Читать книгу Die Sternenschnüffler - Thomas Manderley - Страница 8
6. Kapitel
ОглавлениеJoe fuhr hinauf zum Commercial-Deck, um seine erste Observierung in Angriff zu nehmen. Dabei gaben ihm die Spiegel im Inneren des Fahrstuhls die willkommene Gelegenheit, noch einmal den Sitz seines Hemdes und seines Haares zu kontrollieren. Doch als der Lift abbremste und langsam zum Stehen kam, stieg Joes Puls rasant an und auch das Atmen fiel ihm deutlich schwerer als sonst. Mit einem flauen Gefühl schaute er auf die bereits in die Jahre gekommene Kabinentür. Sie öffnete sich wie immer mit leichtem Quietschen und den üblichen Klappergeräuschen, doch dieses Mal schien alles viel intensiver und unbarmherziger zu sein.
Der freie Blick auf das Commercial-Deck, auf dem sich wie jeden Tag ein unendlich erscheinender Strom von Kreaturen aus allen Ecken der Galaxie halb geordnet, halb chaotisch vorwärtsbewegte, durchfuhr Joe wie ein eisiger Windstoß. Schwindel überkam ihn und seine Knie schienen unter ihm nachzugeben.
Er war schon auf unzähligen ähnlicher Orbital- und auch Interstellarstationen gewesen und ihm war klar, dass auf fast allen von ihnen viele zwielichtige Gestalten ihr Unwesen trieben: Schmuggler, Diebe, Betrüger, Drogendealer und jede Menge andere Sorten Krimineller. Bisher hatte er sich nicht weiter damit beschäftigt. Er lief einfach durch die Massen und versuchte, nicht anzuecken. Jetzt aber wartete diese Meute als Teil seiner neuen Arbeit auf ihn.
Doch Joe dachte an all die vielen Shows und an das Lampenfieber, kurz bevor er auf die Bühne trat. Und hier war das ja eigentlich ganz ähnlich. Also riss er sich zusammen, trat mit einem beherzten Schritt aus dem Lift heraus und wurde direkt von einem etwa zweieinhalb Meter großen Wesen im schwarzen Pilotenanzug über den Haufen gerannt.
Mit Schwung wurde Joe zu Boden geschleudert und fiel unsanft auf Ellenbogen und Schulter. Er konnte gar nicht so schnell ausmachen, was oder wer ihn da getroffen hatte. Also stand er nach wenigen Sekunden mutig wieder auf, bereit den Schuldigen zur Rede zu stellen, aber als er sich umdrehte, stand da der etwa zweihundert Kilogramm schwere Koloss, der ihn leicht um drei Köpfe überragte und ein tiefes Grollen von sich gab. Dann sagte er etwas zu Joe, das wie eine Mischung aus Hundegebell und einem kaputten Müllschlucker klang. Joe starrte wie gelähmt in die tiefschwarzen, leblos und bedrohlich wirkenden Augen der gigantischen Kreatur.
Dann aber ging der Riese schnell und wortlos weiter, ohne jedoch darauf zu verzichten, Joe noch einen kräftigen Rempler mitzugeben, den dieser nur mit Mühe ausbalancieren konnte.
Joe atmete ein paar Mal tief durch, sammelte erneut seine Kräfte zusammen und trat in den Strom der Vorbeieilenden hinein. Aber schon im nächsten Moment wurde er von ihm regelrecht fortgespült. Joe blieb keine andere Wahl, als einfach mit der Strömung zu schwimmen: Er folgte seinem Vordermann oder ging in die Richtung, in die er von hinten geschoben wurde. Aber bald schon löste sich das Gedränge auf, denn der Weg führte weg vom Bereich der Flugticketschalter und Gates.
Als Joe dann am Laden seiner Auftraggeberin vorbeikam, entdeckte er einen kleinen Coffee-Shop genau gegenüber. Also dachte er sich, dass es wohl das Beste sei, dort erst einmal einen Kaffee zu trinken und dabei, durch die große Glasfront hindurch, den Laden unter Beobachtung zu nehmen.
Gesagt - Getan: Joe öffnete die Tür zum Café, trat ein und im gleichen Moment durchfuhr ein Schreck seinen Körper wie ein elektrischer Schlag und ließ ihn fast zu Eis erstarren: Ein großer, kahlköpfiger Mann mit olivgrüner Haut saß direkt an der Bar und seine großen, roten Insektenaugen starrten Joe direkt an.
„Er kennt mich nicht!“, dachte Joe: „Er kann mich gar nicht kennen!“ und nach einem kurzen, aber intensiven Moment der Selbstüberredung ging er dann doch weiter in den Coffee-Shop hinein, setzte sich an einen Tisch in der hinteren Ecke und bestellte einen Kaffee. Joe konnte geradezu spüren, wie ihn der Fremde mit seinen Blicken verfolgte und er fragte sich, warum die Rollenverteilung sich so plötzlich geändert hatte: Eigentlich sollte er ja ihn beobachten und nicht umgekehrt.
Die Kellnerin kam zu Joes Tisch und der erste Schluck des eigentlich noch viel zu heißen Kaffees wandelte Joes Aufregung auf fast magische Weise in Neugier. Er beobachtete den Fremden, der sich inzwischen mit dem Barkeeper unterhielt. Es bereitete Joe sogar Spaß. Er stand auf, holte sich eines der elektronischen Readboards, auf dem schon die neueste Ausgabe seines Musikermagazins zur Verfügung stand und setzte sich wieder zu seinem Kaffee. Dann versuchte er, die Unterhaltung des Fremden irgendwie mitzuhören, um zumindest herauszubekommen, was das Thema war, oder welche Sprache dort gesprochen wurde. Doch er schaffte es nicht: Er war einfach zu weit entfernt und die Unterhaltungen der anderen Gäste hielten den Geräuschpegel permanent hoch.
Aber Joe fiel zumindest nicht auf und wurde auch nicht als Detektiv erkannt. Er wirkte nach außen hin wie ein Mann, der auf der Durchreise ein wenig Zeit hatte und sich die Langeweile mit einem Kaffee und einer Lektüre vertrieb. Von Zeit zu Zeit sah er auf und warf einen schnellen Blick in Richtung des Fremden, der sich nach wie vor mit dem Barkeeper unterhielt.
Plötzlich wurde Joe klar, dass der Fremde den Barkeeper wohl schon länger kannte, denn die Unterhaltung schien sehr angeregt zu sein und ging offenbar über den üblichen Smalltalk hinaus. Ein erster kleiner Ermittlungserfolg! Joe lehnte sich entspannt zurück in seinen Sessel und nahm einen großen Schluck aus seiner Tasse, wobei sich ungewollt ein großer Schwall des immer noch heißen Kaffes direkt in seine Luftröhre ergoss.
Von einem Augenblick zum nächsten wandelte sich Joes Gesichtsfarbe in ein ungesundes Rot. Er hustete, rang nach Atem. Kaffee lief ihm von hinten in die Nase, die wie Höllenfeuer zu brennen begann. Nichts schien zu helfen. Joe fühlte, wie sich seine Kehle immer weiter zuschnürte.
Inzwischen zog er die Aufmerksamkeit jedes einzelnen Gasts im Café auf sich. Also riss er sich irgendwie zusammen, versuchte, den Atem anzuhalten, stand schnell auf und verschwand auf die Toilette, wo er seinem Husten noch einmal freie Fahrt geben konnte.
Nachdem sich Joe dann für ein paar Minuten auf eines der Waschbecken gestützt und tief durchgeatmet hatte, normalisierte sich sein Zustand langsam wieder. Er blickte auf und betrachtete sich im Spiegel: Seine Haut war blass, seine Augen wirkten milchig und blutunterlaufen und auch die tiefen Ränder darunter waren wieder zu sehen.
Aber Joe wollte jetzt nicht einfach aufgeben: „Los, Joe: Weitermachen!“, sagte er laut zu sich selbst: „Das ist jetzt Dein Job. Du bist jetzt ein gottverdammter Schnüffler.“ Noch ein kurzer Schluck Wasser direkt aus dem Hahn, dann ging Joe wieder hinaus in den Coffee-Shop.
Zu seiner Überraschung standen zwei ältere Damen an seinem Tisch und schienen auf ihn zu warten. Joe begriff die Lage schnell: Die Beiden hatten ihn wohl erkannt und wollten ein Autogramm. Die Katastrophe war also perfekt und um nicht noch mehr Aufsehen zu erregen, bog Joe direkt nach rechts Richtung Tresen ab. Der Fremde saß immer noch an gleicher Stelle und Joe war erleichtert, dass er ihn nicht aus den Augen verloren hatte. Er zahlte seinen Kaffee, ging hinaus und postierte sich an einem Pfeiler, schräg gegenüber dem Eingang, so dass er diesen noch gut im Auge hatte, insofern dies beim Gewühl und der Hektik der voreilenden Leute überhaupt möglich war. Dann betätigte er den Alarm-Knopf in seiner Jackentasche. Oulax hatte ihm diesen kleinen Sender gegeben, damit er sich bei Bedarf unauffällig melden konnte. Im Büro gab es dann ein piepsendes Signal und auf dem Computermonitor erschien der genaue Standort des Senders.
Oulax hatte dieses Ding wohl selbst gebaut, denn es sah nicht aus, als ob man es im Laden kaufen konnte. Er hatte Joe erklärt, dass der Sender ein anderes Frequenzband und eine andere Verschlüsselung benutzen würde als die handelsüblichen Kommunikatoren. So hätten Fremde nicht so einfach die Möglichkeit ‚mitzuhören‘.
Aber Joe war das in diesem Moment vollkommen egal. Er war nur heilfroh, dass er den Sender bei sich hatte und hoffte, dass er auch funktionierte, denn nichts sagte ihm, dass sein Hilferuf auch gehört wurde. Er konnte jetzt einfach nur dastehen, dem Haquriten beim Kaffeetrinken zusehen und von Zeit zu Zeit versuchen, gedanklich den Sekundenzeiger seiner Armbanduhr zu beschleunigen. Dabei betete Joe innerlich, dass weder der Fremde noch seine beiden vermeintlichen Fans plötzlich aus dem Coffee-Shop traten.
Als sich nach ein paar Minuten die Eingangstür zum Café tatsächlich langsam öffnete, stockte Joe für einen kurzen Moment der Atem. Doch aus dem Café kam ein Mann, den Joe gar nicht dort bemerkt hatte. Ein langsames Ausatmen brachte Joes Puls dann wieder zurück auf Normalmaß.
Endlich bog Oliver um die Ecke. Joe deutete kurz und unauffällig mit dem Finger auf den Coffee-Shop und da Oliver dann genau auf die Eingangstür zuhielt, wusste Joe, dass er ihn verstanden hatte und machte sich wieder auf den Weg zum Lift.
Im Büro kam ihm Lora schon mit weit geöffneten Augen entgegen: „Was ist passiert? Warum brauchst Du so schnell Ablösung? Hast Du ihn überhaupt gefunden? Hat er Dich erkannt? Hat ...“
„STOPP!“ Joe schnitt ihr das Wort ab: „Eins nach dem Anderen.“ Er ging zur Sitzecke und ließ sich aufs Sofa fallen, das mit einem leidvollen Krachen antwortete.
„Ich hole uns Wasser!“ Lora ging in die Küche und war nur einen kurzen Augenblick später mit zwei Gläsern und einer Karaffe Wasser wieder zurück. Sie stellte das Tablett vorsichtig auf dem Tisch ab und goss beide Gläser voll.
„Hier, trink! Und dann erzähl, ich bin neugierig!“
Joe saß weiter mit zurückgelegtem Kopf auf dem Sofa und rührte sich nicht.
„Los trink schon!“, befahl Lora und hielt ihm das Glas vors Gesicht. Sie hatte Erfolg: Joe setzte sich auf, nahm das Glas und trank einen kleinen Schluck.
„Gut so!“ Lora stellte das Wasserglas zurück und setzte sich neben Joe.
„Ja, ich habe ihn gefunden und nein, er hat mich nicht erkannt, denke ich zumindest.“, begann Joe mit seinem Bericht: „Eigentlich habe ich ihn sehr schnell gefunden. Ich wollte von einem Coffee-Shop aus Frau Jones’ Laden beobachten und nach dem Hauquriten Ausschau halten, aber als ich in den Coffee-Shop rein bin, war der Typ schon drin.“
„Wow, cool! Und dann?“, fragte Lora weiter, während ihre Augen anfingen zu glänzen, wie die eines Kindes beim Anblick von Süßigkeiten.
„Dann habe ich mich an diesem dämlichen Kaffee verschluckt und zu guter Letzt kamen auch noch Autogrammjäger. Ach, weißt Du: Vergessen wir es! Gott sei Dank ist Alles noch mal gut gegangen und Oliver ist jetzt an ihm dran.“
„Kopf hoch: Du hast Dein Bestes getan und zumindest wissen wir jetzt, wo er ist.“ Lora stand auf und ging wieder in die Küche.
Eigentlich hatte Joe überhaupt keine Lust, sich zu bewegen, aber sein Durst war größer: Er beugte sich vor, nahm sein Glas und trank das restliche Wasser in einem Zug aus.
„Wo ist eigentlich Oulax?“, rief er Lora in die Küche hinterher.
„Hat einen Auftrag irgendwo auf Gesius. Er kommt heute Abend.“
In der Hoffnung auf etwas Essbares stand Joe letztlich doch auf und ging zu Lora in die Küche. Zu seinem Entsetzen sah er, wie diese gerade eine Hand voll tote Käfer durch eine Art Fleischwolf drehte.
„Oh Gott, was tust Du da?“, rief er und in seiner Stimme war das blanke Entsetzen zu hören.
„Zweites Frühstück. Möchtest Du auch was? Das sind Steinschaben, original aus Iridua, meiner Heimat!“
„Nein, danke!“ Joe drehte sich schnell um und ging zurück zum Sofa.
„Joe, probier‘ schon!“, drängelte Lora und lief mit einem Schabensandwich in der Hand im hinter ihm her: „Das ist eine echte Delikatesse! Ich habe mir am Computer das Serviceportal der Station angesehen und bin auf einen Versandhandel für Lebensmittel aus der ganzen Galaxie gestoßen. Und das Beste ist, dass die in null Komma nix liefern.“
„Später vielleicht.“, sagte Joe mit einem Lächeln, um seinen Würgereflex zu unterdrücken.
„Später ist nichts mehr da. Die muss man frisch essen. Also jetzt, oder nie!“
„Na dann nie!“ Joe atmete durch. Er ließ sich wieder aufs Sofa fallen und war froh, aus der Sache heil und ohne weitere Ekelattacken herausgekommen zu sein.
„Ach, Ihr Menschen habt doch keine Ahnung, was gut ist!“ sagte Lora, während sie zurück in die Küche ging, jedoch ohne dabei ärgerlich zu klingen: „Dann bleibt halt mehr für mich übrig.“
Doch Loras Freude währte nicht lange, denn Oulax kam herein: „Rieche ich da Schaben?“ Die Frage klang mehr rhetorisch als ernst. Zudem ging Oulax wortlos an Joe vorbei, direkt in die Küche.
„Hallo Oulax!“, begrüßte ihn Lora mit freudiger Stimme.
„Hallo! Ich war mit dem Auftrag früher fertig als gedacht. Sind die frisch?“
„Na klar, willst Du welche?“
„Na und ob!“
„Oh Mann, zwei von der Sorte! Und wenn es ums Essen geht, muss eben auch mal die Begrüßung ausfallen.“, dachte Joe und blendete sich aus dem Gespräch in der Küche aus. Stattdessen wandte er seine Gedanken seiner Umgebung zu und ließ seinen Blick durch den Raum wandern: Die Wände und das Traggebälk waren immer noch grau und ungemütlich. Auf einigen der metallenen Wandvertäfelungen klebten noch Reste von Papier und Plastik, vermutliche Überbleibsel der aus der Zeit, als der Raum als Lager genutzt wurde. Die Schreibtische mit den Computerterminals in der Raummitte waren zwar sauber und gaben diesem Ort tatsächlich den Charakter einer seriösen Firma, aber die immer noch vorhandene Unordnung auf dem Fußboden machte viel dieses positiven Eindrucks wieder zu Nichte. Verpackungsreste, Mülltüten und auch noch Joes Sachen, die ihm sein Manager zurückgeschickt hatte, lagen verstreut herum, wie in einem unaufgeräumten Kellerabteil.
Da Joe nicht weiter untätig herumsitzen mochte, stand er auf, nahm zwei seiner Koffer und wollte sie in sein Zimmer bringen, doch ein seltsames Piepsen des Computers ließ ihn sein Gepäck wieder abstellen und zu seinem Schreibtisch gehen.
„Was war das?“, fragte Lora, die immer noch mit vollem Mund aus der Küche herbeigeeilt kam.
„Eine Message.“, sagte Joe, ohne seine Augen vom Text auf dem Monitor abzuwenden.
„Von wem?“, fragte Oulax, der auch bereits neben Joe stand.
„Von ’Future World’, so einem Laden für Elektronikteile. Die denken, dass ein Angestellter Ware aus dem Lager klaut und sie dann unter der Hand verkauft. Wir sollen mal vorbeikommen und sehen, ob wir das Lager irgendwie überwachen können.“ Joe blickte auf und drehte sich mit strahlendem Gesicht zu Lora und Oulax um: „Ein neuer Auftrag!“
„Mensch Joe, die Idee mit der Detektei war wohl eine echte Marktlücke. Spitze!“ Lora umarmte Joe, konnte sich dabei aber nicht verkneifen, noch einmal und direkt neben Joes Ohr von ihrem Sandwich abzubeißen, das sie die ganze Zeit versteckt in der Hand gehalten hatte.
Das Knacken der harten Insektenpanzer jagte Joe einen Schauer durch den Körper bis hinein in die Zahnwurzeln, so dass er entsetzt zurücksprang: „Oh Mann, muss das sein? Wie ekelig!“ Lora lachte so sehr, dass sie ihm gar nicht antworten konnte und selbst über Oulax‘ Gesicht huschte ein kurzes Lächeln.
„Ich gehe mal zu dem Laden und schaue, was ich da tun kann. Ich weiß, wo der ist.“, sagte Oulax und machte sich auf den Weg.
„Sorry, aber das war einfach zu verlockend!“, sagte Lora, die endlich wieder sprechen konnte: „Nimm es mir bitte nicht übel.“
„Schon OK! Aber bitte mach das nicht wieder!“
„Werde es versuchen. Aber jetzt lass uns hier mal richtig aufräumen! Das soll doch ein schönes Büro werden, oder?“
Während der nächsten zwei Wochen hielt der Detektivalltag Einzug in das Leben von Lora, Joe, Oliver und Oulax. Die Vier beschatteten den Hauquriten, der eigentlich den lieben langen Tag nichts Besonderes tat. Er saß in Cafés und Bars herum, trank Unmengen Espresso, las ab und zu in einer Sport-Zeitschrift, wobei er immer die echte Druckausgabe bevorzugte, anstatt ein Readboard zu benutzen. Die Nächte verbrachte er in einer Schlafröhre im Stationshotel, die er sich fest angemietet hatte. Oulax hatte es inzwischen geschafft, die Röhre mit einem Temperatursensor, einem Mikrofon und einem Bewegungsmelder versteckt zu überwachen. So war es möglich, die Observierung nachts vom Computer aus durchzuführen, oder besser gesagt: Der Computer überwachte Alles und gab Alarm, sobald sich etwas rührte. Der Hauqurit hatte im Hotel unter dem Namen „Rettam Tnseod“, also „Doesn‘t Matter“ rückwärts, eingecheckt und eine nicht existierende Adresse auf Hauquri, seiner Heimatwelt angegeben. Laut Hotelcomputer arbeitete der Mann als Raumschiffhändler, war aber mit einem normalen Transporter von der Oberfläche eingetroffen. Viel mehr war nicht über ihn herauszufinden, nur dass Frau Jones die Wahrheit gesagt hatte: Er kam jeden Tag genau zwei Mal in ihren Laden, sah sich um und ging dann, ohne etwas zu kaufen, wieder hinaus, um sich erneut seiner offensichtlichen Koffeinsucht hinzugeben.
Im Büro hatte sich hingegen einiges geändert: Es gab inzwischen Farbe an den Wänden, Teppiche, helleres Licht und es lag nichts mehr auf dem Boden herum. Auch ein paar neue Kunden hatten den Weg hinunter in den alten Lagertrakt gefunden: Da war ein Barbesitzer, der vermutete, dass ein Angestellter illegal Schnaps brannte, womit er Recht hatte. Dann war da noch eine fast achtzigjährige Ladenbesitzerin, die vermutete, dass ihr fünfundzwanzigjähriger Mann sie nur wegen ihres Geldes geheiratet hatte und sich hinter ihrem Rücken mit jüngeren Damen vergnügte, womit auch sie Recht hatte. Und da war noch ein junger Mann, dessen seltene Eidechse aus ihrem Terrarium ausgebrochen war und die Station unsicher machte. Da das Tier aufgrund seiner extremen Giftigkeit nicht zum Verzehr geeignet war, wurde Lora mit der Aufgabe betraut, die Eidechse wiederzufinden und bereits nach ein paar Stunden hatte Sie Erfolg: Lora fand sie in der Stationsküche für das Raumschiff-Catering. Das seltene Reptil hatte dort den Hygiene-Inspektor bei dessen Routinekontrolle in den Fuß gebissen. Aber bereits drei Tage später konnte er die Krankenstation wieder verlassen, auch wenn ihm das Laufen noch etwas schwerfiel.
Joe saß allein vor seinem Computer und kontrollierte die Abfluglisten der letzten zwei Tage, denn die fünfzehnjährige Tochter des Stationschefingenieurs war verschwunden. Da dies aber mit erstaunlicher Regelmäßigkeit alle drei Tage passierte, ging Joe nach der Standard-Prozedur vor: Erst einmal sehen, ob sie die Station auf regulärem Weg verlassen hatte. Oulax überprüfte derweil beim Stationslotsen die Abflüge aller sogenannten Systemschiffe, also Wachschiffe, Reparaturschiffe, Ersatzgleiter, und so weiter. Dabei war er schnell fündig geworden und kam zurück ins Büro.
Joe sah nur kurz vom Computer auf: „Und? Wie lief es?“
„Die Kleine hat letzte Nacht wieder ein Reparaturschiff geklaut. Wie sie es jedes Mal schafft, den Sicherheitscode zu knacken, weiß ich noch nicht. So leicht ist das nämlich gar nicht. Und flieg mal so ein Schiff mit nur fünfzehn Jahren. Vielleicht sollten wir sie einstellen?!“
„Und wo ist sie hingeflogen?“
„Wahrscheinlich in irgendeinen Tanzschuppen. Und da wird sie wieder einmal abgestürzt sein. Passiert ja nicht zum ersten Mal.“
„Na und jetzt?“, fragte Joe weiter.
„Jetzt klinke ich mich mal in die Raumverkehrs-Kontrolle ein und versuche den Bordcomputer des Schiffs zu kontaktieren und dann sehen wir weiter.“
Oulax setzte sich an sein Computerterminal und begann zu tippen. Es herrschte Stille. Nur das leise Aufschlagen von Oulax‘ Fingern auf die projizierte Konsole war zu hören. Doch es war laut genug, um Joes Neugier zu wecken: Er stand auf, stellte sich neben Oulax und beobachtete dessen Kunst des Eindringens in gesicherte Computersysteme.
Auf dem Display öffneten sich blitzartig Fenster, um sich kurz darauf wieder zu schließen. Passworteingaben wurden gejagt von Meldungen unzähliger Entschlüsselungsprogramme, die im Hintergrund abliefen. Joe konnte nur verzückt, aber gleichzeitig auch beängstigt staunend, die Augenbrauen hochziehen.
Plötzlich erschien eine Karte von Gesius auf dem Display und ganz im Süden blinkte ein roter Punkt.
„Ich hab’s“ meldete Oulax: „Ich fliege dann mal los und hol sie ab.“ Oulax stand auf und ging zur Tür.
„Warte mal! Wo ist sie denn?“
„Hast Du ja gesehen: Am Südpol. Da gibt es so einen Großtanzschuppen, das ‚Lighthouse’. Da ist zurzeit Polarnacht, das heißt die haben rund um die Uhr auf.“
Oulax stand schon halb in der geöffneten Tür, als Joe ihn abermals aufhielt: „Übrigens hat sich vor ein paar Minuten Oliver gemeldet. Lora ist los, ihn ablösen.“
Oulax antwortete nur mit einem kurzen: „Gut!“, und schon war er wieder aus dem Büro verschwunden.
Lora fuhr hinauf zum Aussichtsdeck, direkt über dem Commercial-Deck. Es führte einmal rund um die Station, aber es gab hier nur wenige kleine Bars und Lounges, dafür aber eine riesige Fensterfront mit scheinbar unsichtbarem Glas.
Als Lora aus dem Lift trat, eröffnete sich ihr ein grandioses Panorama: Gesius lag in strahlendem Blau vor ihr, umrahmt vom tiefen Dunkel des Weltalls. Eine große Stadt war zu sehen und auch einige der hohen Gebäude waren auszumachen. Sie ragten wie dunkle Pfähle aus dem Lichtermeer heraus. Lora wusste nicht genau, welche Stadt das war, aber es schien ihr in diesem Moment auch vollkommen unwichtig zu sein. Sie trat ganz nah an die Glasscheibe vor ihr, um jeglichen Rest der Station aus ihrem Blickfeld zu verbannen und um dieses malerische Bild so intensiv wie nur möglich zu erleben.
Natürlich war sie schon zuvor durchs Weltall gereist und hatte oft die Möglichkeit gehabt, einfach aus dem Fenster zu sehen, doch sie tat es nie. Sie betrat, wie die Meisten, einfach nur das Transportschiff, setzte sich und vertrieb sich irgendwie die Zeit. Dabei hätte sie das vielleicht gar nicht gebraucht, denn Zeit spielte hier keine Rolle. Für Gesius war die Zeit bedeutungslos. Was waren schon Stunden oder Minuten für ihn? Er war einfach da, schwebte im endlosen Raum und all die graue Industrie und der Schmutz der Menschen, dort unten auf der Oberfläche, konnten seinem blauen Strahlen nichts anhaben.
Lora beobachtete ein großes Raumschiff, das gerade von der Station abkoppelte und auf einen Kurs weg von Gesius ging. Es beschleunigte und war nach kurzer Zeit schon nicht mehr zu sehen.
Loras Gedanken führten sie wieder nach Hause, nach Iridua. Sie dachte an all das, was jetzt so weit von ihr entfernt war, so unerreichbar weit weg: Ihr Elternhaus, ihre Familie, ihre Heimatstadt Lyrr, Mutters gesäuerter Madeneintopf. Lora konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten, so sehr sie sich auch bemühte.
Unzählige Sterne funkelten da draußen und auch das Band der Milchstraße durchzog das Weltall wie ein heller Pinselstrich. Lora verfolgte es langsam mit ihren Augen voller Tränen, bis sie an der verschwommenen Reflexion des Monitors mit den aktuellen Abflugzeiten hängenblieb, die sich im Glas des riesigen Panoramafensters widerspiegelte.
„Lora? Alles klar?“, fragte Oliver, der plötzlich neben ihr stand. „Weinst Du? Ist irgendetwas passiert?“
Lora drehte sich langsam zu ihm um: „Nein, Alles bestens. Das ist nur so überwältigend schön!“
„Ich weiß. Mir geht es auch immer so, wenn ich mir einen so wundervollen Planeten aus der Umlaufbahn heraus ansehe. Vor Allem deshalb, weil ich in den letzten fünf Jahren nie so etwas sehen konnte. Ich habe die beste Zeit meines Lebens weggeschmissen für ein paar Kröten, hab im Dreck gelegen und darauf gewartet, dass jemand versucht, mich umzubringen.“ Oliver stellte sich neben Lora direkt ans Fenster und Beide sahen gemeinsam hinaus auf das glänzende Blau von Gesius.
„Und der Hauqurit?“, fragte Lora plötzlich.
„Der sitzt um die Ecke auf einer Bank und liest Irgendwas und das seit einer Ewigkeit. Der macht nichts. Er läuft rum, trinkt Kaffee, setzt sich irgendwo hin und liest, wie immer!“
„Na ja, ich werde mich mal an seine Fersen heften und sehen ... Vorsicht, er kommt!“
Langsamen Schritts und scheinbar komplett entspannt bog der Fremde um die Ecke und ging in Richtung Fahrstuhl.
Lora und Oliver wandten sich ab und vertieften sich in ein imaginäres Gespräch, aber Oliver konnte den Fremden aus dem Augenwinkel heraus gut beobachten. Und sie hatten Erfolg: Der Fremde beachtete sie nicht und ging einfach an ihnen vorbei zum Lift.
Die Fahrstuhltür öffnete sich, eine Energiepistole flackerte im Inneren des Lifts auf und im nächsten Moment brach der Fremde mit brennendem Gesicht zusammen. Das Feuer breitete sich rasend schnell auf seinen ganzen Körper aus, der bereits leblos am Boden lag. Ein zweiter Schuss aus dem Lift heraus schlug direkt neben Lora in einen Stützpfeiler ein, der rot aufglühte wie ein Schmiedeeisen.
Oliver rannte los und riss Lora mit sich. Der nächste Schuss schlug direkt hinter den beiden in den Boden ein. Oliver spürte die Hitzewelle an seinen Beinen, während er mit eingezogenem Kopf und Lora im Schlepptau über das Aussichtsdeck rannte.
„Lauf Lora! Nun lauf doch!“, schrie Oliver, während die nächste Salve dicht an ihm vorbeischoss und in einen Werbe-Screen einschlug, der regelrecht explodierte. Tausende, glühend heiße Glasscherben spritzten in Raum hinein in Richtung Lora, die in Todesangst aufschrie.
„Lora! Lora, bist Du getroffen worden?“.
Lora schrie einfach nur weiter.
Oliver hielt auf den nächstbesten Notausgang zu, stieß die Tür auf, schubste Lora hindurch und sprang selbst hinterher, kurz bevor eine weitere Energieladung direkt hinter ihm in die offene Tür einschlug.
Der Notausgang entpuppte sich als Treppe, die hinab zum Commercial-Deck führte. Mit vollem Schwung stürzten Oliver und Lora abwärts, rutschten, überschlugen sich. Die harten Metallstufen krachten wie Hammerschläge auf ihre Knochen und Gelenke. Erst der untere Treppenabsatz bremste die Fahrt.
„Scheiße!“, schrie Oliver und sah sich um: Lora lag mit zugekniffenen Augen und einer blutenden Wunde an der Stirn auf dem Boden. „Lora bist Du OK?“
Lora antwortete nicht.
„Komm Lora, weiter, sonst sind wir tot: Raus hier und aufs Commercial-Deck. In dem Gewühl ist es viel schwerer, uns zu treffen.“ Oliver packte Lora unter den Achseln und stemmte sie nach oben, bis sie wieder auf ihren wackligen Beinen stand. Dann riss er die Tür auf und zog Lora am Arm hinter sich her, mitten hinein in den Strom der Passanten.
Oliver schlängelte sich durch die Leute, die er wie beim Hindernislauf unsanft zur Seite schob.
Lora stolperte einem schlingernden Anhänger gleich hinter ihm her, wobei sie durch die unvermeidbaren Zusammenstöße mit einigen der Passanten, langsam wieder zu sich kam: „Oliver, was war das?“
„Das war jemand, der uns lieber tot, als lebendig sieht.“
„Aber warum?“
„Ist mir vollkommen egal, warum mich einer erschießen will.“
„Aber wo sollen wir jetzt hin? Vielleicht zum ...“ Ein weiterer Schuss ging knapp an den beiden vorbei und schlug in die Glasscheibe eines Schaufensters ein, die unter der Energieladung wie eine Seifenblase zerplatzte.
Panik brach aus. Alles floh und rannte in jede erdenkliche Richtung gleichzeitig. Leute wurden mitgerissen, umgeworfen und wie Spielzeug zu Boden geschleudert. Immer neue Energiesalven zischten kreuz und quer über das Commercial-Deck: Schreie, Einschläge, glühende Trümmerteile, die wie Brandbomben durch den Raum schossen. Der ohrenbetäubende Lärm zerrte an Loras Trommelfellen, während er sie gleichzeitig wie bei einer Treibjagd voranpeitschte.
Oliver kämpfte sich durch die Massen, ohne nach links oder rechts zu sehen, wurde umgestoßen, fiel auf die Knie, richtete sich wieder auf und schob sich weiter durch das Chaos, bis er mit Lora, deren Handgelenk er fest umklammert hielt, die gegenüberliegende Seite des Commercial-Decks erreichte. Er riss die erstbeste Tür auf, die er zu fassen bekam und schlüpfte gemeinsam mit Lora hindurch.
Einem Zeitsprung gleich fanden sich Lora und Oliver in einem gediegenen Restaurant wieder. Von den grauenhaften Szenen auf dem Commercial-Deck war hier nichts zu spüren: Es gab keine Fenster und die Tür war, bestand aus massivem Holz. Zudem war alles perfekt schallisoliert.
Ein Kellner kam herbeigeeilt: „Wünschen Sie einen Tisch für zwei? Ich muss Sie aber drauf aufmerksam machen, dass unser minimaler Dress-Code ...“
Oliver schob ihn beiseite und rannte los, zwischen den Tischen hindurch weiter zum hinteren Teil des Restaurants, in der Hoffnung auf einen Lieferanteneingang oder etwas Ähnliches. Lora folgte ihm. Ein anderer Kellner stellte sich Ihnen in den Weg, aber Oliver streckte ihn mit einem beherzten Faustschlag nieder. Als er weiterlaufen wollte, verfing er sich in einem Tischtuch und riss es mitsamt dem darauf befindlichen Geschäftsessen herunter.
Lora stolperte über Olivers Beine und fiel direkt in die Arme eines weiteren Kellners, der versuchte Lora festzuhalten, aber sie trat ihm mit aller Kraft auf den Fuß und riss sich los.
Die Gäste waren aufgesprungen und im gesamten Restaurant entstand ein lauter Tumult, aber Oliver und Lora liefen unbeirrt weiter, an der offenen Küche vorbei bis zur Toilette, die sich im letzten Winkel des Restaurants befand.
„Scheiße, hier geht’s nicht weiter, wir müssen zurück!“ rief Lora und wollte wieder losrennen, aber Oliver hielt sie fest.
„Nein! Das geht nicht! Wenn wir umkehren sind wir erst recht tot!“
„Super! Und was nun?“
Loras und Olivers Blicke durchsuchten den Raum nach irgendetwas, das ihnen weiterhelfen konnte, bis Oliver ein Lüftungsgitter bemerkte, das sich in einem großen Metallkanal an der Decke befand: „Los, Lora, rauf da! Aber sei vorsichtig: Vielleicht laufen da auch ein paar Hochspannungskabel durch.“
„Nein, da können wir nicht rein. Da braucht nur einer in den Schacht zu schießen und Ende!“
„Luftschächte sind gegen Energiestöße gesichert, damit sich kein Feuer darüber in der Station ausbreiten kann. Die Energie wird einfach von den Wänden absorbiert. Alle Stationen sind so gebaut.“
Lora atmete tief ein: „OK, dann los!“ Sie stieg auf ein Toilettenbecken, öffnete das Gitter und zog sich hinauf in den Schacht, der gerade mal so groß war, dass man darin in halbwegs aufrechter Haltung knien konnte. Oliver folgte ihr und schloss das Gitter hinter sich.
Durch die feinen Drahtmaschen hindurch konnte er beobachten, wie sich die Tür zur Toilette öffnete und ein maskierter Mann mit einer großen Energiewaffe im Anschlag langsam und leise eintrat. Er lief vorsichtig und fast geräuschlos über die weißen Bodenfliesen, sah sich nur kurz um und feuerte einen Energiestoß direkt auf das Lüftungsgitter.
Der Schacht glühte rot auf, aber wie von Oliver vorhergesagt, konnte die tödliche Hitze nicht nach innen vordringen. Dennoch wurden die Innenseiten der Schachtwände immer heißer. Oliver legte seinen Zeigefinger senkrecht über seine Lippen und Lora bestätigte durch ein kurzes Nicken, dass sie verstanden hatte. Beide nahmen ihre Hände vom Metall und stützen sich so nur auf ihre Knie und Füße, die durch Hosen und Schuhe etwas geschützt waren.
Die Temperatur des Schachtbodens stieg rasant an. Loras Gesicht verkrampfte sich mehr und mehr und auch Oliver erging es nicht besser. Er spürte, wie sich seine Hose an den Knien auflöste und dann seine Haut langsam begann zu verbrennen.
Lora wollte vor Schmerz laut aufschreien, aber sie biss sich auf die Lippen, um es zu verhindern.
Der Mann, unter dem Schacht hielt seine Waffe immer noch auf das Gitter gerichtet. Oliver starrte ihn, trotz unerträglicher Schmerzen, durch das enge Drahtmaschengeflecht hindurch an. Er sah ihm direkt in die Augen: Es waren große gelbe Augen, ähnlich denen einer Katze und sie musterten den Luftschacht mit äußerster Präzision. Oliver sah den Finger des Mannes auf dem Auslöser liegen. Nur ein kurzes Zucken und alles könnte vorbei sein, aber stattdessen ging der Mann genau so leise und mit langsamen Schritten aus der Toilette hinaus, wie er hineingekommen war.
Erst nach einer scheinbar endlosen Zeit ließ das Brennen nach und die Temperatur des Schachtbodens ging nach und nach zurück. Oliver ließ sich auf die Seite fallen und hielt sich seine verbrannten Knie. Auch Lora stütze sich wieder auf ihre Hände, drehte sich und legte sich auf den Rücken, während sie nach Atem rang.
„Lora, alles klar?“, fragte Oliver nach einer kleinen Weile, wobei seine Schmerzen deutlich in seiner Stimme zu hören waren.
„Ja, und bei Dir?“
„Ja, alles klar.“
„So ein Mist! Die Schuppen sind komplett hinüber.“
„Schuppen? Welche Schuppen?“
„Die Hautschuppen an meinen Knien sind total verbrannt.“
„Und heilt das wieder?“
„Na ja, jetzt nicht. Aber in etwa sechs Wochen kann ich mich wieder häuten, dann sind sie weg.“
„Oh Mann, ich fass es nicht.“ Oliver stand wieder auf und als er sich auf seine Knie stütze kam der Schmerz fast mit voller Wucht zurück. Oliver hatte dies jedoch erwartet und riss sich zusammen: „Die werden uns weitersuchen!“ sagte er und bemerkte erst jetzt, da Lora wieder aufstand, deren leuchtend gelbe Hautfarbe: „Lora, ruhig, nur die Ruhe bewahren! Wir bewegen uns jetzt hier drin weiter, OK? Hier verfolgen die uns nicht. Der Schacht muss ja irgendwo hinführen, oder?“
„OK, versuchen wir’s!“
Auf Händen und verbrannten Knien ging es Meter für Meter voran durch den engen Luftschacht, wobei jeder Schritt, jede Bewegung zur schmerzhaften Qual wurde. Zum Glück war das nächste Lüftungsgitter nur etwa zwanzig Meter entfernt und so nährte sich Oliver langsam und nahezu geräuschlos der etwa einen halben Quadratmeter großen Öffnung, um vorsichtig einen Blick durch die Gitterstäbe zu werfen.
„Und? Wo sind wir?“, fragte Lora.
„Ist auch wieder nur ein Klo, wahrscheinlich von irgendeinem anderen Restaurant. Hier können wir nicht runter. Das ist zu gefährlich. Wir müssen weiter.“
„So ein Mist!“
„Das kannst Du laut sagen!“
Inzwischen war auch Lora herangekommen und blickte durch die Schachtöffnung nach unten auf den blau-grauen Fliesenboden, über den sich unzählige Fetzen und Reste von Toilettenpapier verteilten.
„Haben die Typen hier gewütet oder putzen die nicht gern?“
„Keine Ahnung, vielleicht aus beides. Aber egal: Wir sollten hier möglichst schnell verschwinden, bevor jemand reinkommt und uns hier entdeckt.“
„OK. Dann los!“
Lora und Oliver krochen weiter. Nach etwa dreißig Metern mündete der Schacht in einen weiteren, etwas größeren Luftkanal.
Oliver drehte sich um: „Links oder Rechts?“
„Ist mir vollkommen egal! ... Links!“
Oliver bog nach links ab, Lora folgte ihm wortlos.
Langsam wurde der Schacht immer dunkler, denn für eine längere Zeit folgte kein einziges Lüftungsgitter mehr.
Plötzlich begann der Boden zu vibrieren: Erst nur ein wenig, aber dann ließ ein tiefes Grollen den gesamten Schacht erzittern, gefolgt von einem lauten Knall, der wie das Aufeinanderschlagen zweier großer Metallplatten klang.
„Oh Gott, oh Gott, Oliver, was ist das!“, schrie Lora, während sie sich zusammenkauerte und die Hände schützend über ihren Kopf hielt.
„Pssst!“, zischte Oliver nach hinten.
„Wir stürzen mit diesem verdammten Kanal ab!“ Lora wimmerte.
„Natürlich nicht. Auf was Du immer für Ideen kommst?!“
„Aber was war das dann?“
„Das klang wie eine Schleuse und eine Sicherheitstür. Wir sind vermutlich in einen der Ausleger mit den Abflugschleusen für die Kleinschiffe abgebogen, super!“ Oliver klang regelrecht fröhlich und bewegte sich auch gleich viel schneller vorwärts.
Einige Minuten später wurde es wieder heller: Das nächste Lüftungsgitter war erreicht. Oliver nährte sich langsam und lugte vorsichtig durch die Gitterstäbe hindurch nach unten. Dort war tatsächlich eine Abflugschleuse und zu Olivers großer Freude war es die für eines der Stationswachschiffe: klein, schnell und bewaffnet.
„Sieh mal Lora: Ein Schiff, ein kleines Raumschiff, noch dazu ein Wachschiff. Damit machen wir uns unbemerkt aus dem Staub!“
„Gute Idee! Nimm mal das Gitter raus!“
Oliver versuchte, mit aller Kraft das Gitter herauszudrücken und zu ziehen, aber vergeblich.
„Das Gitter ist fest montiert. Das ist wahrscheinlich ein Überdruckgitter, weil der Raum hier evakuiert wird. Das kann man nicht einfach herausheben.“
„Scheiße!“
„Ja, genau: Scheiße!“ Oliver und Lora sahen sich an.
„Und jetzt?“, fragte Lora.
„Wir müssen von der Station runter, sonst finden die uns irgendwann, ist nur eine Frage der Zeit.“
„Du hast Dich doch auch in der Lüftung versteckt, als Du hier ankamst. Wie bist Du denn da hineingekommen? Auch über die Toilette?“
„Nein, über eine Frachtschleuse in einen Lagerraum vom Stationszoll und dann durch ein kaputtes Gitter in die Lüftung. Aber Moment, da fällt mir was ein: So ein Gitter muss doch auch mal repariert werden. Man muss es doch von unten ausbauen können!“
„Ja, sicher!“, sagte Lora: „Also machen wir das Ding kaputt und dann kommt einer zum Reparieren, baut es aus, Du schlägst ihn nieder und wir schnappen uns das Schiff.“
„So weit so gut, aber wie kriegen wir das Ding hier kaputt? Wir brauchen etwas massives!“
„Oder wir verbiegen einfach die Stäbe. Vielleicht merkt das Ding das irgendwie und meldet eine Störung.“ Lora hob beide Arme, soweit es im engen Luftschacht möglich war, ballte beide Fäuste zusammen und wollte gerade mit voller Kraft von oben auf die Stäbe schlagen, doch Oliver hielt im letzten Moment ihre Hände fest.
„Bist Du irre? Das macht doch Krach. Und außerdem hast Du hinterher zwei gebrochene Handgelenke.“
„OK, Schlaumeier. Dann versuch Du es mal geräuschlos!“
Oliver erwiderte nichts, sondern drehte sich trotz der beengten Verhältnisse um, klemmte seine Schuhspitze zwischen die Gitterstäbe und versuchte diese zu verbiegen.
Widererwarten schaffte er es recht schnell und einer der Stäbe brach an einer Seite aus seiner Verankerung.
„Siehst Du: So einfach geht das!“, sagte Oliver mit triumphierender Stimme.
Dann ging der Alarm los, laut und heulend, begleitet von einer roten, rotierenden Warnlampe genau unter dem Luftschacht. Gleichzeitig schoben sich zwei Sicherheitswände links und rechts, nur ein paar Meter von Lora und Oliver entfernt mit lautem Krachen in den Luftschacht hinein.
„Scheiße!“, sagte Lora leise, während sich ihre Hautfarbe wieder mehr einer Zitrone annäherte: „Und was machen wir jetzt?“
„Warten.“, antwortete Oliver: „Warten bis die Stationssicherheit kommt und uns festnimmt. Du hattest Recht: Das Ding hat eine Störung gemeldet, allerdings zusammen mit einem Einbruch.“
„Aber wir müssen doch etwas tun können?“, rief Lora und in ihrer Stimme war die nackte Angst zu hören.
„Nur warten auf den Knast. Bei Dir Frauenknast, bei mir Militärknast, nehme ich an.“
„Zumindest besser, als erschossen zu werden.“, fügte Lora mit gesenktem Blick hinzu. Dann kehrte Stille ein. Lora und Oliver schwiegen einander an. Keiner von ihnen konnte ein Wort sprechen. Nur der fortwährend heulende Alarm dröhnte in ihren Ohren. Jeden Moment musste die Stationssicherheit oder das Militär hereinstürmen, aber niemand kam. Lora hielt sich die Augen zu und atmete tief ein und aus. Aber die grell tönende Sirene und die rotierende Alarmlampe, die unaufhörlich durch die Gitterstäbe hindurch Loras und Olivers Gesichter in gleißendes Rot tauchte, ließen sich auf diese Weise auch nicht vertreiben.
Plötzlich stoppte die Sirene und auch das Alarmlicht erlosch. Lora nahm erstaunt die Hände von den Augen und sah mit angehaltenem Atem durch das Gitter hindurch nach unten. Ein lautes Zischen verriet, dass die Tür zur Schleuse geöffnet wurde und auch Schritte waren zu hören, schwere Schritte. Eine große, kräftige Person musste den Raum betreten haben, allerdings nur eine einzige.
Zu Loras und Olivers Überraschung trat Oulax unter das Lüftungsgitter. Er stellte seinen riesigen Werkzeugkasten neben sich ab, holte eine kleine Lampe heraus und leuchtete von unten in die Verschlussmechanik.
„Oulax! Oulax, wir sind es!“, rief Lora mit zurückhaltender Stimme, wobei ihre gelbe Gesichtsfarbe langsam wieder dem gewohnten Lindgrün wich.
Oulax ließ vor Schreck seine Lampe fallen.
„Psst, leise! Es ist alles OK, lass uns nur hier raus.“, sagte Oliver hörbar erleichtert.
Oulax drehte sich zur Tür und rief: „Ja, ja, wieder einmal der übliche Fehler im Gittersensor. Ich bring das in Ordnung.“ Von draußen kam nur ein dumpfes: „OK“ zurück. Oulax ging schnell zum Eingang, schloss die Tür und nahm dann ein Werkzeug aus seinem Kasten, das wie eine Art verstellbarer Schraubendreher aussah. Er öffnete das Gitter und half Lora und Oliver aus dem Lüftungsrohr.
„Jetzt hol ich Dich schon zum zweiten Mal aus einem Luftschacht. Du liebst die Dinger, oder?“, sagte Oulax in Richtung Oliver, doch dann bemerkte er die Brandlöcher an Loras und Olivers Hosen.
„Was ist Euch denn passiert? Wart Ihr etwa in diese Schießerei auf dem Commercial-Deck geraten?“
„Keine Ahnung wie, aber das Militär hat mich gefunden!“
„Unmöglich!“, entgegnete Oulax in seiner ruhigen, entspannten Art, die aber nur wenig über seinen wirklichen Gemütszustand aussagte: „Absolut unmöglich! Im Zentralregister des Militärs habe ich Dich eigenhändig für tot erklärt. Du bist da nur noch als Ex-Soldat verzeichnet. Und hier im Stationscomputer habe ich Dich als Makler eingetragen. Die können Dich gar nicht gefunden haben!“
„Und wie erklärst Du Dir, dass ein paar Verrückte unseren Hauquriten erschossen haben und gleich danach uns umbringen wollten und das mit einer Kanone, damit knallst Du ein Frachtschiff ab. Und weil es so schön ist, mitten auf dem Aussichtsdeck und dann noch einmal auf dem Commercial-Deck, wo es eine Massenpanik gab. Das hast Du wohl mitbekommen. Ich hoffe nur, es ist niemand getroffen worden.“ Oliver wollte lauter werden, blieb aber beim Flüsterton.
„Hab‘ ich mitgekriegt, aber nur vom Stationslotsen über Funk. Ich bin gerade erst von der Oberfläche zurückgekommen und dann hat man mich direkt hierher gerufen. Und woher habt Ihr die Verbrennungen an den Knien?“
„Wir waren in dem Lüftungsrohr und die Typen haben von unten drauf geschossen. Die Energie ist absorbiert worden, aber heiß wird es dennoch.“, sagte Lora.
„Ihr habt echt Glück gehabt! Gott sei Dank geht es Euch gut. Ich nehme an, Ihr wolltet das Schiff hier nehmen und von der Station verschwinden.“
„Ja genau!“, sagten Lora und Oliver fast gleichzeitig.
„Gute Idee. Also los rein, mit Euch in die Kiste. Aber Oliver, Du musst vorher noch was erledigen.“
„Was denn? Und wieso eigentlich ‚Ihr’? Lora kann doch hierbleiben, oder?“
„Nein. Jemand muss sich um Dich kümmern. Außerdem ist Lora eine Zeugin. Die Typen werden sie jetzt genauso jagen wie Dich.“
Oliver seufzte: „Stimmt! Lora es tut mir so leid!“
„Schon OK, ich würde Dich jetzt so wie so nicht allein fliegen lassen!“
„Du musst die Lampe hier nehmen.“, fuhr Oulax unbeirrt fort und holte eine große, schwere Stablampe aus seinem Werkzeug: „Ich gehe zur Tür, Du schlägst mir von hinten eine über den Schädel und schubst mich raus auf den Gang. Dann steigst Du ein und startest, OK?“
„Ist das Dein Ernst?“
„Ja klar, es muss doch echt aussehen. Ich kann ja nicht rausgehen und erzählen, dass zwei Leute einfach so das Schiff geklaut haben. Es muss nach Überfall aussehen. So kann ich mich da raushalten und versuchen herauszufinden, wie wir das Problem mit dem Militär oder mit wem auch immer lösen können.“
„OK“ sagte Lora: „Und wohin fliegen wir am besten?“
„Zur Station ‚Interspace fünf‘. Das ist ein Mafia-Laden, eine Schmuggler-Station, auf der es eigentlich nur Kriminelle gibt. Nicht mal das Militär wagt sich dort so einfach hin. Also seid vorsichtig, da herrscht Faustrecht!“
„OK, wir melden uns von da.“, sagte Oliver und nahm die Lampe in die Hand.
Oulax ging zur Tür und öffnete sie. Oliver holte aus, aber Oulax drehte sich noch mal um. Die Lampe zischte haarscharf an seiner Nase vorbei.
„Benutzt niemals die normale, öffentliche Kommunikation. Die wird sowieso abgehört. Schickt Briefe mit Frachtschiffen. Da sieht keiner rein. Und Ihr müsst natürlich Eure Kommunikatoren abschalten, sonst orten die Euch sofort.“
„Erledigt!“, meldete Lora.
„Und ich habe gar keinen.“, fügte Oliver hinzu.
„Gut so.“ Oulax sah Lora und Oliver noch einmal eindringlich ins Gesicht und zum ersten Mal sah er wirklich besorgt aus: „Und viel Glück.“
Oulax drehte sich um. Oliver holte aus, zögerte aber zuzuschlagen. Irgendetwas hielt seine Hand zurück. Er konnte es einfach nicht. Vor ihm stand sein Kollege und Freund, der darauf wartete, niedergeschlagen zu werden, und in diesem Moment sah Oliver Kjomme vor sich, den er in seinem Schiff allein gelassen hatte, um sich selbst zu retten.
Plötzlich riss ihm Lora von hinten die Lampe aus der Hand, schlug zu und gab Oulax einen Stoß in den Rücken, so dass er durch die Schleusentür hindurchfiel und unsanft auf dem Boden aufschlug. Dann schnappte sie sich Olivers Arm und zerrte ihn zum Schiff: „Los, Los, weg hier!“
Oliver stand mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund wie angewurzelt da, besann sich aber schnell wieder und stieg mit Lora in das kleine Schiff ein. Er drückte den Startknopf und alle Systeme des Schiffes meldeten sich nacheinander ‚online’. Automatisch wurde die Eingangstür zur Startrampe geschlossen, die vordere Schleuse geöffnet und das Schiff schoss vom Katapult beschleunigt aus der Station. Oliver zündete das Triebwerk und gab ‚Interspace fünf‘ als Ziel in den Navigationscomputer ein.