Читать книгу Gwenaëlle - Der Sehnsucht verfallen - Thomas Riedel - Страница 4

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»Ein Mann, der seine Frau liebt,

achtet nicht auf ihr Kleid,

sondern auf seine Frau.

Fängt er an,

auf ihre Kleidung zu achten,

hat seine Liebe schon nachgelassen.«

Henry Miller

(1891-1980)

1

D

urch das geöffnete Fenster drang der Duft der blühenden Linde, deren Äste fast in das Zimmer hineinreichten, und ein leichter Wind blähte die zarten weißen Baumwollgardinen. Die einfach eingerichtete Wohnstube atmete eine behagliche Ruhe, und man hätte annehmen sollen, dass sich diese heitere Gelassenheit auch auf die Stimmung der Menschen darin auswirken müsse. Doch das war keineswegs der Fall.

Gwenaëlle, hob ihr verweintes Gesicht und starrte vor sich. »Ach, Mom! … Warum bist du nur so früh gestorben und hast mich auf dieser Welt allein zurückgelassen?!« Sie hatte diese verzweifelten Worte laut vor sind hingesprochen, und ein neuer Strom an Tränen bahnte sich seinen Weg aus ihren Augen über die Wangen, während sie leise klagend vor sich hin schluchzte: »Ich wollte, … ich wäre auch tot und bei dir.«

»So etwas solltest du wirklich nicht sagen, Gwenaëlle!«, entgegnete ihre alte Lehrerin, Miss Abernathy, energisch. »Ich verstehe ja nur zu gut, dass du traurig bist, und ganz gewiss, hat es das Schicksal nicht gut mit dir gemeint, aber glaube mir, keinem Menschen bleiben Schmerzen und Kummer erspart. Auch du musst dir Mühe geben, damit fertig zu werden … Denk doch daran, wie sehr deine Mutter in den letzten Monaten gelitten hat, und gönne ihr die Ruhe«, fügte sie dann mit weicher Stimme hinzu.

»Ja, ja, das ich tue ich auch, ganz bestimmt«, erwiderte sie, noch immer von Schluchzen unterbrochen. »Aber das ich nun auch noch nach ›Castle Ballantyne‹ gehen soll …«

»Du darfst den Mut nicht verlieren, mein liebes Kind. Vielleicht gefällt es dir dort besser, als du jetzt denkst«, meinte Miss Abernathy, die ihr gegenübersaß und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Aber sie sah an Gwenaëlles Ausdruck, dass sie dieser Trost nicht wirklich überzeugte, denn sie schüttelte ablehnend den Kopf und antwortete nicht.

Für eine Weile blieb es in dem kleinen freundlichen Raum still.

Die weißhaarige Miss Rowina Abernathy machte weiter einen ganzen zufriedenen Eindruck. In aufrechter Haltung saß sie auf dem kleinen Sofa, und ihre immer noch flinken Hände beschäftigten sich eifrig mit einer hauchdünnen Stickerei. Über die Ränder ihrer Sehhilfe warf sie forschende Blicke auf Gwenaëlle, die immer noch stumm vor sich hinstarrte. Schmal und zart wirkte sie in ihrem schlichten, hochgeschlossenen Trauerkleid, und ihr blasses Gesicht mit den großen, durch Tränen verdunkelten Augen verriet ihr frühes Leid. Ihre wundervollen schulterlangen Locken, auf die gerade die Sonne fiel, sahen aus wie gesponnenes rötliches Gold.

»Komm, schenk uns noch einmal ein, meine Liebe«, unterbrach Miss Abernathy die Stille, »und dann nimm dir etwas von dem Kuchen. Ich habe ihn extra für dich gebacken und bin ganz gespannt, ob er dir schmeckt.«

Ihrer Aufforderung folgend, griff Gwenaëlle nach der Teekanne und füllte die beiden Tassen. Sie legte sich ein Stück auf den Teller, machte aber keine Anstalten, davon zu essen.

Miss Abernathy bemerkte es aus den Augenwinkeln, aber sie verlor kein Wort darüber. Stattdessen versuchte sie, das junge Mädchen zum Reden zu bringen. »Bist du mit deinen Reisevorbereitungen eigentlich schon fertig?«, erkundigte sie sich freundlich.

Gwenaëlle nickte kurz, doch dann kam es plötzlich wie ein Aufschrei aus ihr heraus: »Ach, wenn ich doch nur hierbleiben könnte!«

»Aber, mein Kind«, sagte Miss Abernathy tröstend, »nun sei doch vernünftig! Du weißt ja selbst, dass es nicht geht. Und du hast es auch deiner lieben Mutter versprochen, nach Ballantyne zu gehen … Sie wird schon gewusst haben, warum«, setzte sie rasch hinzu, als Gwenaëlle etwas entgegnen wollte. »Schließlich sind es doch deine einzigen Verwandten, die sich sofort bereit erklärt haben, dich aufzunehmen und für deine weitere Zukunft zu sorgen.«

»Aber all die Jahre hat sich niemand von ihnen um uns gekümmert, weil sie es meiner Mutter nicht verzeihen konnten, dass sie Vater geheiratet hat … Einen Mann, der nicht dem Adel angehörte und zudem noch Maler war. Auch nach seinem plötzlichen Tod hat sich daran nichts geändert … Und jetzt soll ich zu diesem fremden Menschen, die nichts von mir wissen und mich bestimmt nicht mögen werden …« Der kaum versiegte Strom an Tränen brach von neuem hervor und hinderte sie am Weitersprechen.

»Weine dich ruhig aus, mein Liebes«, sagte Miss Abernathy weich, »das erleichtert, und heißt es nicht, dass man alles ein wenig klarer sieht, wenn man geweint hat?«

Allmählich beruhigte sich Gwenaëlle. »Was müssen Sie von mir denken, Miss Abernathy, dass ich mich so gehen ließ …«, meinte sie entschuldigend.

Die alte Dame winkte begütigend ab. »Lass nur, mein Kind, ich verstehe sehr gut, wie dir zumute ist.« Sie blickte von ihrer Handarbeit auf. »Aber nun hör einmal zu, was ich dir jetzt sage: Du warst so viele Jahre meine Schülerin, und ich kenne dich recht genau. Darum nimm dir meinen Rat zu Herzen: Sei nicht voreingenommen gegen Menschen, die du nicht kennst! Damit machst du es dir und anderen nur unnötig schwer. Versuche einfach, deine neuen Verwandten lieb zu gewinnen, auch wenn dir manches an ihnen nicht gleich gefällt. Wenn sie sehen, dass du dir Mühe gibst, dich einzuleben, dann wirst du dich sicher gut mit ihnen verstehen und in Ballantyne eine neue Heimat finden.«

»Aber gewiss werden sie auf mich herabsehen, weil ich nur einen bürgerlichen Namen habe«, wandte Gwenaëlle zaghaft ein.

»Ach, Unsinn! Du trägst den Namen deines Vaters, der ein sehr bekannter Maler war, und du hast allen Grund, darauf stolz zu sein. Vergiss das nie! Außerdem war ›Castle Ballantyne‹ die Heimat deiner Mutter, und es ist nicht mehr als recht, dass man sich jetzt dort deiner annimmt.«

»Aber meine Tante hat gar nicht so geschrieben, als wenn ihr an mein Kommen besonders viel liegen würde.« Dabei zog sie ein gefaltetes Blatt Papier aus ihrem Retikül, und obwohl sie die wenigen Zeilen schon fast auswendig kannte, las sie den Text noch einmal halblaut vor: »Liebe Gwenaëlle! Mit Bedauern habe ich vom Tod Deiner Mutter gehört. Obwohl sie sich durch ihre Heirat ganz von unserer Familie gelöst hat, habe ich mich dennoch entschlossen, ihre letzte Bitte zu erfüllen und Dir auf ›Castle Ballantyne‹ ein Unterkommen zu gewähren. Teile Deine Ankunft möglichst rechtzeitig mit, damit ich eine Kutsche zur Bahnstation schicken kann. Es grüßt Deine Tante Waynette, Baroness of Brackenridge auf ›Castle Ballantyne‹.« Zögernd ließ sie den Brief in ihren Schoß sinken und sah ihre alte Lehrerin an.

Rowina Abernathy erwiderte zunächst nichts, denn nun war sie doch etwas erschüttert über die kalte, abweisende Art und Weise, wie die Baroness an ihre Nichte schrieb. Wenngleich Gwenaëlles Mutter nur deren Stiefschwester gewesen war, weil der gemeinsame Vater noch einmal geheiratet hatte, so hätte man doch annehmen sollen, dass sie dem jungen Mädchen, dem das Schicksal so früh beide Elternteile geraubt hatte, etwas mehr herzliche Anteilnahme entgegenbringen würde. Es wunderte sie jetzt nicht mehr, warum Gwenaëlle so ungern zu ihren neuen Verwandten wollte! Aber es hatte ja keinen Zweck, sie in dieser Abneigung zu bestärken, denn sonst würde sie sich wahrscheinlich noch schwerer in dieser für sie völlig neuen Umgebung eingewöhnen. Folglich versuchte sie, einen möglichst zuversichtlichen Ton anzuschlagen, als sie sich Gwenaëlle zuwandte. »Nun, der Brief ist sicher etwas kühl gehalten, das muss ich unumwunden eingestehen. Aber du musst auch bedenken, dass du deiner Tante völlig unbekannt bist und sie daher nicht weiß, was sie von dir zu halten hat. Es wird also viel an dir liegen, wie sich euer künftiges Verhältnis gestaltet.«

»Mir ist so bange, wenn ich an die Zukunft denke«, seufzte das junge Mädchen und tupfte sich verstohlen noch einige Träne ab, die sich in ihre Augen gedrängt hatte.

»Ach, komm, Gwenaëlle! Ich bin schließlich auch noch da«, lächelte Miss Abernathy. »Und wenn du wirklich einmal gar nicht mehr aus und ein weißt, dann wende dich getrost an mich. Ich werde dir immer helfen, sofern es in meiner Macht liegt.«

Impulsiv sprang Gwenaëlle auf und umarmte ihre Lehrerin herzlich. »Vielen, lieben Dank, gute Miss Abernathy! Ich werde nie vergessen, wie gütig Sie immer zu mir waren … Sie vergessen mich nicht ganz, nicht wahr, wenn ich von hier fort bin?«, versicherte sie sich noch einmal.

»Wie kannst du so etwas überhaupt denken!«, wehrte ihre Lehrerin entrüstet ab. »Jetzt, wo ich pensioniert bin, habe ich mehr als genug Zeit, an alle meine ehemaligen Zöglinge zu denken, und da du mir immer eine besonders liebe und brave Schülerin warst, werde ich deinen zukünftigen Lebensweg natürlich mit besonderem Interesse verfolgen. Schreibe mir nur recht ausführlich, wie es dir auf ›Castle Ballantyne‹ ergeht, hörst du?«

»Ja, natürlich, das werde ich ganz bestimmt tun«, versprach sie. »Sie sind der einzige Mensch hier in der Stadt, an dem ich hänge und von dem mir der Abschied wirklich schwerfällt«, setzte sie leise hinzu.

»Nun, du hast doch auch Freundinnen, zum Beispiel die Pamela Catherwood, mit der du dich immer sehr gut verstanden hast«, meinte Miss Abernathy.

»Ach, die haben alle schon bestimmte Pläne für die Zukunft. Und Pamela geht nächsten Monat nach Birmingham, da wird sie bald genug neue Bekannte finden«, meinte Gwenaëlle betrübt. »Aber ich muss mich jetzt verabschieden, liebe Miss Abernathy, denn ich möchte noch einmal auf den Friedhof, ehe ich morgen abreise.«

»Tu das nur, mein Kind«, stimmte Miss Abernathy ihr lächelnd zu. »Ich würde dich gern begleiten, aber gerade heute habe ich wieder so arge Schmerzen in meinen Beinen. Du kannst aber ohne Sorge sein: Ich werde regelmäßig nach der Grabstelle deiner Eltern sehen und dafür Sorge tragen, dass sie gepflegt wird.«

Gwenaëlle konnte ihre Tränen nicht zurückhalten, als sie nun endgültig Abschied von ihrer alten Lehrerin nahm.

Auch Miss Abernathy kämpfte mit ihrer Rührung, als sie ihre ehemalige Schülerin in ihre Arme schloss, und strich ihr mit einer mütterlichen Bewegung über die rotgoldenen Locken. »Bleibe mir nur so, wie du bist, mein Kind«, flüsterte sie sanft und gab ihr einen Kuss auf die Wange, ehe sie Gwenaëlle freigab »Etwas Besseres kann ich dir nicht wünschen, … und nun lebe wohl, Liebes!«

*

Wie im Traum ging Gwenaëlle durch die Straßen der Stadt, die sie nun auf immer verlassen sollte. Sie achtete nicht auf die Blicke der vorübergehenden Passanten, die sie in ihrem schwarzen Kleid und mit dem blassen Gesicht oft recht mitleidig streiften. Ihre Gedanken waren weit fort. Sie fragte sich, was ihr die Zukunft bringen würde? Unendlich verlassen und einsam kam sie sich vor, und die Aussicht, nun auf ›Castle Ballantyne‹ zu den ihr unbekannten Verwandten gehen zu müssen bedrückte sie mehr, als sie sich einzugestehen wagte.

Als sie den Friedhof erreicht hatte und vor dem Grab ihrer Mutter stand, wollte die Verzweiflung sie fast übermannen. Sie sank neben dem Hügel nieder, auf dem noch einige halbverwelkte Kränze lagen; man hatte die Tote erst vor knapp zwei Wochen zur letzten Ruhe gebettet. Wieder liefen dicke Tränen über Gwenaëlles Wangen.

»Ach, Mom, warum nur? Warum musstest du so früh gehen?«, klagte sie leise. »Hättest du mich doch nur mitgenommen, anstatt mich hier allein zurückzulassen!«

Unwillkürlich stiegen die Bilder ihrer glücklichen Kindheit vor ihr auf. Da war ihr Vater, den sie nie anders als froh und strahlend gekannt hatte, wie er ihre Mutter mit rührender Liebe umsorgte und ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen suchte. Und die kleine, zarte Frau hing mit den gleichen zärtlichen Gefühlen an ihm. Sie war auf ihn als Mann genauso stolz wie auf seine Kunst. Nie hatte es zwischen den beiden ein böses Wort oder gar Streit gegeben.

Und in dieser Atmosphäre des Glücks und der Geborgenheit war Gwenaëlle aufgewachsen, umsorgt und behütet.

Doch dann hatte das Unglück die kleine Familie wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel getroffen. Gwenaëlle erinnerte sich noch genau daran, wie stolz und glücklich ihre Mutter gewesen war, als ihr Vater die Einladung bekam, seine letzten Bilder auf einer großen Glasgower Kunstausstellung zu zeigen. Das bedeutete die Bestätigung seines Könnens und würde ihm sicher viel Anerkennung und Ehren bringen. Bis jetzt hatte man immer noch recht bescheiden gelebt, aber nun wurden Pläne für die Zukunft geschmiedet und ein Umzug in die nahe Großstadt erwogen, wo sich künstlerisch ein besseres Tätigkeitsfeld bot.

Anthony McMasters war allein nach Glasgow gefahren, weil sich seine Frau Tempest den Anstrengungen der weiten Reise bei dem kalten Winterwetter nicht aussetzen wollte. Aber Gwenaëlle, obwohl sie noch ein halbes Kind war, spürte genau, wie sehr ihre Mutter unter der kurzen Trennung litt, und sie selbst konnte es kaum erwarten, bis der geliebte Vater zurückkam. Endlich traf das ersehnte Telegramm ein, das seine Rückkehr anmeldete. Erwartungsvoll eilten sie beide zur Bahnstation, um ihn in Empfang zu nehmen. Doch die gebeugte, müde Gestalt, die sich mit sichtlicher Anstrengung aus dem Waggon tastete – war das wirklich der stets so vergnügte, strahlende Vater, der sein Kind sonst bei jedem Wiedersehen jubelnd auf seinen Armen emporgehoben hatte? Gwenaëlle wagte kaum nach seiner Hand zu fassen und warf nur einen ängstlich fragenden Blick zu ihrer Mutter hinüber. Auch auf deren Gesicht malte sich das Erschrecken über das veränderte Aussehen ihres Ehemannes.

»Um Gottes willen, was ist mit dir?«, fragte sie rasch. »Bist du krank?«

Ihr Gatte winkte mit einer hilflosen kleinen Gebärde ab. »Ach, es ist wohl nichts Schlimmes. Ich habe mich anscheinend in Glasgow ein bisschen erkältet, und da ist mir die Rückreise nicht bekommen. Aber zu Hause wird das sicher bald besser werden.«

Doch schon die kurze Fahrt zur Wohnung, die sie mit einer Droschke zurückgelegt hatten, schien ihn sehr anzustrengen, denn er lehnte mit geschlossenen Augen in einer Ecke, und sein Gesicht überzog sich mit einer fahlen Blässe. Nur mit Hilfe des Droschkers gelang es ihrer Mutter, ihn ins Haus zu bringen, und der biedere Kutscher erbot sich von selbst, sofort bei einem Arzt vorbeizufahren und ihn herzuschicken.

Kurz darauf erschien der Mediziner und stellte nach eingehender Untersuchung eine schwere Lungenentzündung fest. Einen Augenblick erwog er, ihn in ein Hospital zu überführen, aber bei dem Zustand erschien ihm das letztlich zu gefährlich – auch hätte sich die Familie einen teuren Krankenhausaufenthalt kaum leisten können. So gab er rasch einige Anordnungen und versprach, eine erfahrene Pflegerin vorbeizuschicken.

Ihre Mutter wollte nichts davon wissen, doch als Dr. Porterfield ihr eindringlich klarmachte, dass sie auch an ihr Kind denken müsse, gab sie schließlich nach.

Wenn Gwenaëlle später an diese Tage zurückdachte, erschienen sie ihr wie ein böser, schmerzhafter Traum. Nur auf ein paar Augenblicke durfte sie ihren Vater sehen, wenn sie auf Zehenspitzen an sein Bett schlich. Sie rief ihn leise an, aber er erkannte sie bereits nicht mehr. Das Fieber hatte ihn gepackt, und stoßweise kam der Atem aus seiner Brust.

Mit übermenschlicher Anstrengung widmete sich ihre Mutter seiner Pflege und versuchte, dem Tod seine Beute abzujagen. Aber das Schicksal hatte es anders beschlossen. Nur eine Woche nach seiner Rückkehr aus Glasgow erlag er der tückischen Krankheit und ließ Frau und Kind in unsagbarem Schmerz zurück.

Von diesem Augenblick an war Gwenaëlles glückliche Kindheit zu Ende. Wohl gab sich ihre Mutter alle Mühe, ihren Kummer um den toten Gatten zu tragen und ihr den Vater zu ersetzen, aber es war, als sei der Lebensnerv in ihr zerrissen. Sie, die immer schon zart und anfällig gewesen war, verfiel zusehends und vermochte nur mit Mühe die täglichen Pflichten des kleinen Haushalts zu erfüllen. Dazu gesellten sich bald auch noch äußere Sorgen, denn auch wenn ihr Mann ein bekannter Maler gewesen war, Reichtümer hatte er nicht ansammeln können. Dazu war er noch zu jung gewesen und voller Schaffenskraft. – Wie hätte er da an Krankheit und gar Tod denken sollen?

Da ihr Mann ihr stets alle finanziellen Dinge abgenommen hatte, war sie recht unerfahren und musste ihre Unkenntnis nun teuer bezahlen. Das kleine Vermögen schmolz rasch zusammen, und sie sah sich verzweifelt nach irgendeinem Erwerb um. Aber was sollte sie tun, wo sie doch nichts Richtiges gelernt hatte? Zudem war ihre zarte Gesundheit keiner schweren Arbeit gewachsen.

Endlich besann sie sich auf ihre Fertigkeiten, feine Handarbeiten herzustellen, und sie fand sogar ein Geschäft, das ihr diese abnahm. Es war zwar eine mühselige Arbeit, die nur wenig einbrachte, aber immerhin reichte es für das Nötigste. Gwenaëlle sollte wenigstens die höhere Schule beenden, damit ihr später bessere Möglichkeiten offenstanden – auch wenn sie vermutlich nie eine Universität besuchen und studieren würde.

Und Gwenaëlle selbst kannte keinen sehnlicheren Wunsch, als so bald wie möglich auf eigenen Füßen zu stehen, damit sie der geliebten Mutter die Sorgen abnehmen und ihr das Leben ein wenig erleichtern konnte.

Ihre Mutter hatte sich von den wenigen Bekannten, mit denen sie und ihr Vater früher verkehrt hatten, vollkommen zurückgezogen. Einerseits erlaubten ihre bescheidenen Mittel ihr keinerlei Nebenausgaben, die nun einmal auch mit der einfachsten Geselligkeit verbunden waren, andererseits fühlte sie sich noch immer außerstande, mit Fremden über ihren Gatten zu reden – und das hätte sich wohl kaum vermeiden lassen. Sie hatte den Verlust noch nicht verwunden und trauerte mit unverminderter Stärke um ihn.

Nur mit ihrer Tochter vermochte sie über den geliebten Entschlafenen zu reden, ohne dass es ihr allzu wehtat. Je mehr Gwenaëlle heranwuchs, umso tiefer wurde deren Verständnis und Bewunderung für die Mutter, die mit so unerschütterlicher Liebe an ihrem toten Vater hing. Nicht oft genug konnte sie davon hören, wie sich ihre Eltern damals kennengelernt hatten, und welche Schwierigkeiten sie hatten überwinden müssen, bis es zur Heirat kam.

Auch von ihrer glücklichen Jugendzeit auf ›Castle Ballantyne‹ erzählte ihre Mutter, aber nie kam ein vorwurfsvolles oder gar anklagendes Wort gegen Vater oder Stiefschwester über ihre Lippen, die ihr später die Heirat mit dem bürgerlichen Maler nie verziehen und sie darum vom Erbe ausgeschlossen hatten.

Aber trotz aller Liebe und Zärtlichkeit, mit der Gwenaëlle ihre Mutter umsorgte, entging es ihr nicht, dass diese immer mehr in sich verfiel. Es war wohl so, dass sie sich einfach in Sehnsucht nach ihrem toten Ehemann verzehrte, und da ihr Herz ohnehin immer sehr schwach gewesen war, bedurfte es nur eines geringfügigen Anlasses, um sie auf das Krankenlager zu werfen, von dem sie nicht aufstehen sollte.

Gwenaëlle wehrte sich mit verzweifelter Anstrengung gegen diesen neuen Schicksalsschlag Hilflos musste sie dabei zusehen, wie das Leben ihrer Mutter langsam aber stetig verlöschte – gleich einer Kerzenflamme, die sich selbst verzehrte.

Ehe sie jedoch für immer die Augen schloss, vertraute sie sich ihrem Kind an und berichtete ihr, dass sie sich an ihre Stiefschwester Waynette auf ›Castle Ballantyne‹ gewandt habe mit der Bitte, ihre Tochter, nach ihrem Tod, bei sich aufzunehmen.

»Du musst mir versprechen, mein liebes Kind«, bat sie mit versagender Stimme, »dass du dort hingehen wirst. Eher kann ich nicht ruhig sterben.«

Gwenaëlle versprach es, wenn auch schweren Herzens, denn sie fühlte eine heftige Abneigung gegen die unbekannten Verwandten, die sich bisher nie um sie und ihre Mutter gekümmert hatten.

Und nun kniete sie hier vor dem kleinen, sorgsam aufgeschütteten Hügel, der das Liebste verbarg, das sie besessen hatte. Noch immer schien es ihr unfassbar, dass sie nie wieder die leise, zärtliche Stimme hören sollte, die ihr bis jetzt Sinn und Inhalt des Lebens gewesen war.

Plötzlich war es ihr, als ob eine Hand sie leicht streifte. Sie blickte auf und bemerkte, dass ein Zweig des Rosenstrauches, der nebenan auf dem Grab ihres Vaters wuchs, sich in einem leichten Windhauch neigte, und mit dessen duftenden Blütenblättern ihre Wange berührt hatte.

Auf seltsame Weise fühlte sie sich getröstet. Augenblicklich dachte sie an ihr Lieblingsmärchen, das ihr ihre Eltern so oft vorgelesen hatten. Und unter Tränen kamen Gwenaëlle die letzten Worte in den Sinn, die die Mutter in ›Aschenputtel‹ zu ihrer Tochter sprach, bevor sie für immer die Augen schloss: ›Liebes Kind, bleib fromm und gut, so wird dir der liebe Gott immer beistehen, und ich will vom Himmel auf dich herabblicken und will um dich sein.

In diesem Moment hatte sie das Gefühl, als seien ihr ihre Eltern ganz nah und schickten ihr einen Stillen Gruß aus dem Jenseits.

Sie sprach noch ein inniges Gebet, ehe sie sich langsam erhob und auf den Heimweg machte.

***

Gwenaëlle - Der Sehnsucht verfallen

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