Читать книгу Die Sternenschnüffler - Thomas Manderley - Страница 5
3. Kapitel
Оглавление„Freitag der 11.07.2356 Erdzeit, Planet Rawadian, fünftes Kriegsjahr - Mal wieder nichts los. Habe die Steine, die bis zu einem halben Meter Abstand um mich herum im Sand lagen nach Größe und Farbe sortiert. Mehr Produktives ist mir nicht eingefallen. Sven ist heute dran mit Bier holen. Hoffe, dass ich beim Pokern heute Abend meinen Verlust von gestern zurückgewinne.“ Oliver setzte seinen Stift kurz ab und überlegte. Er drehte ihn zwischen seinen Fingern hin und her, klopfte mit dem Ende rhythmisch auf sein Notizbuch, hielt ihn zwischen den Zähnen, während er ein paar Seiten zurück und wieder nach vorne blätterte. Aber egal was er versuchte: Ihm fiel nicht das Geringste ein, denn jeder Tag war wie der vorangegangene und wie der Tag zuvor. Mit einem Seufzer schlug Oliver sein Notizbuch zu und steckte es in die Innentasche seines Kampfanzugs.
„Sven!“ Olivers Stimme durchschnitt die Langeweile im Schützengraben wie eine Klinge. „Sven, Du bist dran! Hol Bier!“ Oliver hoffte auf eine Antwort, die mehr als ein „Ja“ oder „Nein“ enthielt und vielleicht sogar auf den Beginn einer Unterhaltung, einer Abwechslung im staubigen Alltag der rawadianischen Zentralwüste, aber nichts kam zurück. „SVEN!“, schrie Oliver und wurde nun endlich erhört:
„Ja doch, ich geh schon!“, schallte es vom anderen Ende des Schützengrabens herüber. Sven kletterte ohne jede Schutzmaßnahme nach oben und verschwand in Richtung des Lagers. Aber schon etwa zwanzig Minuten später war er mit einem halben Kasten Bier zurück. Oliver konnte es gar nicht erwarten, bis Sven ihm seine Flasche reichte. Er öffnete sie mit den Zähnen, trank die Hälfte der Flasche auf Ex aus, genoss dabei aber jeden Tropfen, der seine trockene Kehle hinunterlief.
Neben Oliver, etwa fünfzehn Meter entfernt saß Kjomme. Er war auch ein Mensch, wie Oliver. Sein Vater war Kommandant bei der Raumflotte und so war Kjomme auf einem Schlachtkreuzer aufgewachsen. Sein seltsamer Name war typisch für das Sternensystem, in dem er zur Welt kam. Welches das war, wusste Kjomme nicht mehr. Hier im Krieg, sollte er sich jedenfalls, so wie sein Vater es wollte, seine Lorbeeren verdienen, um später auch einmal Raumschiffkapitän zu werden.
„Hey, Kjomme, sag mir nochmal, warum wir alle eigentlich hier sind und warum speziell ich hier bin! Nach fast fünf Jahren Schützengraben, ohne dass nur ein einziger Schuss gefallen ist, habe ich ganz vergessen, was ich hier eigentlich mache.“
„Wir verteidigen diesen Planeten vor den Invasoren da drüben.“ Kjomme deutete mit seiner Hand in Richtung der imaginären Frontlinie.
Aber Oliver ließ nicht locker: „Der Planet heißt doch Rawadian. Also gehört er doch wohl den Rawadianern, oder? Sind wir dann nicht eigentlich die Invasoren?“
„Ja, aber wir verwalten den ganzen Scheiß hier und beschützen unsere Erzminen. Du bist seit fünf Jahren hier und kennst nicht mal die offizielle Meinung, die Du zu vertreten hast? Was machst Du eigentlich während der morgendlichen Briefings?“
„Da schlafe ich noch. Du etwa nicht?“ Kjomme blieb die Antwort schuldig, also fragte Oliver weiter: „Und ich, warum bin eigentlich ich speziell hier?“
„Du hast wieder einen dieser Tage, richtig? Du bist hier, weil die Bezahlung stimmt.“, und Kjomme sah zum ersten Mal zu Oliver herüber: „Außerdem solltest Du froh sein, dass noch keiner geschossen hat, oder nicht?“
„Aber Du, Kjomme, Du bist doch hier, weil Dein Vater es so will, oder?“
Kjomme antwortete nur mit einem kurzen „Ja“ ohne weiteren Kommentar.
„Aber was willst DU eigentlich?“, bohrte Oliver weiter. „DU liegst hier bei vierzig Grad im Dreck und schlägst die Zeit tot, nicht Dein Vater! Und dazu weißt Du nie, ob nicht doch mal so ein Irrer schießt.“
„Was ich will?“ Kjomme richtete die Frage mehr an sich selbst als an Oliver. Er blickte wieder geradeaus und begann nachzugrübeln. Es dauerte ein paar Minuten, aber dann hatte er eine Antwort: „Pizza! Ich will eine Pizza, so wie früher! Mit viel Käse und vielleicht mit Schinken, oder sogar mit Oliven.“ Oliver sah erstaunt zu ihm herüber.
„Vielleicht danach auch ein Tiramisu und einen schönen Rotwein.“, träumte Kjomme weiter: „Ja genau: Ein schönes Glas traditionellen, italienischen Rotweins. Das wär’s jetzt!“
„Tiramisu? Was ist das denn?“, fragte Oliver. Kjomme sah zu ihm herüber und runzelte die Stirn.
Oliver zog es dann doch vor, seine Unwissenheit zu überspielen: „Also was es auch immer ist: Hier gibt es so etwas nicht. Hier ist es nur heiß und staubig. Und das wird sich so schnell nicht ändern.“
Olivers Worte hallten in Kjommes Ohren wider, wie die Standpauke eines Lehrers, bei der man sich am liebsten unter den Tisch verkriechen würde.
Oliver wollte gerade dazu ansetzen, sich seinen ganzen Frust über seine Situation von der Seele zu reden, doch er hielt inne, denn ihm kam eine Idee: „Kjomme, warum gehen wir nicht einfach Pizza essen? In einem richtigen Erden-Restaurant!“
Kjomme sah ihn verdutzt an.
„Ich hab‘ die Schnauze gestrichen voll.“, fuhr Oliver fort: „Wir gehen einfach. Hier ist kein Krieg. Keiner schießt, keiner achtet hier noch auf irgendetwas oder irgendwen. Ich kann bis heute nicht verstehen, warum die hier an der so genannten Front nicht einfach Roboter einsetzen. Und bevor Du etwas sagst: Ja, ich habe sogar bei einem der Briefings zugehört und weiß, dass jede Maschine leichter zu überlisten ist als ein Mensch.“
„Und nebenbei bemerkt kostet so ein Hightech-Roboter mehr als drei Jahresgehälter eines Soldaten.“, fügte Kjomme hinzu: „Aber was meinst Du mit Pizza im Erden-Restaurant? Wir kriegen nicht so schnell Urlaub, schon gar nicht zur selben Zeit.“
„Wir hauen einfach ab, merkt so wie so keiner.“ Oliver stemmte sich aus seiner halb liegenden Position auf und setzte sich ein Stück näher zu Kjomme auf den staubigen Boden.
„Meinst Du das ernst?“, fragte Kjomme mit aller Vorsicht.
„Ja klar! Hat Dich in den letzten drei Jahren hier ein Vorgesetzter kontrolliert, untersucht oder auch nur mit Dir außerhalb dieser blödsinnigen Briefings gesprochen?“
„Nein!“, antwortete Kjomme und seine Stimme verriet, dass er langsam Spaß an dem Gedanken bekam. Doch dann sah er wieder geradeaus an die gegenüberliegende Wand des Schützengrabens. „Mein Vater macht mich alle! Der bringt mich um! Sein Sohn ein Deserteur!“ Kjomme senkte seinen Blick nach unten zwischen seine angewinkelten Knie.
„Na und? Drauf geschissen!“, sagte Oliver mit immer enthusiastischerer Stimme, aber Kjomme starrte weiter regungslos auf den Boden. Nun gab auch Oliver auf und blickte wieder auf die vor ihm stehende, inzwischen leer getrunkene Bierflasche.
„Drauf geschissen!“, sagte Kjomme plötzlich, stand wild entschlossen auf und kletterte nach oben.
„Kjomme, bist Du irre?“
Kjomme reagierte nicht.
„Dann warte wenigstens auf mich!“, rief ihm Oliver hinterher und kletterte ebenfalls aus dem Graben.
Oben angekommen sahen sich Oliver und Kjomme an: „Und was jetzt?“, fragte Oliver.
„Sag Du mir das! Das Ganze ist doch Deine Idee gewesen.“
Oliver sah sich nach allen Seiten um. Außer Wüstensand und dem nur etwa dreihundert Meter entfernten Versorgungslager am Fuße der großen Dünenkette war nichts zu sehen. Drei Shuttle-Transporter standen neben dem Hauptzelt und schienen unbewacht zu sein: „Nur nicht auffallen! Wir haben jetzt ‚offiziell‘ den Befehl zum Schlachtkreuzer ‚Europa‘ zu fliegen, um dort einen Gefangenen zu verhören, verstehst Du?“
„Klar!“, sagte Kjomme und grinste übers ganze Gesicht.
Die beiden machten sich auf den Weg zum Zelt, aber als sie näherkamen, mussten sie feststellen, dass die Shuttles doch bewacht waren: Ein einzelner Soldat schlief im Sand, mit dem Rücken an einen großen Felsbrocken gelehnt. Seinen Hut hatte er sich über die Augen gelegt und seine Hände über seiner Brust zusammengefaltet. Also gingen Kjomme und Oliver weiter, direkt zu den Shuttles.
„Los Kjomme, starte schon mal den Antrieb!“, sagte Oliver und ging zum schlafenden Wachposten: „HALLO! Wir müssen zum Schlachtkreuzer ‚Europa‘ fliegen. Wir sollen da einen Gefangenen verhören.“
„Gefangenenverhör?“, murmelte der Wachposten, ohne seinen Hut hochzuschieben: „So einen Schwachsinn habe ich ja noch nie gehört. Seit wann machen wir Gefangene?“
Oliver zuckte zusammen, denn er bemerkte, wie dumm seine Idee mit dem Verhör eigentlich gewesen war. Aber er konnte jetzt nicht mehr die Richtung wechseln: „Seit heute. Wir haben einen Spion von denen erwischt, wie er versuchte, die Sicherheitsschleusen an einer der Erzminen zu manipulieren.“ Oliver war über sich selbst erstaunt, wie schnell er das Problem lösen konnte.
Der Wachmann schob nun doch seinen Hut nach oben und sah Oliver mit zusammengekniffenen Augen an: „Spion? An den Minen? Und was wollte der da machen? Ach Scheißegal. Fliegt doch einfach und lasst mich endlich in Ruhe, verdammt! Immer diese bekloppten Frischlinge. Wollen alles immer ganz genau machen. Nehmt das verdammte Mistding endlich und verschwindet!“ Dann schob er den Hut wieder über die Augen.
„OK, Danke. Wir melden uns dann vom Schlachtkreuzer aus hier unten ab. OK?“ Da keine Antwort vom Wachmann kam, ging Oliver, ohne weitere Worte zu verlieren, zum Shuttle, das bereits mit hochgefahrenem Antrieb und mit Kjomme am Steuer auf ihn wartete. Oliver stieg ein, Kjomme hob ab und beschleunigte gen Himmel.
Langsam kroch das kleine Schiff die schroffen Felswände empor und das Camp, die Munitionsdepots und auch der Schützengraben wurden immer kleiner, bis sie Spielzeug ähnelten, das verstreut in einem schmutzigen Sandkasten herumlag. Immer schneller schossen die mächtigen Gesteinsbrocken des Felsmassivs an Oliver und Kjomme vorbei, bis sie zu einer einzigen großen Masse verschwammen. Als die Gipfel erreicht waren und unter dem Shuttle abtauchten, gaben sie die Sicht auf die gigantische, rotsandig karge Zentralwüste frei, die bis zum Horizont von bizarren Felsformationen durchbrochen wurde. Zwischen ihnen saugten sich unzählige Minen und Fabrikanlagen wie Geschwüre am Wüstensand fest und sandten ihre dichten Rauschschwaden gen Himmel. Der Anblick ließ Oliver innerlich erschaudern, auch wenn er gleichzeitig spürte, wie ein Gefühl der Freiheit und der Freude auf die vor ihm liegende Zukunft in ihm aufkam.
Nachdem Kjomme vom Steigflug in den Vorwärtsflug übergegangen war, brach Oliver das Schweigen: „So weit, so gut. Etwas habe ich jedoch nicht bedacht.“
„Und was?“, fragte Kjomme und drehte sich zu Oliver um, der es sich inzwischen auf einer der hölzernen Ruhepritschen im hinteren Bereich der Shuttlekabine bequem gemacht hatte.
„Guck nach vorne!“
Kjomme gehorchte.
„Ich habe noch nicht bedacht, wie wir durch das Sensor-Schutznetz kommen. Sobald ein Raumschiff unbefugt durchfliegt, gibt es Alarm an alle Kreuzer, Abfangjäger und an Alle, die sonst noch im Orbit rumhängen.“
„Stimmt, an das blöde Netz habe ich nicht gedacht. Können wir das Ganze nicht vorübergehend lahmlegen?“
„Nein, keine Chance. Das Netz ist absolut hackersicher. Wir müssen da ‚befugt‘ durch!“
„OK, befugt! Und wie?“ Kjomme klang zunehmend unruhig:
„Na ja, wir könnten angeben, dass wir auf Urlaub wären.“, sagte Oliver, bemerkte die Dummheit seiner Idee aber im selben Moment und auch Kjomme ersparte sich jeglichen Kommentar.
„Ich hab‘s!“, rief Oliver: „Wir holen jotanische Eier für Sergeant Holcroft und müssen dafür zum interstellaren Großmarkt auf der Bell-Station draußen im Keedon-System fliegen. Der Typ liebt diese komischen Eier, aber die kriegst Du nur bei einem Händler, der dort einen kleinen Laden hat. Und der Typ ist, soweit ich weiß, ein Schmuggler und betreibt den Laden nur als Tarnung. Aber für seine Eier tut der Sergeant eben alles. Hast Du die mal gegessen?“
Kjomme blickte wieder nach hinten zu Oliver.
„Guck nach vorne! Wir werden noch abgeschossen, Mann. Es ist Krieg!“
Kjomme sah wieder auf sein Display: „Nein, habe ich noch nicht gegessen.
„Die schmecken wie vergammelter Schneckenschleim. Keine Ahnung was der Typ daran findet. Na ja, aber bei dem wundert mich eigentlich nichts!“
„Geht nicht!“, sagte Kjomme.
„Was geht nicht?“
„Na Deine Idee mit Sergeant Holcroft. Der ist vor zwei Jahren an Lebensmittelvergiftung gestorben.“
„So viel zu den Eiern.“, ergänzte Oliver. Doch dann traf ihn ein weiterer Geistesblitz: „Sag mal, Kjomme, ist das nicht ein Standard-Shuttle, Typ zwei oder Typ drei?“
„Typ zwei, glaube ich. Wieso?“
Oliver setzte sich auf: „Na das ist auch der Typ, der von der Flugschule eingesetzt wird. Und das sind wir jetzt auch offiziell: Flugschüler und Fluglehrer.“
Kjomme rümpfte die Nase: „Ach, und ich bin der Flugschüler? Ich bin ausgebildeter Kampfpilot, Du Vollpfosten. Das merkt doch jeder nach zwei Sekunden, dass ich nicht wie ein Schüler fliege!“
„Na gut, dann lass mich ran. Ich habe seit einer Ewigkeit keines von diesen Dingern gesteuert. Ich fliege bestimmt total krumm und es ist nicht mal gespielt.“
Gesagt, getan: Oliver und Kjomme tauschten die Plätze und nur einen kurzen Moment später meldete sich ein Wachschiff über das Videoterminal: „Was machen Sie da? Sie haben das Schutznetz durchflogen! Identifizieren Sie sich!“
Oliver atmete tief ein und wollte antworten, zögerte aber.
„Nur Ton!“, zischte Kjomme nach vorn: „Mach bloß nicht den Bildkanal auf.“
Oliver drehte sich kurz zu Kjomme um, befolgte dann aber seinen Rat. Er öffnete nur den Ton-Kanal und versuchte, mit etwas tieferer Stimme zu sprechen: „Oh, tut mir leid! Hier ist Leutnant Brown. Mein Flugschüler hatte vergessen, den Durchflug anzumelden. Ich tue dies hiermit. Bitte geben Sie ‚Hochgeschwindigkeitsmanöver‘ als Trainingseinheit an! Vielen Dank!“ Oliver hielt den Atem an, wobei ihm die zwei Sekunden, die bis zur Antwort des Wachschiffs vergingen, wie eine kleine Ewigkeit vorkamen.
„OK. Warten Sie bitte auf die Bestätigung des Oberkommandos.“ Oliver wurde schlagartig kreideweiß. Kjomme kam nach vorn auf den zweiten Pilotensitz geeilt. Auch ihm tropfte bereits der kalte Schweiß von der Schläfe herab auf den Boden. Das Aufschlagen der Tropfen durchschnitt die gespenstische Ruhe wie das langsame Ticken einer Uhr und dröhnte in Olivers Ohren wie ein Dampfhammer.
Nach etwa einer, schier endlosen Minute verlor Kjomme die Nerven: „Gib Gas, Mann! Gib Gas, die kaufen uns das nicht ab! Gib Gas, los!“, aber Oliver sah einfach weiter geradeaus.
Plötzlich sagte er mit ruhiger Stimme: „Sitz gerade und guck entspannt!“ Kjomme sah zunächst mit gerunzelter Stirn zu Oliver herüber, doch dann bemerkte auch er, dass das Wachschiff langsam von rechts in sehr kurzer Distanz genau vor das Cockpitfenster flog. Es war so nah, dass man den Piloten auf der anderen Seite deutlich erkennen konnte. Kjommes Atem wurde lauter und lauter und seine Muskeln verkrampften sich. Der Pilot des Wachschiffs schaltete demonstrativ auf Kampfmodus um und so sahen Kjomme und Oliver wie die Bordkanonen langsam seitlich am Rumpf des Wachschiffs ausgefahren wurden. Der Angriffsdetektor des Steuerungscomputers schaltete sofort auf Alarm und flutete das Cockpit mit seinem penetrant piepsenden Warnsignal.
Kjomme schob seine rechte Hand Stück für Stück weiter in Richtung des Schalters für die Schutzschilde, doch Oliver zischte aus dem Mundwinkel: „Stopp, lass es, Mann. Das ist bestimmt Standardverhaltensregel bei Raumschiffkontrollen.“
Kjomme zog seine Hand ebenso langsam wieder zurück. Doch ein Blick auf den Scanner ließ Kjomme erneut zusammenzucken, denn er erkannte die Signatur eines zweiten Wachschiffs, das sich von hinten nährte. Er sah hinüber zu Oliver, doch der sagte mit ruhiger Stimme: „Hab’s schon gesehen.“, wandte dabei aber seinen Blick nicht vom Schiff gegenüber ab. Jedoch bemerkte Kjomme schnell, dass Oliver wohl gar nicht so abgeklärt war, denn der Zeigefinger seiner rechten Hand lag bereits auf dem Feuerknopf am Steuerhebel.
Oliver beobachtete jede der ständigen Auf- und Ab-, Hin- und Her-Bewegungen des Wachschiffs, mit dem dessen Pilot wohl Überlegenheit demonstrieren wollte. Er wagte es nicht einmal, zu blinzeln, und immer wieder zuckte sein rechter Zeigefinger, während sich das akustische Warnsignal des Angriffsdetektors immer tiefer in sein Nervenkostüm bohrte.
Dann plötzlich wieder eine Nachricht vom Wachschiff: „Alles klar! Genehmigt für zwei Stunden. Melden Sie sich bitte vor dem erneuten Durchflug des Netzes wieder an. Viel Spaß beim Gas geben!“ Oliver schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Das Wachschiff drehte ab und Oliver beschleunigte in den freien Raum hinaus, weg von Rawadian, weg vom Krieg.
Auch Kjomme Anspannung entlud sich: Er übergab sich direkt neben seinen Sitz. Ein leises „Sorry!“, war das Einzige, was er danach noch herausbrachte, während er wieder nach hinten ging und sich seitlich zusammengekauert auf seine Pritsche legte. Oliver zuckte nur ein kurzes Grinsen übers Gesicht, aber innerlich tanzte er vor Freude. Er war frei. Sein Blick streifte über die Steuerkonsole vor ihm: Von der Einhundert-Prozent-Leistungsanzeige der Triebwerke über die grün leuchtenden Kontrolllampen der Hilfssysteme, bis hin zum Navigationscomputer. Die Anzeige der vielen Sternensysteme und deren Entfernungen ließ Oliver aufblickten. Durch das große Cockpitfenster hindurch funkelten die Sterne der Milchstraße, deren Zahl man nicht einmal erahnen konnte. Und irgendwo da draußen war die Erde, unendlich weit weg und doch nur ein paar wenige Steuerungsbefehle und ein paar Flugstunden entfernt. Oliver konnte sich eine Glücksträne nicht verkneifen, auch wenn er wusste, dass in spätestens zwei Stunden eine Sondereinheit der Armee hinter ihm her sein würde.
Er begann sich auszumalen, was er alles anstellen könnte. Er sah sich am berühmten türkisfarbenen Strand von Sirius 7 liegen mit einem Cocktail in der Hand, oder im altehrwürdigen Spielkasino von Monte Carlo sitzen und er fühlte schon den Geschmack einer frischen, echt italienischen Pizza auf seiner Zunge, wie sie man sie nur auf der Erde finden konnte.
Ein paar Minuten später begann Oliver dann wieder mit rationaleren Denkprozessen. Er schaltete auf Überlichtgeschwindigkeit und sah zu, wie die herunterfahrenden Schutzblenden des Cockpitfensters die Aussicht auf die Sterne Stück für Stück verdeckten.
Oliver flog in Richtung Erde, obwohl er wusste, dass er dort nie ankommen würde, ohne verhaftet zu werden. Aber er änderte die Einstellung des Navigationssystems nicht.
Er war jetzt ein Flüchtiger und es war für ihn sehr schwierig, all diese Dinge, die er sich ausmalte, Realität werden zu lassen. Sobald man ihn erkennen würde, wäre Alles aus. Und so begann Oliver vor sich hin zu grübeln und sah hinab auf die rot blinkende Anzeige für die fällige Triebwerkswartung, ganz rechts auf der Steuerkonsole, aber er quittierte sie nicht. Er starrte einfach darauf und ließ die grellroten Lichter vor seinen Augen verschwimmen.
Erst nach einer knappen halben Stunde gab Oliver den Versuch auf, alle nur erdenklichen Szenarien durchzuspielen. Er ging nach hinten, wo Kjomme auf seiner Pritsche eingeschlafen war und leise vor sich hin schnarchte.
„Kjomme wach auf!“ Oliver rüttelte ihn an der Schulter: „KJOMME!“ Oliver schrie fast, aber erst ein Schlag mit der flachen Hand auf die Pritsche, direkt neben Kjommes Ohr brachte Erfolg: Kjomme saß im nächsten Augenblick senkrecht.
„Kjomme, ich hab‘ zwei Fragen: Erstens: Wohin sollen wir fliegen? Zweitens: Wie kommen wir von diesem Schiff runter? Sobald wir in den Sensorbereich eines anderen Schiffes, einer Station, einer Stadt oder was weiß ich was fliegen, wird dieses Schiff hier vermutlich als gestohlen angezeigt werden. Dann war es das!“
Kjomme sah ihn wie versteinert an.
„Ach und noch eine Frage.“, setzte Oliver fort: „Wann räumst Du Deine Mittagessen-Bier-Mischung da vorne weg? Das stinkt erbärmlich!“
„Oh, Sorry! Ich mach‘ das gleich weg.“ Kjomme hielt einen Moment inne und dachte nach: „Also, ich kenne die Gegend hier nicht so gut. Es gibt wohl keine große Station, außer der Bell-Station in der Nähe und da können wir auf keinen Fall hin. Aber da gibt es noch eine kleine Station deren Namen ich vergessen habe, aber das ist so eine alte, systemneutrale Versorgungsstation mitten im Nirgendwo. Ist mehr so ein Schmuggler- und Dealertreff. Vielleicht sollten wir dorthin fliegen und uns ein neues Schiff besorgen. Da haben wir keine großen Kontrollen zu erwarten.“
„Gute Idee!“, sagte Oliver, setzte sich schnell wieder auf den Pilotensitz und stöberte in der Datenbank des Navigationscomputers. Kjomme stand auf und ging nach hinten zum kleinen Abstellraum, um etwas Putzzeug zu suchen.
Plötzlich ging der Annäherungsalarm los. Kjomme kam nach vorne geeilt: „Komm, lass mich fliegen!“, rief er und drängelte Oliver regelrecht vom Pilotensitz. Wieder kehrte Totenstille ins Cockpit ein. Auf der taktischen Konsole erschien dann aber nur ein Frachtschiff, das wohl zufällig den Weg des Shuttles kreuzte.
„Alles klar!“ Kjomme gab Entwarnung und auch Oliver atmete durch.
„Ich hab es!“, rief Kjomme plötzlich. „Ich denke, es ist besser, wenn wir uns hier trennen. Dann ist es viel schwerer, uns zu erwischen. Ich fliege mit dem Shuttle weiter und Du nimmst eine der Rettungskapseln. Du schießt Dich zu dem Frachter rüber und erzählst denen, dass das Shuttle manövrierunfähig sei. Ich fliege dann ein bisschen seltsam, so dass es aussieht, als ob der Steuerungscomputer kaputt wäre. Was hältst Du davon?“
„Soweit ganz gut.“, antwortete Oliver und setzte sich auf den Copilotensessel: „Und Du? wohin willst Du?“
„Mach‘ Dir keine Sorgen! Ich komme schon durch. Du brauchst aber einen anderen Namen. Wie wäre es mit Oliver Lundquist? Ich finde Dich dann schon und lasse Dir ‘ne Nachricht zukommen, OK?“
Oliver sah Kjomme einen kurzen Moment mit festem Blick an, erkannte aber sofort die Entschlossenheit in seinem Gesicht: „OK!“, rief er und rannte nach hinten zu den Rettungskapseln. Aber auf halben Weg hielt er inne und schaute sich noch einmal um: „Und wenn die nach Rawadian zurückfliegen?“, fragte er in der Hoffnung, eine für ihn zufrieden stellende Antwort zu erhalten.
„Na, wollen wir es mal nicht hoffen!“, sagte Kjomme und grinste übers ganze Gesicht.
„Halt die Ohren steif, Alter!“, sagte Oliver, rannte zur Rettungskapsel, stieg ein und betätigte den Abschussmechanismus.