Читать книгу Barbaren am Rande des Nervenzusammenbruchs - Thomas Niggenaber - Страница 4

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Mit einem leisen Sirren löste sich der Pfeil von der nach vorne schnellenden Bogensehne, bevor er sich seinen Weg durch den Dschungel bahnte. Er schoss zwischen hohen Farngewächsen hindurch, drang durch wild wuchernde Sträucher und durchschlug das große Blatt eines Philodendrons.

Sein Ziel jedoch verfehlte er. Stattdessen traf er den Stamm eines gewaltigen Baumriesens, in dem er fast bis zur Hälfte verschwand. Dann blieb er kurz vibrierend dort stecken.

Tissha – die Tochter von Khelea, Herrscherin der Amazonen – fluchte. Sie fluchte wesentlich lauter und derber, als es sich für eine Prinzessin geziemte. Glücklicherweise war niemand zugegen, dem ihre deftigen Kraftausdrücke die Schamesröte ins Gesicht hätten treiben können. Auch die Gestalt, welche sie nur schemenhaft durch das Dickicht hatte huschen sehen, war längst schon wieder verschwunden. Das plötzliche Auftauchen dieses Schattens hatte sie zu dem Schuss verleitet, den sie daraufhin reflexartig, voreilig und mit mangelnder Sorgfalt abgegeben hatte.

Sein Misslingen war jedoch nicht der Grund für ihren Ärger. Sie ärgerte sich über ihr törichtes, unbesonnenes Handeln, das einer erfahrenen Kriegerin wie ihr ganz sicher nicht zur Ehre gereichte. Der Pfeil hätte ihre Beute schwer verletzen oder sogar töten können und das entsprach nicht ihren Absichten. Ihre Intention war es, das entlaufene Haustier möglichst wohlbehalten und weitestgehend unversehrt nach Hause zurückzubringen. Immerhin gehörte es ihrer Mutter und die wäre bestimmt nicht erfreut darüber, wenn Tissha ihrem kleinen Liebling eine ernsthafte Verletzung zufügen würde. Eine solche Fehlleistung würde ihrem Ansehen und ihrem Ruf als Jägerin vielleicht sogar nachhaltigen Schaden zufügen können.

Sie atmete die schwere, feuchte Luft des Urwalds tief ein und spülte ihren Ärger damit hinunter, während sie sich selbst zur Ruhe gemahnte. Es gab keinen Grund zur Eile. Ihre Beute konnte ihr nicht entkommen – nicht hier, nicht in diesem dicht bewachsenen, schwer zu durchdringenden Labyrinth. Nicht mal ein Wesen mit der Geschmeidigkeit einer Schlange und der Gewitztheit einer Maus hätte sich hier fortbewegen können, ohne eine deutlich sichtbare Spur zu hinterlassen. Wie hätte dies also eine Kreatur vollbringen sollen, die so plump, grobschlächtig und zudem recht einfältig war wie jene, die sie verfolgte?

Zügig, doch sorgsam die Umgebung im Auge behaltend, setzte Tissha deshalb die Verfolgung fort. Zerbrochene Äste, geknickte Blätter und zertretenes Moos wiesen ihr dabei den Weg durch den Dschungel, in den aufgrund des dichten, hoch über ihr wuchernden Blätterdachs nur wenig Licht drang. Dieses Zwielicht beeinträchtigte die Amazone in ihrem Bestreben jedoch wenig. Sie hatte schon unter weitaus widrigeren Umständen gejagt und vermochte es sogar in dunkelster Nacht, einer Spur zu folgen. Dagegen war diese Jagd das reinste Kinderspiel. Mitunter hatte ihre Beute einen so komfortablen Pfad durch das Dickicht gepflügt, dass sie diesem mühelos und schnellen Schrittes folgen konnte, was sie natürlich auch tat.

Einige Zeit später fand dieses rasche Fortkommen jedoch ein jähes Ende. Noch immer konnte Tissha die Fährte eindeutig erkennen, doch nun führte sie durch eng verwachsenes Gestrüpp und über das oberirdisch wachsende, gewaltige Wurzelwerk der riesenhaften Bäume hinweg. Sie schulterte deshalb ihren Bogen, zog den Krummsäbel aus ihrem Gürtel und nahm den anstrengenden Teil der Verfolgung auf.

Sie schlug sich durch verworrenes, oftmals dorniges Geäst, erklomm meterhohe, moosbewachsene Wurzeln und ließ sich an seildicken Kletterpflanzen wieder herab. Sie sprang, kletterte, kroch und lief über viele Kilometer hinweg, ohne ein Anzeichen der Erschöpfung zu zeigen.

Selbst ihre Kleidung aus braunem, gehärtetem Leder geriet aufgrund dieser körperlichen Aktivitäten nicht aus der Form. Weder die hohen Stiefel noch der kurze Rock verloren ihren perfekten Sitz. Sogar das äußerst knappe Mieder, das ihre üppigen, wohlgeratenen Formen nur mit Mühe und Not zu bändigen schien, verrutschte um keinen Millimeter.

Das Dasein als Amazone hatte halt so seine Vorteile. Wie für alle Angehörigen ihres Volkes galten nämlich für Tissha ganz eigene physikalische Gesetze. Aus diesem Grund saß ihre Garderobe immer einwandfrei und die Schminke in ihrem makellosen Gesicht wurde niemals von Schweiß oder anderen Einflüssen verunstaltet. Auch ihr volles, blauschwarz schimmerndes Haar sah deshalb immer so aus, als hätte sie es gerade eben erst gekämmt – außer natürlich der Wind zerzauste es ihr in einer Art und Weise, die sie romantisch wild und überaus gut aussehen ließ.

Im Dschungel war es jedoch windstill, weshalb Tissha bald auch tadellos frisiert eine kleine Lichtung erreichte. Auf deren gegenüberliegenden Seite erspähte sie endlich das entlaufene Haustier. Erstaunlicherweise stand selbiges seelenruhig und mit dem Rücken zu ihr da, während es seine Notdurft in einen weiß blühenden Holunderbusch verrichtete. Von dieser Tätigkeit gänzlich vereinnahmt, hatte es die Ankunft der Amazone überhaupt nicht bemerkt.

Tissha grinste und schüttelte den Kopf – auf die Idee, während einer Flucht eine Pinkelpause einzulegen, konnte auch nur ein Mann kommen. Während sie einen Pfeil auf die Sehne ihres Bogens legte, näherte sie sich ihrer Beute behutsam. Noch einmal würde ihr dieser Kerl nicht entkommen. Ein wohlgezielter Schuss ins Bein sollte dies notfalls verhindern und stellte ja auch keine nennenswerte Beschädigung dar.

»Hab dich!«, rief sie, als sie sich ihrem Ziel bis auf wenige Meter genähert hatte. Der Schreck ließ den blonden, hageren Burschen heftig zusammenzucken und seine bislang sprudelnde Quelle schlagartig versiegen.

»Pack dein Gehänge ein, wir gehen heim.«

Hektisch verstaute der Mann seine Preziosen wieder in seinem Lendenschurz. Dann wendete er sich mit erhobenen Händen der Amazone zu. Bestürzt stellte diese fest, wie sehr ihm die Flucht durch den Dschungel geschadet hatte. Neben unzähligen kleinen Verletzungen und Abschürfungen, die seinen verschwitzten, ausgemergelten Körper zierten, war es natürlich der viele Schmutz, der das ausgeprägt ästhetische Empfinden der Amazone störte.

»Nun sieh dich doch nur mal an«, sagte sie weiterhin auf ihre Beute zielend. »Meine Mutter wird stinksauer sein, wenn ich dich so zurückbringe. Deine Tage als ihr Lieblingsgespiele sind wohl vorüber. Den Rest deines Lebens wirst du wahrscheinlich mit dem Verrichten niederer Arbeiten verbringen müssen. Für einen Mann ist das immer noch mehr als angemessen, wenn du mich fragst.«

Tisshas Worte schienen ihr Gegenüber gar nicht zu erreichen. Resigniert und mit leerem Blick starrte der dürre Knabe, der vielleicht gerade mal zwanzig Jahreswechsel erlebt hatte, sie an. Offensichtlich wurde ihm die Sinnlosigkeit seines Handelns nun bewusst und er erkannte, dass es für ihn kein Entkommen gab.

»Ist mir egal«, stellte er mit kraftloser Stimme fest. »Töte mich einfach, wenn du willst, denn zurückgehen werde ich auf gar keinen Fall. Ich möchte lieber tot als weiterhin ein Sklave sein.«

Etwas verblüfft musterte die Amazone das Häufchen Elend. Dessen Erschöpfung beeinträchtigte ganz offensichtlich auch sein Denkvermögen.

»Nun übertreib mal nicht«, bat sie, ihrer Stimme eine gewisse Sanftmut verleihend. »Warum solltest du sterben wollen? Euch geht es doch gut bei uns! Eure Käfige sind sauber und geräumig, ihr bekommt ausreichend Nahrung und gezüchtigt werdet ihr auch nur, wenn ihr es verdient habt. Vor dir ist deshalb auch noch nie eines unserer Haustiere auf die dumme Idee gekommen, solch ein behütetes Leben gegen die Gefahren und Mühseligkeiten der Freiheit tauschen zu wollen.«

»Ich bin ja auch kein Haustier!« Der Tonfall ihrer Beute wurde forscher, fast schon aufmüpfig, was Tissha überhaupt nicht gefiel. Scheinbar mit neuer Kraft erfüllt richtete sich der Bursche auf. »Ich bin ein freier Mann! Ich besitze einen eigenen Willen und habe als Individuum das Recht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen! Habe ich denn keinen Anspruch auf eigene Wünsche, Träume und Ziele im Leben? Soll es mir denn auf ewig verwehrt bleiben, mich selbst zu verwirklichen?« Er drückte seinen eingefallenen Brustkorb nach vorn, so als würde er ihn Tissha anbieten wollen. »Also los, Amazone, jage deinen Pfeil in mich! Dann sterbe ich zumindest als freies Wesen und für meine Überzeugung. Du jedoch wirst damit weiterleben müssen, dass du einer aufgeklärten, emanzipierten Existenz ein Ende bereitet hast.«

Tissha zog ihre wohlgeformte, dunkelrot geschminkte Oberlippe nach oben und verlieh damit ihrer Verwunderung Ausdruck. Das Mannsbild hatte vermutlich soeben mehr Worte von sich gegeben als in seinem gesamten bisherigen Leben. Üblicherweise beschränkten sich die Äußerungen der Haustiere auf rudimentäre Satzgebilde wie »Habe Hunger!«, »Will schlafen!« oder »Nicht hauen!«. Zudem hatte sie noch nicht einmal die Hälfte dieser komplizierten und in ihren Ohren frei erfunden klingenden Wortgebilde verstanden.

All das ließ sie schlussfolgern, dass dieses Männchen krank war und sie es vielleicht doch besser von seinen Qualen erlösen sollte. Vorher wollte sie aber noch mal nachschauen, ob es auch äußerliche Anzeichen einer Erkrankung an ihm gab.

Vorsichtig, allzeit bereit, den Pfeil auf ihrem Bogen seiner tödlichen Bestimmung zuzuführen, trat sie nahe an den vermeintlich Kranken heran. Mit dessen Dreistigkeit und Respektlosigkeit hatte sie jedoch nicht gerechnet.

Sein rechtes Bein schoss empor und traf ihre linke Schulter, sodass ihr Bogen zur Seite gedrückt wurde. Aufgrund der Erschütterung entwand sich die Sehne ihrem Griff und ihr Schuss löste sich. Nur um wenige Zentimeter verfehlte der Pfeil den blonden Burschen, der daraufhin mit einem Hechtsprung im Gebüsch verschwand.

Wieder stieß Tissha ein paar Flüche aus, die selbst eine Hafendirne in Schockstarre versetzt hätten. Dabei rieb sie sich ihre schmerzende Schulter. Krank hin, krank her – dieser Kerl malträtierte ihren zarten Geduldsfaden weit mehr, als es seiner Gesundheit zuträglich war. Ihn für sein ungebührliches Verhalten büßen zu lassen und seinen Kadaver als abschreckendes Beispiel vor den anderen Haustieren zu präsentieren, dieser Gedanke gewann für sie zunehmend an Attraktivität.

Sie nahm einen weiteren Pfeil aus ihrem Köcher und sondierte die Umgebung. Dieser Urwald war ihr wohlbekannt, weshalb es ihr auch schnell bewusst wurde, wohin der weitere Verlauf dieser Jagd sie beide führen würde. Das kopflos fliehende Männchen würde schon sehr bald einen Teil des Dschungels erreichen, der zu einem großen Teil überschwemmt und dessen Boden morastig, instabil und überaus tückisch war. Darüber hinaus beherbergte dieses Sumpfgebiet einige recht unfreundliche Kreaturen, auf deren Speiseplan auch Zweibeiner ihren Platz hatten. Wenn die Amazone also noch irgendwas von ihrer Beute mit nach Hause nehmen wollte, würde sie sich sputen müssen. Ohne noch länger zu zögern, folgte sie deshalb dem Flüchtenden weiter.

Noch nicht mal hundert Meter war sie seiner Spur gefolgt, als seine verzweifelt klingenden Hilferufe an ihr Ohr drangen. Trotz des zunehmend feuchter und schlammiger werdenden Untergrunds beschleunigte sie ihre Schritte, die sie dennoch geschickt und mit viel Bedacht setzte. Einen Fehltritt wollte sie natürlich vermeiden, denn sollte sie im Morast stecken bleiben, würden Jägerin und Gejagter nur noch im Duett um Hilfe schreien können.

Dank ihrer Erfahrung erreichte sie jedoch ohne Zwischenfälle das ausgedehnte Sumpfloch, welches schon fast einem kleinen See glich und in dessen trübem Wasser der blonde Bursche hilflos herumpaddelte. Der irrigen Annahme folgend, sie durchschwimmen zu können, war der Idiot einfach in die schmutzig braune Brühe gesprungen. Nun steckte er wahrscheinlich in dem schlammigen Boden fest, der sich unter der Wasseroberfläche verbarg. Selbige reichte ihm bereits bis zur Unterlippe.

»Na du Individuum?«, rief Tissha ihm hämisch grinsend zu. »Wie lebt es sich denn so frei und selbstbestimmt?«

»Bitte hilf mir!«, jammerte ihre Beute, anstatt auf ihre Frage zu antworten. »Meine Füße stecken im Schlamm fest und ich weiß nicht, wie lange ich meinen Kopf noch über Wasser halten kann!«

Die Amazone stieß einen schweren Seufzer aus. »Siehst du, Männeken, das ist der Grund, warum wir euch nicht frei herumlaufen lassen. Es ist noch nicht mal einen halben Tag her, dass du aus deinem Käfig geflohen bist und schon steckst du in einer aussichtslosen Lage. Ihr Männer seid einfach zu blöd – zu blöd sogar, um durch einen Wald zu rennen.«

»Bitte!«, flehte der Blondschopf erneut. Obwohl er versuchte, sich mit Schwimmbewegungen über Wasser zu halten, drang immer wieder etwas davon in seinen Mund. Seine Worte wurden deshalb immer wieder von Husten und Spucken unterbrochen. »Wenn du mir hilfst, werde ich mit dir zurückgehen, ohne Widerstand zu leisten.«

Tissha dachte über sein Angebot nach. Die Versuchung in ihr, ihn einfach absaufen zu lassen, war angesichts seiner unverschämten Taten natürlich groß. Andererseits wollte sie nur ungern mit leeren Händen vor ihre Mutter treten und ein lebendiger Mann war wesentlich leichter aus einem Sumpfloch zu bergen als eine Leiche. Zudem würde sie ein lebendiges Haustier nicht schleppen müssen. Was sie mit dem impertinenten Knaben anstellen würde, wenn sie erst mal wieder zu Hause waren, diese Frage ließ sie für den Moment offen.

»Also gut«, entschied sie deshalb. »Ich hol dich da raus, obwohl du es nicht verdient hast. Solltest du diesen Akt der Barmherzigkeit nicht zu schätzen wissen, werde ich die Bäume ringsum mit deinen Innereien schmücken.«

Mit kleinen, vorsichtigen Schritten arbeitete sich Tissha an das Sumpfloch heran. Dieses war begrenzt von einem etwa drei Meter breiten Streifen aus zähem Schlamm, der unter ihren Füßen sofort nachgab. Sie trat deshalb wieder zurück und schätzte die Entfernung zu dem im Wasser planschenden Burschen sorgsam ab. Dessen Sprung hatte ihn über den Schlammstreifen hinweg noch ungefähr zwei Meter weiter ins Wasser befördert. Die Amazone nahm dies mit einer gewissen Achtung zur Kenntnis. Die Leistungsfähigkeit seiner Beine überstieg die seines Gehirns scheinbar erheblich.

Dies gereichte ihm allerdings nun zum Nachteil, denn ohne Hilfsmittel würde ihn Tissha nicht aus seiner Notlage befreien können. Sie sah sich nach einem geeigneten Gegenstand um, fand jedoch nur einen dicken, etwa zweieinhalb Meter langen Ast. Wenn sie ihn damit aus dem Wasser ziehen wollte, würde sie den Rest der Distanz mittels Körpereinsatz überwinden müssen.

»Ich fasse es nicht«, knurrte sie leise, während sie ihre Waffen ablegte. Dann ließ sie sich bäuchlings in den Matsch nieder, um ihr Gewicht darauf möglichst gleichmäßig zu verteilen. »Alles nur wegen einem dämlichen, ungehorsamen Haustier.«

Den Ast in ihrer Linken haltend und begleitet von einem schmatzenden, schlürfenden Geräusch schob sie sich langsam vorwärts, dem Wasser entgegen. Ein Versinken in der breiigen Masse verhinderte sie so, doch als sehr angenehm empfand sie diese Art der Fortbewegung nicht. Der nasse, kühle Schlamm heftete sich an ihre Haut und drang in den Ausschnitt ihres Mieders. Dann schob er sich zwischen ihre Brüste, wo er als dicker, feuchter Klumpen hängen blieb. Diese Methode der Brustvergrößerung sagte Tissha überhaupt nicht zu, zumal sie so etwas ganz und gar nicht nötig hatte.

Kurz bevor sie das Wasser erreichte, hielt sie erschrocken inne. Ein paar Luftblasen waren einige Meter hinter dem blonden Burschen aufgestiegen. Die Amazone glaubte, dort auch eine Bewegung unter der Wasseroberfläche gesehen zu haben. Soweit es ihr möglich war, richtete sie ihren Oberkörper auf, um besser und weiter sehen zu können. Ein großer Schatten, der nahe der Oberfläche durch das Wasser glitt, bestätigte ihren Verdacht: Eine unangenehme und höchstwahrscheinlich hungrige Überraschung näherte sich von dort. Das kurz darauf auftauchende, gelbgrüne Paar Reptilienaugen überzeugte sie vollends von der Notwendigkeit, sich von dem Männchen verabschieden zu müssen. Da sie unbewaffnet und nicht sicher war, ob ein so mageres Kerlchen einem Krokodil als Hauptspeise genügen würde, trat sie den Rückzug an.

»Ist wohl nicht dein Tag heute!«, rief sie derweil dem ahnungslosen Blondschopf zu.

Dieser sah sie nur verständnislos und aufgrund ihres Rückzugs äußerst beunruhigt an. Von der eigentlichen Gefahr hatte er noch gar nichts mitbekommen. Tissha ersparte es sich, ihn über diese zu informieren. In wenigen Augenblicken würde er ohnehin darüber Bescheid wissen. Sie konzentrierte ihre Bemühungen lieber darauf, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen, was ihr auch recht schnell gelang.

Während sie sich abseits des Schlammes wieder erhob und ihre Waffen anlegte, fiel jeglicher Schmutz von ihr ab wie welkes Laub von einem Baum. Die ganz speziellen Naturgesetze ihrer Rasse sorgten dafür, dass sie innerhalb von Sekunden wieder so aussah, als wäre sie soeben einem duftenden Schaumbad entstiegen. Wieder einmal verspürte Tissha in sich diese tiefe Dankbarkeit dafür, dass sie als Amazone auf die Welt gekommen war.

Ein lauter, doch sehr kurzer Schrei lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Geschehnisse im Sumpfloch. Dort, wo vor wenigen Augenblicken nur der Kopf des entflohenen Haustieres aus dem Wasser gelugt hatte, rangen nun zwei seltsam ineinander verschlungene Gestalten miteinander. Sie tauchten ab und wieder auf, drehten sich umeinander wie bei einem wilden Tanz und zerwühlten dabei die schmutzige Brühe um sich herum. Diese schoss in kleinen Fontänen empor und spritzte wirr umher, sodass Tissha die zwei Wesen in ihrem tödlichen Reigen nur undeutlich erkennen konnte. Hin und wieder erspähte sie eine menschliche Hand aus dem Wasser ragen. Dann wieder ein Bein und manchmal auch ein riesiges, weit geöffnetes Maul voller scharfer Zähne oder einen um sich peitschenden, geschuppten Schwanz.

All das dauerte freilich nicht lange. Dann beruhigte sich die Wasseroberfläche wieder, bis auf ein paar Luftblasen, die leise auf ihr zerplatzten. Während das Braun des trüben Wassers sich zusehends in ein dunkles Rot verwandelte, beobachtete die Amazone das Sumpfloch wachsam und mit schussbereitem Bogen. Sie konnte jedoch keinerlei Anzeichen dafür ausmachen, dass dem gefräßigen Reptil der Sinn nun nach einem Nachschlag stand. Stattdessen entschwand es als schemenhaftes Gebilde in den Tiefen des Sumpflochs.

»Na, Weltklasse«, bemerkte Tissha, als sie den Fetzen Stoff erblickte, der von kleinen, roten Wellen getragen langsam auf sie zutrieb. Mehr als dieser Lendenschurz war von dem Haustier ihrer Mutter nicht übrig geblieben. »Dich sammle ich jetzt ganz sicher nicht ein. Ohne Inhalt nutzt du meiner Mutter nämlich herzlich wenig.«

Sie sah noch einmal dorthin, wo sie den blonden Jüngling das letzte Mal erblickt hatte. »Das hast du nun von deinem albernen Freiheitsdrang«, murmelte sie nachdenklich. »Ich würde zu gerne wissen, welcher Irrsinn es war, der diese widernatürliche Sehnsucht in dir geweckt hat.«

Sie wandte sich zum Gehen, doch eine Bewegung, die sie aus den Augenwinkeln heraus wahrnahm, ließ sie innehalten. Auf einem der Bäume in ihrer Nähe entdeckte sie eine ungewöhnlich große Krähe, die sie aufmerksam zu beobachten schien. Nur ganz selten verirrte sich ein Vogel dieser Art so weit in den Süden. Tissha nahm von seiner Anwesenheit darum auch voller Erstaunen Notiz. Darüber hinaus wurde ihr erst jetzt klar, dass sie sich schon seit einer geraumen Weile beobachtet gefühlt hatte. Aufgrund der sich überschlagenden Ereignisse hatte sie dieses Gefühl jedoch verdrängt.

»Was machst du denn hier?«, fragte sie sanft. »Folgst du mir schon länger?«

Sie legte ihren Kopf dabei etwas schräg und die Krähe tat es ihr umgehend gleich. Es sah so aus, als würde der Vogel ihre Bewegung imitieren. Die Amazone lächelte. Offenbar war diese Kreatur von einer gewissen Intelligenz beseelt.

»Hast wohl gedacht, hier würden ein paar leckere Stücke Aas für dich abfallen«, vermutete Tissha, die über das Fressverhalten von Krähen selbstverständlich Bescheid wusste. »Da muss ich dich leider enttäuschen – die schwimmende Handtasche hat alles komplett aufgefressen.«

Ihr Gesprächspartner antwortete natürlich nicht. Er senkte seinen Kopf und hob gleichzeitig seine Flügel etwas an, was beinahe einem Schulterzucken glich. Dann breitete er plötzlich seine Schwingen aus und erhob sich in die Lüfte. Ein lautes Krächzen ausstoßend, das wie ein Abschiedsgruß klang, flog er nach Norden davon.

Tissha sah ihm gedankenverloren nach. Warum nur hatte sie das Gefühl, dass sie diesen schwarz gefiederten Gesellen wiedersehen würde?

Barbaren am Rande des Nervenzusammenbruchs

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