Читать книгу Barbaren am Rande des Nervenzusammenbruchs - Thomas Niggenaber - Страница 6

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Femaltosa, die Hauptstadt des Amazonenreichs, lag vor ihr.

Sie hatte soeben den Rand des Dschungels erreicht, sodass sie in der Ferne bereits die ersten Gebäude durch das dichte Blattwerk der Bäume erspähen konnte. Nur ein paar sanfte, mit saftigem Gras bewachsene Hügel trennten sie noch von ihrem Ziel. Hinter diesen streckten sich Türme, Häuser, Säulen und Tempel aus Marmor oder hellem Kalkstein empor. Der Schein der Mittagssonne verlieh diesen Bauwerken das Aussehen schneeweißer, in ein Tuch aus grünem Samt gebetteter Juwelen – ein Anblick, der normalerweise für ein wohliges Gefühl der Heimkehr in Tissha sorgte.

Dieses Mal trübte jedoch ihre glücklose Jagd dieses Empfinden. Ihre Mutter würde es bestimmt nicht sehr erfreut zur Kenntnis nehmen, dass sie ohne das entflohene Männchen heimkam. Dass sich ihr liebster Gespiele zurzeit seinen Weg durch die Verdauungsorgane eines Krokodils bahnte, würde der Königin wohl noch viel weniger gefallen. Schon jetzt bedauerte Tissha den armen Kerl, der den Zorn ihrer Mutter zu spüren bekommen würde. Aber für solche Anlässe gab es ja schließlich die Prügelknaben, von denen sich nahezu jede Amazone einen hielt.

Eine Strafpredigt würde aber auch Tissha nicht erspart bleiben, weshalb sie ihren Weg nur mit wenig Begeisterung fortsetzte. Schnell erreichte sie dennoch die breite, mit hellen Steinen gepflasterte Straße, die sich durch die Hügel wand und in die Stadt hineinführte. Dass sie niemandem begegnete, während sie gemächlich auf dieser einherging, wunderte sie nicht. Nur selten verließ jemand Femaltosa südwärts in Richtung Dschungel. Die Wege nach Westen oder Norden aus der Stadt heraus wurden weit häufiger genutzt.

Als sie jedoch die ersten Gebäude erreichte und noch immer keine lebende Seele entdecken konnte, wurde sie stutzig. Die sonst so betriebsame Ortschaft war wie ausgestorben. Noch nicht einmal irgendwelche Geräusche drangen aus den zwei- oder mehrstöckigen Wohnhäusern.

Während sie zwischen diesen weißen, mit prächtigen Balkonen versehenen Bauwerken hindurchging, suchte sie vergeblich nach einer Erklärung für diese ungewohnte Stille. Es war ein ganz normaler Tag und keiner dieser Feiertage, die von den Amazonen mit dem Huldigen ihrer Göttinnen verbracht wurden. Die prunkvollen, aus hohen Säulen und marmornen Dächern bestehenden Tempel, an denen sie vorbeiging, waren deshalb auch allesamt menschenleer.

Wo waren dann also all ihre Schwestern? Gab es irgendeine Schlacht, von der sie nichts wusste? Der Feldzug gegen die Barbaren war doch abgesagt worden, noch bevor sie sich aufgemacht hatte, um das entlaufene Haustier wieder einzufangen.

Auf einer Kreuzung, in deren Mitte sich klares Wasser aus einem großen, runden Brunnen ergoss und kaskadenförmig an selbigem herunter plätscherte, blieb sie stehen. Sie hatte eine Bewegung zu ihrer Linken wahrgenommen. Doch es waren nur ein paar Männchen, die man mit der alltäglichen Säuberung und Pflege Femaltosas beauftragt hatte. Schweigend und mit gesenkten Häuptern, so wie es sich für das Mannsvolk gehörte, verrichteten sie ihre Arbeit. Einige fegten die Straßen, andere putzten die Fassaden der Gebäude und wieder andere kümmerten sich um die sorgsam arrangierten Blumenbeete, von denen eine Vielzahl das Stadtbild verschönerte. Die Amazonen legten halt großen Wert darauf, dass ihr urbanes Umfeld ebenso perfekt war wie sie selbst.

Tissha setzte ihren Weg in Richtung Stadtmitte und somit zum Palast der Königin fort.

Von dort drang bald ein lautes Raunen und Gemurmel zu ihr, das offenbar von einer großen Menschenmenge verursacht wurde. Irgendetwas Ungewöhnliches schien dort vor sich zu gehen und das erregte großes Interesse in ihr. Von der Neugier getrieben beschleunigte sie also ihren Schritt.

Sie durchquerte mehrere Parkanlagen, lief an dem beeindruckenden, von Arkaden umkränzten Amphitheater vorbei und erreichte zügig die Allee, die geradewegs zum Herrschaftssitz ihrer Mutter führte. Sorgsam zurechtgestutzte Zypressen und imposante Statuen, die zumeist berühmte Kriegerinnen darstellten, säumten abwechselnd diesen breiten Pfad. Erst nachdem sie diesem eine Weile lang gefolgt war, konnte sie die unzähligen Amazonen erkennen, die den weitläufigen Platz vor dem Palast bevölkerten. Scheinbar sämtliche Einwohnerinnen dieser Stadt hatten sich dort ohne ersichtlichen Grund versammelt.

Sie blieb einen Augenblick lang stehen und betrachtete verblüfft die vielen Hundert Frauen, die sie zum Großteil persönlich kannte. Deren Aussehen entsprach natürlich ausnahmslos dem gestrengen Schönheitsideal der Amazonen. So wie auch Tissha waren sie alle hochgewachsen, schlank und durchtrainiert, ohne dabei übermäßig muskulös zu wirken. An Oberweite besaßen sie angesichts ihrer grazilen Körper erstaunlich viel, doch nicht so viel, dass es zu üppig erschien oder die Ästhetik ihrer tadellosen Erscheinungen störte. Ihre allesamt anmutigen Gesichter, die samtene Haut und ihr volles, glänzendes Haar komplettierten dieses Bild typischer Amazonen. Makel oder Schönheitsfehler kannten die Angehörigen dieses Volkes nicht. Ihre Herkunft machte sie immun gegen Mängel dieser Art.

»Gibt es hier etwas umsonst?«, fragte Tissha eine ihrer Artgenossinnen, nachdem sie sich in das Getümmel begeben hatte. Es war Kihna, eine blond gelockte Kriegerin, an deren Seite sie schon oftmals gekämpft hatte. »Oder was treibt ihr alle hier?«

»Prinzessin!«, rief die blonde Amazone überrascht und aufgeregt. »Gut, dass Ihr hier seid. Etwas Außergewöhnliches geschieht gerade im Palast, etwas, das es vorher noch nie gegeben hat. Sossha ist mit ein paar anderen Kriegerinnen vor die Königin getreten, um einige Maßnahmen bezüglich der Verbesserung unserer Lebensbedingungen einzufordern.«

»Verbesserung unserer Lebensbedingungen?« Tissha sah verwirrt drein. Sie kannte Sossha sehr gut, schon als Kinder hatten sie zusammen gespielt. »Was gibt es denn an unserem Leben zu verbessern? Wir haben doch alles, was wir für ein sorgenfreies Dasein benötigen: Nahrung im Überfluss, eine wunderschöne, saubere Stadt, Kleidung und jede Menge Schminkutensilien. Die Männer erledigen jede anstrengende oder schmutzige Arbeit für uns, wenn sie sich nicht gerade um ein anderes Bedürfnis kümmern müssen, das unsereins so haben könnte. Was bitte soll man da noch verbessern?«

Kihna zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung! Ein paar Mädels haben aber erzählt, Sossha gäbe schon seit einigen Tagen seltsame Dinge von sich. Sie wolle sich für Gleichberechtigung einsetzen, hätte sie gemeint, was immer das auch bedeuten soll. Einige der Schwestern waren aber wohl ihrer Meinung und haben sich ihr angeschlossen. Vor einer Stunde sind sie dann gemeinsam in den Palast marschiert, um ihre Forderungen zu stellen.«

Die Blondine lachte laut auf. »Stellt Euch das doch nur einmal vor – gewöhnliche Amazonen nehmen sich das Recht heraus, irgendwelchen Blödsinn von der Herrscherin zu fordern. So eine Unverschämtheit hat es in unserer Geschichte bislang noch nie gegeben. Es würde mich nicht wundern, wenn Eure Mutter sie umgehend hinrichten ließe. Wenn wir Glück haben, werden sie ja vielleicht sofort hier auf diesem Platz gevierteilt.«

»Ach, deshalb seid ihr alle hier zusammengekommen«, vermutete Tissha. »Die Sensationsgier hat euch herbeigelockt.«

Ihre Gesprächspartnerin nickte eifrig. »Na klar! Ein solches Schauspiel will sich natürlich keine von uns entgehen lassen. Wir Amazonen sind Kriegerinnen – aber wir sind auch Frauen!«

Die Prinzessin lächelte, obwohl die Sorge um ihre Freundin aus Kindheitstagen sie bereits ergriffen hatte. Sollte es Sossha tatsächlich gewagt haben, die Königin mit irgendwelchen unsinnigen Anliegen zu behelligen, war es um ihr Weiterleben wahrhaftig nicht gut bestellt. Ihre Mutter war beileibe nicht für ihre Nachsicht oder Mildtätigkeit bekannt.

Ohne weitere Verzögerung bahnte sie sich deshalb ihren Weg durch die Menge zum Palast, dem beeindruckendsten und gewaltigsten Bauwerk der Stadt. Mächtige Säulen umgaben diesen rechteckigen Bau aus weißem, grau geädertem Marmor, der auf einem hohen, reich ornamentierten Sockel ruhte. Sie trugen das flache Satteldach, dessen Stirnseite mit kunstvollen, lebensgroßen Reliefs verschiedener Göttinnen und legendärer Kriegerinnen verziert war. All das hatte solch enorme Ausmaße, dass es bei niedrigem Stand der Sonne einen großen Teil der Stadt in Schatten tauchte.

Dieser Pracht jedoch keinerlei Aufmerksamkeit schenkend hastete Tissha die breite Treppe empor, die zum Eingang des Palastes führte. Die zwei Amazonen, die das riesige Tor flankierten, standen bei ihrem Anblick stramm und salutierten, indem sie das untere Ende ihrer langen Speere einmal auf den Boden schlugen. Ihre Augen blickten dabei stur geradeaus an der Prinzessin vorbei. Auch ihre Köpfe, auf denen sie bronzene, mit einem Kamm aus Pferdehaar verzierte Helme trugen, verharrten starr und regungslos.

Dieses Gebaren gehörte ebenso zu ihrer Tätigkeit als Palastwache wie ihre Gewandung, die sich deutlich von der herkömmlichen Kleidung der Amazonen unterschied. Üblicherweise trugen die Angehörigen dieses Volkes leichte, recht knappe Lederrüstungen oder weiße, nicht immer blickdichte Tuniken, die ihnen maximal bis zu den Knien reichten. Lederstiefel oder hoch geschnürte Sandalen waren indes das verbreitetste Schuhwerk. Die beiden Wächterinnen mussten jedoch Schilde und Harnische aus Metall tragen. Allerdings bedeckten diese Rüstungen auch nur einen äußerst geringen Teil der gesamten Körperfläche. Ihren Nutzen im Kampf hätte deshalb wohl auch jeder halbwegs erfahrene Krieger infrage gestellt.

Nachdem Tissha das Tor durchschritten und den Thronsaal betreten hatte, vernahm sie auch schon das unverkennbar durchdringende, enervierende Geräusch streitender Amazonen. Auf der gegenüberliegenden Seite des pompösen, über fünfzig Meter langen Saals sah sie ihre Mutter auf ihrem goldenen Thron sitzen. Ein Dutzend hektisch plappernder, wild gestikulierender Frauen stand vor der Königin. Diese hatte ihren rechten Ellenbogen auf die Armlehne gestützt und ihre Stirn in ihre Handfläche gebettet. Tissha kannte sie gut genug, um zu wissen, dass diese Körperhaltung unter Umständen das erste Anzeichen eines bevorstehenden Blutvergießens sein konnte.

Mit großen Schritten eilte sie darum dem Thron entgegen. Der widerhallende Klang, den ihre Stiefel auf dem spiegelglatten Marmorboden verursachten, ließ ihre Mutter aufblicken und alle anderen Anwesenden verstummen.

»Meine Tochter!« Königin Khelea atmete erleichtert auf. »Wie froh ich bin, dich zu sehen. Bitte befreie mich von diesen hohlen Tussen, bevor ich ihnen eigenhändig die Hälse umdrehe!«

Die anwesenden Amazonen sahen sie entrüstet an.

»Verzeiht, Eure Majestät, aber so despektierlich dürft selbst Ihr uns nicht behandeln!«, echauffierte sich Sossha.

Wie Tissha es von ihr gewohnt war, trug sie eine schwarze, mit Nieten besetzte Lederrüstung und dazu passende, hohe Stiefel. Zusammen mit ihren feuerroten Haaren, die sie straff nach hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, verlieh ihr dieser Aufzug ein recht strenges Aussehen.

Die Königin in ihrer blütenweißen, mit silbernen Stickereien versehenen Robe schaffte es dennoch, wesentlich mehr Dominanz auszustrahlen. Jede einzelne Faser ihres Körpers schien die Verkörperung herrschaftlicher Macht und Autorität zu sein.

»Schweig, Sossha!«, befahl sie. »Du stehst ohnehin schon kurz davor, ein paar deiner Gliedmaßen einzubüßen. Die Meute vor dem Palast wartet schon sehnsüchtig darauf, dich in möglichst viele Teile zerlegt bewundern zu dürfen.«

»Jetzt beruhigt euch alle mal ein bisschen«, schlug Tissha vor, während sie sich neben den Thron und somit an die Seite der Königin stellte. »Um was geht es denn hier überhaupt?«

Ihre Mutter stieß ein verächtliches und von Herzen kommendes Schnaufen aus. Obwohl sie schon fast ein halbes Jahrhundert alt war, gab es in der tiefschwarzen Mähne auf ihrem Kopf kein einziges graues Haar. Nach Falten suchte man in ihrem ebenmäßigen Gesicht ebenfalls vergebens. Nur etwas härtere, reifere Züge hatten die Jahre in ihrem Gesicht hinterlassen, was sie zwar von den jüngeren Frauen unterschied, ihre Attraktivität aber in keiner Weise schmälerte. Körperlicher Verfall und das Vergehen von Schönheit setzte bei Amazonen halt erst nach dem Tod ein.

»Ja, Sossha«, sagte sie grimmig. »Um was geht es denn hier eigentlich? Sei doch so gut und erkläre es meiner Tochter. Warum seid ihr noch mal hergekommen?«

Die rothaarige Amazone räusperte sich und dachte kurz nach, als würde sie einen auswendig gelernten Text aus ihrem Gedächtnis abrufen. »Wir sind hierhergekommen, um uns für die Einsetzung einer demokratisch gewählten Gleichstellungsbeauftragten auszusprechen. Für die Förderung und Durchsetzung unserer Interessen halten wir ein solches Amt für unabdingbar. Die Gleichberechtigung der Frau in unserer Gesellschaft muss vorangetrieben werden.«

»Genau!«, rief eine brünette Kriegerin zu ihrer Linken. Sie reckte ihre rechte Faust in die Luft. »Für den Feminismus und gegen das Patriarchat!«

Ihre Begleiterinnen begannen zu applaudieren, einige gaben auch Rufe der Zustimmung von sich. Die hohen Wände des Saals reflektierten und verstärkten diese Geräusche, sodass sie zu einem ohrenbetäubenden Lärm wurden.

Tissha warf der Königin einen fragenden Blick zu. Doch Khelea blickte nur ebenso fragend und hochgradig genervt zurück. Sogar einen Ausdruck der Ratlosigkeit glaubte die Prinzessin in den Augen ihrer Mutter erkennen zu können. Warum sich diese noch so ruhig verhielt und nicht schon längst ein paar Hinrichtungen befohlen hatte, war Tissha ein Rätsel.

»Gleichberechtigung der Frau in unserer Gesellschaft«, wiederholte sie langsam die Worte Sosshas, so als würde sie sich jeden Buchstaben davon auf der Zunge zergehen lassen. »Falls es euch entgangen sein sollte – unsere Gesellschaft besteht eigentlich nur aus Frauen! Wer soll denn da ungleich behandelt werden? Wir halten uns Männer als Haustiere und Sklaven, wenn die jetzt hier stehen würden, könnte ich das ja noch verstehen.« Sie wandte sich an die Amazone mit dem braunen Haar. »Und was bitte ist ein Feminiesmuß oder ein Patz… Patzi… Patziachat?«

»Keine Ahnung«, lautete die Antwort. »Ist mir gerade so eingefallen. Aber ist auch egal. Wir brauchen auf jeden Fall jemanden, der sich für unsere Rechte einsetzt. In Zukunft könnte es ja irgendwie zu Diskriminierungen oder Herabwürdigungen von Frauen kommen. Dann muss sich diese Person dem entschlossen entgegenstellen.«

»In Zukunft?« Sossha zeigte ein hohes Maß an Empörung. »Was heißt denn hier in Zukunft? Verzeih, Schwester, aber es liegt ja wohl schon heute einiges im Argen. Warum, zum Beispiel, müssen wir alle so leicht bekleidet rumlaufen? Wir sind doch nicht dafür da, um irgendwelche voyeuristischen Neigungen zu befriedigen!«

Wieder erfüllte zustimmendes Murmeln den Saal.

»Ihr könnt euch doch kleiden wie ihr wollt«, wandte die Königin ein. »Was kann denn ich dafür, dass ihr alle den gleichen Modegeschmack habt? Von mir aus könnt ihr auch bodenlange Gewänder oder Hosen tragen. Die Säcke, in denen unsere Männchen Kartoffeln transportieren, würden euch bestimmt auch gut stehen.«

Sossha schüttelte den Kopf. »Hosen oder lange Gewänder? Bei den Temperaturen draußen? Nee, das ist viel zu warm und kämpfen kann man in solchen Klamotten auch nicht anständig.« Sie sah an sich herab und strich sanft über ihre lederne Kleidung. Ganz offensichtlich fand sie selbst viel Gefallen an selbiger. »Aber unsere freizügige Bekleidung gibt den Männern noch lange nicht das Recht, uns mit lüsternen Blicken zu belästigen. Ihr solltet mal sehen, wie mich die Haustiere manchmal aus ihren Käfigen heraus anstarren – einfach entwürdigend.«

»Na ja«, meldete sich nun eine weitere Amazone zu Wort. Die Tunika, die sie trug, war bis zu ihrem Bauchnabel hin ausgeschnitten. »Das stört mich eigentlich weniger. Wenn es mir dann doch mal zu viel wird, bekommt der Bursche einfach ein paar Hiebe mit der Peitsche übergebraten. Wenn er jedoch ansehnlich ist, nehme ich ihn meist mit in meine Gemächer.«

Die anderen Amazonen kicherten leise, doch Sossha schien nicht amüsiert zu sein.

»Ja aber das kann es doch nicht sein!«, ereiferte sie sich. »Außer roher Gewalt haben wir doch keinerlei Handhabe, um sie in ihre Schranken zu weisen. Na gut, vielleicht noch Essensentzug, Strafarbeiten oder andere seelische Folter – aber das war es dann auch schon. Diese Burschen haben einfach zu wenig Rechte. Man beraubt uns somit der Möglichkeit, sie mit rechtlichen Einschränkungen zu maßregeln oder uns wenigstens für ein solches Vorgehen zu engagieren. Vielleicht sollten wir mal darüber reden, wie wir dies ändern können.«

Erneut fanden Sosshas Worte Anklang bei ihren Mitstreiterinnen. Neben sich vernahm Tissha das leise Aufseufzen ihrer Mutter.

»Wartet!« Die Prinzessin ließ ihren Blick über die vor ihr stehenden Amazonen gleiten. »Ihr wollt den Männern mehr Rechte geben, um euch dann dafür einsetzen zu können, dass man ihnen diese wieder beschneidet? Missstände erschaffen, um sich gegen sie auflehnen zu können – wie bekloppt ist das denn bitte?«

Da ihr bereits der Nacken vom vielen Kopfschütteln schmerzte, wartete sie nicht auf eine Antwort. Sie hatte ohnehin mehr als genug von dieser sinnfreien Diskussion.

»Überhaupt ist eure ganze Vorstellung hier eine einzige Lachnummer! Eure Argumente sind nur ein großer Haufen Koboldkacke! Wir Frauen herrschen uneingeschränkt über das Land der Amazonen – jetzt und auch in Zukunft. Wir herrschen über das Land und über jeden einzelnen seiner männlichen Einwohner. Wir können tun und lassen, was wir wollen; wir können anziehen, was wir wollen und wir können unsere Haustiere behandeln, wie wir wollen. Wie kommt ihr durchgeknallten Weiber also auf diese völlig hirnrissige Idee, irgendeine von uns könnte dem anderen Geschlecht gegenüber benachteiligt werden? Gleichstellungsbeauftragte – was genau stimmt denn mit euch nicht?«

Die selbst ernannten Frauenrechtlerinnen sahen betreten und schweigend zu Boden. Offenbar vermochten sie es nicht, den Ausführungen Tisshas irgendwas entgegenzusetzen. Nur Sosshas Streitlust schien noch ungebrochen zu sein.

»Was du sagst, stimmt leider nicht so ganz«, verkündete sie trotzig und mit siegessicherer Miene. »Es gibt da etwas, das ausschließlich den Männern vorbehalten ist. Warum genießen nur sie das Privileg, unterdrückt zu werden? Was ist, wenn sich auch eine Frau in die Sklaverei begeben möchte? Wird uns dieses Recht auf freiwillige Knechtschaft etwa nicht verweigert?«

Tissha legte ihren Kopf leicht schräg und formte ein mitleidiges Lächeln mit ihren vollen Lippen. »Ernsthaft, Sossha? Jetzt wird es aber wirklich lächerlich, oder?«

Sie sprach nicht weiter, weil etwas an der rothaarigen Amazone ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Sie trat ganz nahe an selbige heran und untersuchte ihr Gesicht mit zusammengekniffenen Augen.

»Was hast du denn da?«

»Wo?« Sossha betastete vorsichtig ihre Wangen. Als eine ihrer Fingerspitzen auf eine kleine, rötliche Erhebung stieß, riss sie ihre Augen weit auf. »Was … was ist das?«

Ihre Begleiterinnen taten es Tissha gleich und mit neugierigen Blicken taxierten sie das Antlitz ihrer Rädelsführerin.

»Das ist ein Pickel!«, stellte die Amazone in der weit ausgeschnittenen Tunika plötzlich voller Bestürzung fest.

Alle anwesenden Frauen wichen vor Sossha zurück, als wäre sie soeben in Flammen aufgegangen. Einige schlugen sich entsetzt ihre Hände vor den Mund, andere begannen sogar hysterisch zu kreischen. Selbst Khelea zuckte erschrocken auf ihrem Thron zusammen.

»Das ist unmöglich!«, rief sie erschüttert. »Wir sind Amazonen – wir bekommen keine Pickel!«

Auch Tissha hatte sich rückwärts ein paar Schritte von ihrer Freundin entfernt. »Aber da ist einer, ganz eindeutig! Ich habe solche Wucherungen schon mal bei Männern gesehen.«

»Das ist ja schrecklich!«, schluchzte nun die brünette Amazone mit bebender Stimme. Die Furcht trieb ihr die Tränen in die Augen »Ist das etwa ansteckend? Könnten wir etwa auch solche widerwärtigen Verunstaltungen bekommen?«

Das erste Mal seit Anbeginn der Zeit sahen sich die Amazonen mit einer Hautunreinheit konfrontiert. Die anwesenden Frauen gerieten aufgrund dessen in Aufruhr. Sie plapperten wild durcheinander, verliehen lautstark ihrer Besorgnis Ausdruck oder stellten Vermutungen darüber an, wie es zu der Deformation Sosshas kommen konnte. Stimmen wurden laut, dass es jetzt vielleicht sogar zu weiteren, anderen Missbildungen kommen könnte. Grauenerregende Wörter wie Krähenfüße, Tränensäcke oder gar Krampfadern wurden hinter vorgehaltener Hand geflüstert.

Die Geschädigte selbst sah indes hilfesuchend um sich. Ganz eindeutig hatte sich eine leichte Panik ihrer bemächtigt, wofür unter den gegebenen Umständen auch wirklich jede Amazone Verständnis gehabt hätte. Nach einer Weile gelang es ihr jedoch, ihre Fassung wieder zu erlangen. Beeindruckt stellte Tissha fest, dass Sossha nun sogar versuchte, einen Nutzen aus ihrem furchtbaren Schicksalsschlag zu ziehen.

»Da könnt ihr mal sehen, liebe Schwestern, wie sehr wir in dieser Gesellschaft auf unser Äußeres reduziert werden!«, rief sie in der Absicht, das eigentliche Thema dieser Zusammenkunft wieder in den Vordergrund zu rücken. »Seht doch nur, wie immens euch mein kleiner Makel verunsichert. Das ist das Ergebnis eines völlig übertriebenen Schönheitswahns, der uns Frauen seit unserer Geburt aufgezwungen wird. Wollt ihr euch etwa weiter diesem Diktat beugen?«

Die von ihr erwünschte Resonanz blieb aus. Zu geschockt waren ihre Mitstreiterinnen von dem Anblick ihres entstellten Gesichts. In ihren Köpfen gab es neben ihrer Betroffenheit und Furcht derzeit keinerlei Platz für andere Gedanken.

»Gib es auf, Sossha«, forderte die Königin deshalb mit triumphierendem Lächeln. »Für deinen Gleichberechtigungs-Mumpitz interessiert sich hier nun wahrlich niemand mehr.«

Mit kraftvoller Stimme wandte sie sich an die anderen Anwesenden. »Aber, liebe Schwestern, was sollen wir jetzt tun? Wir wissen nicht, was Sossha befallen hat. Ist es eine Krankheit? Vielleicht sogar eine Seuche? Wäre es ratsam, Sossha frei herumlaufen zu lassen, obwohl wir nicht wissen, woran sie leidet und ob es ansteckend ist?«

Sie warf ihrer Tochter einen vielsagenden Blick zu und diese verstand sofort, was ihre Mutter nun von ihr erwartete.

Während im Saal über die Fragen der Königin nachgedacht oder beratschlagt wurde, trat Tissha vor ihre ahnungslos dreinblickende Freundin. Mit einem kurzen Blick in die Runde vergewisserte sie sich davon, dass Sossha auf keinerlei Beistand der anderen Kriegerinnen mehr zählen konnte.

»Tut mir echt leid, Herzchen«, drückte sie dann ihr aufrichtiges Bedauern aus.

Mit einem kraftvollen, technisch einwandfrei ausgeführten Kinnhaken schickte sie die rothaarige Amazone anschließend zu Boden. Die anderen Frauen verstummten und sahen auf die Bewusstlose herab.

»Bringt sie in ihre Gemächer!«, befahl die Königin. »Sperrt sie dort ein, bis wir mehr über ihr seltsames Leiden herausgefunden haben. Nehmt aber den Hinterausgang, die Menge vor dem Palast soll von alledem nichts mitbekommen.«

Mit ernster Miene und finsterem Blick musterte sie jede einzelne ihrer Untertaninnen im Saal. »Und was euch betrifft: Ich weiß nicht, welcher Irrsinn sich in eure Hirne geschlichen hat und warum ihr Sossha gefolgt seid. Auch mit euch stimmt irgendwas nicht, das ist mal sicher. Also werdet ihr in den nächsten Tagen eure Häuser auch nicht verlassen. Darüber hinaus will ich nie wieder etwas von Gleichberechtigung, Femminisstuss oder so einem Quatsch hören. Sollte eine von Euch meinem Befehl nicht Folge leisten, werde ich mir aus ihrer Haut ein paar neue Handschuhe oder einige andere modische Accessoires machen. Gleiches gilt natürlich für den Fall, dass ihr irgendjemandem davon erzählt, was hier heute vorgefallen ist. Habt ihr die Worte eurer Königin vernommen?«

Genau in dem Maße eingeschüchtert, wie Khelea es beabsichtigt hatte, bekundeten sämtliche Anwesenden die Kenntnisnahme ihrer Ansage. Niemand wagte es noch, irgendwelche Einwände zu äußern. Danach hoben drei der Amazonen ihre bewusstlose Rädelsführerin vom Boden auf. Wie befohlen trugen sie diese aus dem Palast, unbemerkt von der Masse Amazonen, die sich vor dem Haupteingang versammelt hatte. Nachdem auch die restliche Anhängerschaft Sosshas den Saal verlassen hatte, waren Mutter und Tochter endlich allein.

Khelea erhob sich von ihrem Thron und begann, unruhig hin und her zu gehen. Der Saum ihrer langen königlichen Robe schliff dabei leise über den grauen Marmorboden, ohne dabei schmutzig zu werden.

»Da ist was faul im Staate der Amazonen«, sinnierte sie. »Im Staate der Amazonen und ich befürchte auch in anderen Teilen der Welt. Ich spüre das schon seit Längerem. Nur deshalb habe ich diese aufrührerischen Weiber nicht sofort hinrichten lassen. Irgendeine bisher unbekannte Macht oder so etwas scheint von ihnen Besitz ergriffen zu haben. Vielleicht können sie gar nichts dafür, dass sie plötzlich so seltsame Gedanken hegen. Vielleicht ist mein Volk wirklich von einer unheilvollen Seuche befallen. Die Nachricht der Barbaren, dass sie ihren Feldzug gegen uns nicht führen wollen, war auch so ein ungewöhnliches Vorkommnis.«

Sie stieß ein kurzes, humorloses Lachen aus. »Barbaren die nicht kämpfen wollen – das ist wie Regen, der nicht fallen will, Wind, der nicht wehen oder eine Sonne, die morgens nicht aufgehen möchte. Jetzt dieses seltsame Verhalten Sosshas samt ihrer Gefolgschaft und das fürchterliche Ding, das ihrem Gesicht entsprossen ist. Was hat das nur zu bedeuten?«

Sie wandte sich ihrer Tochter zu und verschränkte die Arme vor der Brust. »Lass mich raten: Mein entlaufenes Haustier konntest du auch nicht wieder einfangen.«

»Es ist lieber in den Tod gegangen, als in seine gemütliche Sklaverei zurückzukehren«, gab Tissha die Geschehnisse in äußerst verkürzter Form wieder. »Für mich völlig unbegreiflich.«

Weitere Details über die Ereignisse im Dschungel behielt sie lieber für sich. Selbige waren nicht unbedingt wichtig und ließen sie auch nicht gerade in einem guten Licht dastehen. Ihre Mutter gab sich erstaunlicherweise mit dieser knappen Erklärung zufrieden, was eigentlich so gar nicht ihrem herrischen Naturell entsprach. Anscheinend beschäftigten sie andere Sorgen weit mehr, als es das Ableben ihres Haustiers tat.

»Also befällt der Wahnsinn auch die niederen Lebensformen«, stellte sie lediglich fest. »Aber da ist noch etwas.«

Sie machte eine lange Pause, so als wäre ihr das, was sie nun zu sagen gedachte, peinlich. Es trotzdem auszusprechen, schien sie einiges an Überwindung zu kosten.

»Ich hatte letzte Nacht einen seltsamen Traum. Ich träumte davon, dass alle Lebewesen Archainos in Frieden zusammen leben würden. Es gab keine Gewalt, keinen Krieg und keinen Streit mehr zwischen den Völkern. Männer und Frauen waren gleichgestellt, sie hatten alle die gleichen Rechte und lebten in Harmonie und Eintracht zusammen. Nie zuvor hatte ich einen gruseligeren Albtraum wie diesen.«

»Das klingt wirklich schauderhaft«, stimmte Tissha ihr zu. Es befremdete sie sehr, dass ihre Mutter sich die Blöße gab, über so persönlich Dinge wie ihre Träume zu reden. »Aber du hast jetzt nicht vor, mir dein Herz auszuschütten, oder?«

Khelea bedachte sie mit strafenden Blicken. »Rede keinen Unsinn, Kind! Ich habe diesen Traum nur erwähnt, weil ich glaube, dass er eine tiefere Bedeutung hat. Vielleicht ist er ein Omen – eine Warnung vor weiteren seltsamen Ereignissen, die uns in Zukunft heimsuchen könnten. Ich möchte deshalb, dass du zu den Elfen reist, um mehr über diesen Traum und die heutigen Geschehnisse herauszufinden. Wie du sicherlich weißt, gibt es unter den Spitzohren einige äußerst fähige Wahrsager und Orakel. Ihre mystische Verbundenheit mit der Natur lässt sie Dinge sehen, welche den Angehörigen anderer Völker verborgen bleiben. Darüber hinaus sind sie die einzigen Wesen Archainos, die so etwas wie eine sensible Seite haben. Wenn jemand etwas über Emotionen oder Gemütszustände weiß, dann sind sie es.«

»Muss das denn wirklich sein?« Tissha verzog mürrisch ihre Mundwinkel. »Elfen sind die größten Weicheier dieser Welt. Mit ihnen zu reden ist unglaublich nervig. Ewig jammern sie rum, wie grausam die Welt doch sei und dass jedes Leben wertvoll wäre, unabhängig von Rasse oder Herkunft. Einen anständigen Kampf wissen diese Luschen gar nicht zu schätzen. Die kämpfen nur, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt. Ich bekomme echt Migräne, wenn ich mich länger als ein paar Minuten mit denen unterhalten muss.«

Khelea stemmte ihre Hände in die Hüfte und baute sich vor ihrer Tochter auf. »Wenn du nicht möchtest, musst du meinem Befehl natürlich nicht folgen. Warum solltest du auch? Ich bin ja nur die Königin und darüber hinaus auch noch deine Mutter! Letzteres muss mich dann allerdings auch nicht in meiner Entscheidung beeinflussen, wen ich für den Verlust meines liebsten Haustieres in handliche Würfel schneiden lasse.«

Früh am nächsten Morgen verließ Tissha die Stadt auf dem Rücken ihrer fuchsroten Stute, um dem Volk der Elfen einen Besuch abzustatten.

Barbaren am Rande des Nervenzusammenbruchs

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