich im Laufe des Tages zu mir genommen habe. Nur ist die Reue vergessen, wenn Catherine das Ergebnis ihrer Kochkünste auf den Tisch stellt. Und bei Crêpes gibt es sowieso keine Diskussion. Wenn es um Crêpes geht, sind Worte wie Kalorien oder Fettpölsterchen unwichtig, da kann Inès mich noch so viel mit gerunzelter Stirn anschauen.

Ich führe gerade den zweiten Crêpe seiner Bestimmung zu, als mein Smartphone einen Ton von sich gibt. Kurz werfe ich einen Blick auf das Display, es ist eine SMS von Chloé. Noch kauend rufe ich die Nachricht auf, sie lautet einfach «wach?». Schnell beende ich meinen Crêpe und rufe danach Chloé an.

«Hi, Chloé», melde ich mich.

«Guten Morgen Trish. Und?» antwortet mir Chloé.

«Was und?» Die Leier kommt mir irgendwie bekannt vor.

«Na, ist noch was gelaufen gestern zwischen dir und dem Schönling?»

«Der Schönling heißt Pierre. Wir haben getanzt bis die Band Feierabend gemacht hat und dann hat er mich nach Hause gebracht. Übrigens in einem richtig schicken Sportwagen.»

«Mehr nicht?» Chloé klingt irgendwie enttäuscht.

«Hast du erwartet, dass er mich gleich ins Bett zerrt oder was?»

«Nein, nein. Aber daran müssen wir arbeiten. Treffen wir uns heute Nachmittag?»

«Was heißt, daran müssen wir arbeiten?»

«Na es ist doch offensichtlich, dass der Typ auf dich steht. Also brauchen wir einen Schlachtplan, damit ihr zusammen kommt.»

Ich verdrehe die Augen. Seit Chloé einen Freund hat, ist es ihr Herzenswunsch, Inès und mich in feste Hände zu bekommen. Aber so ist sie nun mal.

«Na in Ordnung. Sagen wir so gegen zwei Uhr im Café?»

«Gut, ich sage Inès Bescheid.»


Nachdem sie aufgelegt hat, starre ich mein Smartphone einen Moment an. Warum habe ich Chloé nichts von dem Kuss erzählt? Irgendwie kam es mir nicht richtig vor, damit gleich raus zu platzen, obwohl Chloé offensichtlich so etwas hören wollte. Will ich überhaupt einen Schlachtplan haben, in dem meine Freundinnen praktisch als Zuschauer dabei sind, wenn ich mich Pierre nähere? Ich weiß es nicht, irgendwie ist mir das unangenehm. Normalerweise habe ich keine Geheimnisse vor ihnen, aber im Fall von Pierre will ich nicht, dass sie erfahren, wie es um mich steht.

Catherine hatte sich wieder der Zubereitung des Mittagessens zugewandt.

«So, so, Pierre ist sein Name. Und er hat mit dir getanzt.»

Ich muss lächeln. Seit dem Tod von Großmutter hat Catherine immer mal wieder die Mutterrolle übernommen, was bei ihren hausfraulichen Qualitäten auch ganz einfach zu akzeptieren ist.

«Ja. Pierre hat uns vorgestern besucht. Der, der hier einen Weinhandel aufziehen will.»

«Ah der. Ja, der sieht ziemlich gut aus. Kein Wunder, dass ein junges Mädchen wie du sich beeindrucken lässt.»

Darauf erwidere ich nichts, denn eigentlich will ich das, was zwischen Pierre und mir ist, nicht besprechen, bevor ich nicht selber weiß, was da zwischen uns ist. Also schnappe ich mir ganz einfach ein Trockentuch und helfe Catherine beim Saubermachen der Küche. Wir sind gerade fertig, da kommt Großvater nach Hause, kurz darauf serviert Catherine das Mittagessen. Wie ich mir gedacht hatte, ist der Braten von Catherine so hervorragend, dass ich mich zusammenreißen muss, damit ich nicht mehr esse als gut für mich ist. Zumal sich die Crêpes schon bemerkbar machen.

Insofern bin ich ganz dankbar, nach dem Essen ein wenig Bewegung zu bekommen. Die Strecke ins Dorf ist zwar mit dem Fahrrad nicht so weit, aber ein paar Kalorien werde ich dadurch wohl loswerden. Als ich bei dem Café ankomme, sitzen Chloé und Inès schon da. Die beiden verstummen und blicken mir erwartungsvoll entgegen. Also bin ich vermutlich der Gegenstand ihres Gesprächs gewesen. Oder Pierre. Aber ich tue so, als sei alles normal, indem ich ihre Blicke einfach erwidere.

«Was ist los?»

Chloé verdreht die Augen.

«Nun erzähl schon. Was ist gestern Abend noch passiert?»

Inzwischen habe ich mich dazu entschlossen, die Sache mit dem Kuss erst einmal für mich zu behalten. Ich weiß noch nicht, ob er mehr war eine Konsequenz des wunderbaren Abends und auch wenn ich definitiv mehr will, muss ich erst noch herausfinden, wie Pierre darüber denkt. Chloé würde dabei erheblich stören.

«Nachdem du weg warst? Nicht mehr als vorher. Wir haben getanzt und in den Pausen hat mich Pierre mit Getränken versorgt. Als die Band Feierabend gemacht hat, hat er mich nach Hause gebracht.»

Chloé schaute mich einen Moment durchdringend an.

«Er hat den Eindruck gemacht, als wollte er sich ernsthaft an dich ranschmeißen. So alleine tief in der Nacht wäre da die ideale Gelegenheit gewesen.»

«Und wie war das mit Frank? Hat er auch all die günstigen Gelegenheiten ausgenutzt?»

Ich weiß genau, dass dem nicht so war. Wochenlang hat uns Chloé vorgejammert, welche tollen Gelegenheiten sie ihm wieder geboten hatte, ohne dass Frank diese in seiner Schüchternheit ergriffen hatte. Chloé hat richtig energisch werden müssen, bevor Frank begriffen hat, dass er jetzt befreundet zu sein hat. Wir haben damals gemeinsam in unserer Meinung übereingestimmt, dass Männer einfach blind für die Wünsche von Frauen sind. Meine Erwiderung lässt Chloé kleinlaut werden.

«Ja, ich weiß. Aber dein Pierre scheint mir erwachsener zu sein.»

«Vielleicht ist das keine Frage des Alters, vielleicht können Männer prinzipiell nicht richtig sehen, was Frau so möchte.»

Damit habe ich den richtigen Ton angeschlagen. Ich ernte Zustimmung und bin der Situation entkommen, meine Freundinnen anlügen zu müssen. Aber Chloé hat noch andere Pfeile im Köcher.

«Hast du seine Handynummer?»

«Nein, warum?»

Wieder stöhnt Chloé auf.

«Na Regel Nummer eins bei interessanten Männern. Immer die Kontaktmöglichkeiten sichern. Wenn du seine Handynummer hast, dann kannst du dich im Notfall auch mal verwählen, um ihn an die Strippe zu bekommen und ein Date aus ihm herauszuholen. Trish, du verhältst dich wie eine Anfängerin.»

Ich bin eine Anfängerin, aber dazu sage ich lieber nichts. Chloé beginnt jetzt erst, richtig aufzudrehen.

«Also gut, dann müssen wir anders vorgehen. Inès du wohnst vor Ort, du musst herausbekommen, wo Monsieur Polignac so alles verkehrt, wann er aufsteht, was er frühstückt, einfach alles. Wir brauchen die Informationen, damit wir ‚zufällige‘ Begegnungen arrangieren können. Trish, es liegt dann an dir, aus diesen Begegnungen etwas zu machen. Manchmal müssen Männer mit dem Holzhammer auf ihr Glück aufmerksam gemacht werden»


Eine halbe Stunde später habe ich so viele Tipps in der Tasche, dass ich Brad Pitt hätte abfangen, in eine dunkle Ecke drängen und überwältigen können. Ich lasse Chloé reden, sie meint es ja gut. Und ganz Unrecht hat sie auch nicht. Pierre hat mich zwar geküsst, aber wir haben nichts verabredet und ich habe keine Ahnung, wann und wie ich ihn wieder treffen werde.

Vielleicht war es für ihn ja nur so eine Schwärmerei für einen Abend.

Inès verspricht, nach dem Lebenswandel von Pierre Ausschau zu halten und ich verspreche, die nächste Gelegenheit zu nutzen, seine Handynummer zu bekommen. Chloé muss weg, weil sie noch mit Frank verabredet ist. Aber sie verschwindet nicht, ohne mich noch mit zwei weiteren Tipps zu versorgen, wie man die Aufmerksamkeit von Männern auf sich ziehen kann.

Inès und ich bleiben noch sitzen, um unser jeweiliges Getränk zu Ende zu trinken.

«Ich glaube, Chloé übertreibt ein wenig.»

Ich muss lachen, wie so oft hat Inès in ihrer stillen Art die Situation viel besser durchschaut als Chloé oder ich.

«Da hast du nicht ganz unrecht. Aber sie will mir ja nur helfen.»

Inès fixiert mich.

«Willst du dir denn helfen lassen?»

Ich zucke mit den Schultern.

«Ehrlich gesagt weiß ich nicht recht, was ich genau will. Pierre ist mir stärker unter die Haut gegangen, als ich erwartet hatte.»

Inès nickt bloß und sagt nichts weiter. Sie merkt wohl, dass ich darüber nicht unbedingt reden möchte. Ich bezahle meinen Kaffee, winke Inès zu und mache mich auf den Heimweg. Es gibt genug, worüber ich nachdenken muss. Ich habe die Außenbezirke des Dorfes gerade verlassen, da sehe ich eine Gestalt am Straßenrand an einem Zaun lehnen. Plötzlich fängt mein Herz an zu rasen, die Erinnerung an einen wahnsinnigen Kuss ist auf meinen Lippen wieder zu spüren. Es ist Pierre und er schaut mir erwartungsvoll entgegen als hätte er erwartet, dass ich vorbeikomme. Bei ihm angekommen, steige ich vom Fahrrad.

«Hey.»

Plötzlich fühle ich mich schüchtern.

«Hallo Trish»,

Pierre lächelt mir zu, ich versinke in seinen grünen Augen. Ich fühle mich schwach und leer, die Gegenwart von Pierre hat wieder alle Gedanken aus meinem Kopf verdrängt. Vergeblich versuche ich, mir einen der Tipps von Chloé ins Gedächtnis zu rufen, aber das hat seine Funktion offensichtlich eingestellt. Verdammt, warum muss er mich immer so aus der Fassung bringen.

«Was machst du denn hier?»

«Ich warte auf dich.»

«Auf mich? Woher wusstest du denn, dass ich vorbeikomme?»

«Ich habe dich gesehen, wie du mit deinen Freundinnen im Café saßest. Ich wollte nicht stören, also habe ich beschlossen, hier zu warten, bis du vorbei kommst.»

«Das wäre doch nicht nötig gewesen, Pierre. Du wusstest doch gar nicht, wie lange wir uns unterhalten werden.»

«Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte mich zu euch gesetzt?»

Jetzt spüre ich, wie mir die Hitze in die Ohren steigt. Nein, wenn er zu uns gekommen wäre, wäre das eine echte Katastrophe gewesen. Chloé war so sehr in Fahrt, dass sie unbedingt gewollt hätte, dass ich ihre Tipps gleich in die Praxis umsetze. Ich wäre mir so etwas von nackt vorgekommen, nicht auszudenken.

«Na ja..»

Auf mein Herumdrucksen hin muss Pierre lachen.

«Siehst du, deshalb warte ich hier. Habt ihr wenigstens über mich geredet?»

«Und wenn?»

«Dann würde ich natürlich liebend gerne erfahren, was das war.»

«Chloé hat mir Vorwürfe gemacht» platze ich heraus, bevor ich meine Zunge im Zaum halten kann. Trish, du bist schon ein selten dämliches Kamel.

«Echt? Weshalb denn?»

Jetzt sitze ich in der Falle. Also Augen zu und durch.

«Weil ich nicht nach deiner Handynummer gefragt habe.»

Jetzt muss Pierre wieder lachen. Er sieht sogar etwas entspannter aus als vorher, obwohl man das nur durch eine subtile Veränderung erkennen kann, wie er seinen Körper hält.

«Na, das kann ich ja nicht auf dir sitzen lassen. Wie wäre es, wenn wir die Nummern gleich austauschen.»

Er holt sein Smartphone aus der Tasche – natürlich ein iPhone der neuesten Generation – und wir tauschen die Nummern aus. Ich setze seine Nummer auch gleich auf die Favoritenliste


«Hast du es eilig, oder kann ich dich einfach etwas auf dem Weg nach Hause begleiten?»

Ein warmes Gefühl umfängt mein Herz. Er macht mir tatsächlich weiter den Hof. Er macht den Eindruck, als wollte er unsere Begegnung von gestern fortsetzen. Fast hätte ich ein Juchzen ausgestoßen, im letzten Augenblick kann ich ihn zurückhalten. Aber ein fettes Grinsen kann ich mir nicht verkneifen.

«Klar, es wäre schön, wenn du mich begleitest.»

Ich schiebe mein Fahrrad den Weg entlang und Pierre fällt neben mir in einen gemütlichen Schritt mit ein. Einmal mehr verschlägt es mir wegen seine Körperbeherrschung und Eleganz den Atem. Neben ihm bewege ich mich wie ein Trampeltier. Das erinnert mich an die letzte Nacht.

«Danke, Pierre.»

Er schaut zu mir. «Wofür denn?»

«Für gestern Nacht. Mit dir zu tanzen war einfach toll.»

Soll ich auch den Kuss erwähnen? Soll ich ihm sagen, dass ich mehr davon will? Einen Moment bin ich versucht, damit herauszuplatzen, dann ist der Augenblick vorbei.

«Da muss ich den Dank aber zurückgeben. Es war der schönste Abend für mich seit langem.»

«Seit langem? Ich hätte gedacht, so gut, wie du tanzt, ist das dein Hobby und du hast eine feste Tanzpartnerin.»

«Nein, ich habe keine Partnerin, weder zum Tanz noch sonst wie. Seit fünf Jahren habe ich nicht mehr getanzt.»

Ich schaue zu ihm herüber. So wie er das sagt, hört es sich seltsam an, als ob eine Geschichte dahinter steckt. Vor fünf Jahren ist er neunzehn gewesen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn danach fragen soll, obwohl es mich natürlich brennend interessiert. Bevor ich mich entschließen kann, weiter zu fragen, setzt Pierre fort.

«Bist du mir böse?»

Jetzt bin ich verwirrt.

«Nein, wieso denn?»

«Du hattest gestern Abend einige Gläser Wein getrunken und ich habe das dann – ausgenutzt.»

Ich spüre, wie meine Ohren heiß werden. Denkt er, er hätte mich nur deswegen küssen können, weil ich zu betrunken war, um mich zu wehren? Hat er wirklich nicht gemerkt, wie sehr ich mich nach diesem Kuss gesehnt habe? Will er jetzt etwa das Ganze ungeschehen machen?

«Bereust du das denn?»

Er schaut mich erst scharf an, dann senkt er den Kopf.

«Nein», flüstert er, «Nein, ich bereue es nicht und würde es wieder machen, wenn du mich lässt.»

Eine wilde Freude durchflutet mein Herz. Er will mich küssen, er will mich wieder küssen. Es ist doch gar keine Frage, dass ich ihn lasse. Aber bevor ich etwas erwidern kann, biegen wir um eine Kurve, die der Weg beschreibt, und bleiben stehen.


Ein paar Meter vor uns stehen die beiden Kumpels von Mathéo, die letztens mit ihm an dem Stand der FN gewesen waren. Sie versperren den ganzen Weg, wobei sie uns herausfordernd entgegensehen. Offensichtlich wussten sie, dass wir kommen und haben uns erwartet. Pierre schaut stirnrunzelnd zu ihnen hin.

«Was sind das denn für Typen?»

Ich brauche nicht zu antworten, denn in diesem Augenblick stoßen die beiden Pfiffe aus und rufen.

«Die Niggerfreundin.»

«Na, bist du noch nicht auf dem Weg nach Afrika, um zu deinen Freunden zu kommen?»

Pierres Gesicht verfinstert sich, legt mir die Hand kurz auf den Arm, um mir zu bedeuten, stehen zu bleiben und setzt sich in Richtung der beiden in Bewegung. Schnell halte ich ihn fest.

«Bitte lege dich nicht mit denen an, das sind sie nicht wert.»

Pierre lächelt. Sein Lächeln ist vollkommen selbstsicher, aber es schimmert etwas dahinter, was ich irgendwie nicht richtig einordnen kann. So als wäre Pierre eine Katze, die gerade zwei Mäuse zum Spielen entdeckt hat. Als Maus würde ich jetzt schnellstens die Flucht ergreifen.

«Keine Sorge, ich mach das schon.»

Bevor ich noch etwas sagen kann, hat er sich schon gelöst und ist außerhalb meiner Reichweite. Verdammte Kerle, die denken immer mit ihren Hormonen. Ich weiß nicht, ob ich Angst um Pierre haben soll oder nicht. Eigentlich macht er den Eindruck, als wüsste er was er tut. Kurz vor den beiden bleibt er stehen und schaut sie an. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, aber er strahlt eine Aura aus, die einem die Alarmglocken klingeln lassen sollten.

Die FN-Typen sind plötzlich bedeutend ruhiger geworden.

«Ich würde ihnen raten, Mademoiselle Strong nicht in dieser Weise zu beleidigen.» sagt Piere mit einer ruhigen Stimme, die aber wie eine verdeckte Drohung klingt. Seine Gegenüber scheinen nicht zu wissen, was sie sagen sollen, offensichtlich sind sie sich nicht sicher, überlegen zu sein.

In diesem Augenblick raschelt etwas in dem Gebüsch rechts hinter Pierre und die Dinge geschehen rasend schnell. Mathéo taucht auf, mit einem Stück Holz in der Hand, das er gegen Pierre schwingt. Der Schreck rast durch meine Glieder, entsetzt schreie ich auf, um Pierre zu warnen. Unwillkürlich mache ich einen Schritt nach vorne, um Mathéo abzufangen, aber ich reagiere viel zu spät.

Das Holz saust nieder, doch Pierre steht nicht mehr da, wo Mathéo hingezielt hat. Er ist beiseite gewichen, der Schlag geht ins Leere. Bevor ich auch nur einen weiteren Gedanken fassen kann, hat Pierre Mathéo hochgehoben als sei er eine Puppe und kein massiger Mann. Mit einem kurzen Ruck wirft er ihn zurück in Richtung Gebüsch, wo er mit einem Krachen und Aufstöhnen aufschlägt. Kurze Zeit geschieht nichts, Mathéo bleibt liegen, offensichtlich benommen von der plötzlichen Wendung der Geschehnisse.

Der Angriff hat Mathéos Kumpel wohl davon überzeugt, eingreifen zu müssen. Fast gleichzeitig lassen sie ihre jeweilige rechte Faust auf Pierre zufliegen. Doch sie treffen Pierre nicht. Mit einer fast lässigen Eleganz fängt Pierre die Schläge mit je einer Hand ab und hält ihre Fäuste umklammert. Das geschieht so schnell, dass ich erst mitbekomme, was los ist, als Pierre die beiden Fäuste bereits gefangen hat. Sie wollen ihre Hände zurückziehen, aber es geht nicht. Pierre lässt einfach nicht los und presst die Finger der beiden Idioten so fest zusammen, dass es weh zu tun scheint. Mathéos Kumpel schauen nur noch vollkommen entgeistert drein.

«Das war ein schwerer Fehler Jüngelchen. Ich schlage vor, ihr sammelt euren dummen Freund da hinten ein und verzieht euch. Und wenn ihr auch nur noch ein einziges negatives Wort über Mademoiselle Strong redet, dann kommt ich vorbei und bläue euch die Höflichkeit ein, die eure Mama wohl vergessen hat zu erwähnen. Ist das klar?»

Pierres Stimme ist so ruhig, als würde er einen Wein bestellen. Die beiden sind offensichtlich schwer beeindruckt, denn sie nicken hastig. Pierre stößt sie etwas weg, so dass sie ins Straucheln kommen. Sie fangen sich aber schnell, sammeln Mathéo auf und verziehen sich geradezu fluchtartig.


Wow!

Ich habe ja so manches Mal den Jungen bei ihren Kämpfen zugeschaut und ab und zu sind auch mal Fäuste geflogen, aber eine solche Überlegenheit eines einzelnen gegen drei junge Schläger habe ich noch nie gesehen. Pierre hat völlig gelassen und gezielt reagiert, er war an Kraft, Schnelligkeit, eigentlich an allem überlegen. Nicht eine Sekunde gab es einen Zweifel daran, wer bei dieser Konfrontation den Kürzeren ziehen würde. Ich kann nichts anderes tun, als entgeistert auf ihn starren, mein Inneres ein Chaos zwischen Sorgen und Bewunderung. Lächelnd erwidert er meinen Blick, seine grünen Augen scheinen amüsiert zu blitzen.

«Wenn die dich noch einmal belästigen, sag einfach Bescheid. Ich werde mich dann darum kümmern.»

Ich weiß wieder einmal nicht, was ich sagen soll. Eigentlich hatte ich Pierre Vorwürfe machen wollen, weil er sich wegen mir auf eine Schlägerei eingelassen hat, aber streng genommen war das keine Schlägerei gewesen. Eher eine Erziehungsmaßnahme. Was soll ich jetzt tun? Sein Erfolg schreit geradezu nach einem deutlichen Zeichen. Also trete ich auf ihn zu, lege ihm eine Hand auf den Arm und sage nur

«Danke.»

Während ich in seinen grünen Augen versinke, ist sie wieder da, diese ungeheure Spannung zwischen uns. Fast als hätte uns jemand an eine Batterie angeschlossen, durchfährt mich ein feuriger Strom, mein Puls fängt an zu rasen. Ich bin Pierre noch eine Antwort schuldig auf die Frage, die er mir gestellt hat, bevor uns Mathéo und seine Kumpanen unterbrochen hatten. Und diese Antwort sollte nicht aus Worten bestehen.

Ich schmiege mich an Pierres Körper so ähnlich, wie ich das gestern bei dem letzten Blues gemacht habe. Meine Arme umfassen seinen Nacken, ich nähere mich vorsichtig seinen Lippen. Wird er mich zurückweisen? Wird er akzeptieren, dass ich diesmal die Initiative ergreife? Ich schließe die Augen und unsere Lippen treffen sich in einem Kuss. Pierre scheint das nicht nur zu begrüßen, er erwidert den Kuss in einer Heftigkeit, die mich überwältigt.

Seine Lippen sind immer noch so weich, wie ich es gestern empfunden habe. Sein Mund öffnet sich und ich beginne, ihn zu erforschen, ihn zu schmecken, ihn zu riechen. Die Welt verschwindet in einem Sturm aus Gefühlen, die durch meinen Körper rasen. Der Kuss steht dem gestrigen in nichts nach, vielleicht ist er sogar noch intensiver. Mit allen meinen Sinnen gebe ich mich ihm hin, alles andere wird unwichtig. Nach einer Ewigkeit lösen wir uns voneinander und ich blicke in Pierres Augen. Ich kann seinen Ausdruck nicht deuten, aber die Augen scheinen jetzt gelb zu blitzen.

Langsam setzt mein Denkapparat wieder ein und ich muss unwillkürlich kichern. Pierre schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen fragend an, worauf ich richtig an mich halten muss, um nicht in prustendes Lachen auszubrechen. Eigentlich will ich nicht das kichernde Mädchen sein, aber meine Gefühle fahren mit mir Achterbahn und suchen ein Ventil.

«Eigentlich müsste jetzt der Klischee Alarm in höchsten Tönen losgehen», bringe ich mühsam heraus. «Strahlender Held rettet Jungfrau aus der Not und wird daraufhin von ihr belohnt.»

Jetzt muss auch Pierre grinsen.

«Also ich finde die Rolle des strahlenden Helden ganz annehmbar. Zumal bei der Belohnung.»

«Mensch Pierre, wie du die drei abgekanzelt hast, so etwas habe ich noch nie gesehen.»

Pierre zuckt mit den Schultern.

«Na ja, das waren doch nur dumme Jungs. Ihre Väter haben es nur versäumt, sie ordentlich zu erziehen.»

Nun ja, diese dummen Jungs sind immerhin älter als ich, aber dazu sage ich lieber nichts. Ich schnappe mir mein Fahrrad und wir setzen unseren Weg fort. Ohne Zögern legt Pierre den Arm um mich und ich erwidere seine Geste, indem ich mich leicht an ihn lehne. Unsere Beziehung entwickelt sich sehr zufriedenstellend, wir sind uns wieder ein Stück näher gekommen.


Während zwischen uns zuerst noch erwartungsfrohes Schweigen herrscht, kommen mir die verschiedenen Ratschläge von Chloé wieder in den Sinn. Die Suppe löffeln, solange sie heiß ist, würde sie jetzt vermutlich sagen. Manche ihrer Ratschläge sind sogar ganz brauchbar.

«Pierre, ich weiß fast gar nichts von dir. Erzähl doch mal.»

«Was willst du wissen?»

«Wo leben deine Eltern, was hast du noch für Verwandte, wo kommst du her?»

Ich schiele zu ihm herüber, um zu sehen, ob er bei so vielen persönlichen Fragen sauer reagiert, aber seine Miene lässt nichts erkennen.

«Meine Eltern leben nicht mehr und ich habe auch sonst keine näheren Verwandte. Natürlich ist die Familie Polignac sehr weitläufig, aber ich pflege keinen Kontakt zu ihr. Ich habe die letzten Jahre in der Nähe von Toulouse gelebt, aber aufgewachsen bin ich in einer sehr ländlichen Gegend im Herzen Frankreichs.»

«Das heißt, du lebst ganz allein in einem so riesigen Chateau?»

«Nicht ganz, Charles lebt bei mir und drei Mal die Woche kommt auch Mathilde vorbei, meine Haushaltshilfe.»

«Charles?»

«Mein Diener, eigentlich eher mein Butler, denn Charles hat schon immer viel Wert auf seine englische Ausbildung gelegt.»

«Ein Butler, du hast einen Butler?»

Pierre zuckt mit den Schultern.

«Für mich ist Charles eigentlich eher wie ein alter Freund. Aber er kümmert sich um das Haus und um mich. Also ist Butler die richtige Bezeichnung.»

«Cool.»

Pierre grinst mich an.

«Willst du ihn mal kennen lernen?»

«Klar. Ich kenne bisher keinen Butler.»

Wir sind mittlerweile in die Nähe von unserem Weingut gekommen. Ich will eigentlich nicht, dass Pierre mich bis zur Haustür bringt, denn den scharfen Augen von Catherine entgeht nichts und sie würde mich mit Fragen löchern. Fragen, die ich mir aktuell selbst kaum beantworten kann. Nicht dass ich ihr oder Großvater etwas verheimlichen will, aber ich will mir erst ganz sicher sein, dass Pierre und ich jetzt zusammen sind, bevor ich sie einweihe.

Pierre scheint ähnliche Gedanken zu hegen, denn er bleibt stehen.

«Kommst du mich morgen mal besuchen?»

Er schaut mich auf eine Art und Weise an, die wieder etwas in mir weckt, ein Kribbeln, das sich von unten nach oben durch meinen Körper zieht. Seine Augen ziehen mich in seinen Bann, sie sind grün, grün, nicht gelb. Wieso kamen sie mir eben gelb vor? Ich bin so verwirrt von dieser Frage, dass ich nur nicken kann.

«Dann rufe ich dich morgen an und du kommst nach der Schule vorbei.»

Wieder nicke ich. Pierre lächelt und ich weiß sofort, was er will. Es ist genau dasselbe, was ich auch will. Er umfasst mich sanft, ich schließe die Augen und wir treffen uns in einem weiteren Kuss. Die Berührung trägt mich in himmlische Höhen, sie lassen mich alles vergessen, ich höre auf zu denken, alles was zählt sind die wahnsinnigen Gefühle, die ich empfinde. Als ich wieder anfange zu denken, hat sich Pierre gelöst, streichelt mir über die Wangen und flüstert.

«Auf Wiedersehen, schöne Trish.»

«Auf Wiedersehen, Pierre.»

Entschlossen reiße ich mich von ihm los, packe mein Rad, schwinge mich auf und radele das letzte Stück zu unserem Haus. Ich bewege mich wie in Trance, ich sehe weder den Weg noch das Haus noch irgendjemand. In Gedanken bin ich noch bei den Küssen, bei dem, was Pierre in mir auslöst. Pierre behandelt mich wie etwas Besonders, als würde er mich ebenso lieben, wie ich ihn liebe. Liebe ich ihn denn? Ist es das, was ich empfinde? Als ich zu meinem Zimmer hinaufgehe, stelle ich fest, dass ich gar nicht so reagiere wie gestern Abend. Gestern hätte ich schreien und tanzen können, heute bin ich irgendwie – ruhiger. Ich habe nur keine Ahnung, warum.

Blutgefährtin 1

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