Читать книгу Gwenaëlle - Der Sehnsucht verfallen - Thomas Riedel - Страница 6

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wenaëlle McMasters war froh, als sie sich endlich dem Ziel ihrer langen Reise näherte. Sie fühlte sich müde und zerschlagen. In der letzten Nacht hatte sie kaum ein Auge zugemacht, weil ihr der Abschied von der Heimat und den Gräbern ihrer Eltern unsagbar schwerfiel. Hinzu kam ihr große Unbehagen, wenn sie an die kommende Zeit dachte. Doch dann erinnerte sie sich an die Ermahnungen ihrer alten Lehrerin, und sie fasste den festen Vorsatz, alles zu tun, um sich in ihrer neuen Heimat schnell einzugewöhnen.

In Inverness stieg sie aus dem Zug, und schon war das Klima so anders, dass sie das Gefühl verspürte nicht nur nach Norden, sondern ins Ausland gefahren zu sein. Es war zwar ein schöner Tag, aber als sie ihren Wohnort verlassen hatte, war es so warm wie im Juni gewesen – die Luft hatte gestanden und war ihr leicht muffig vorgekommen. Jetzt kam sie in eine Welt, die im Licht der Sonne nur so glitzerte, und über ihr wölbte sich ein hoher und wolkenloser Himmel von hellem und klarem Blau. Viel kühler war es auch.

Hier musste sie gut zwei Stunden auf den anderen Zug warten, der sie weiter nach Norden bringen würde. Sie schlug die Zeit damit tot, dass sie in einen kleinen Gasthof schräg gegenüber dem Bahnhof ging, etwas zu sich nahm und dann wieder zurückschlenderte. Der Zeitungskiosk hatte geöffnet. Sie erstand ein Journal und schritt auf den Bahnsteig zurück, wo inzwischen ein kleinerer Zug wartete und sich allmählich mit Passagieren füllte. Schnell suchte sie sich einen Platz, verstaute ihr weniges Gepäck, und schon bekam sie Gesellschaft – denn eine nett aussehende Frau nahm ihr gegenüber Platz. Sie trug einen Mantel mit einer Brosche am Aufschlag und einen weichen roten Filzhut. Zu ihrer Reisetasche gesellte sich ein Korb, der einige Einkäufe zu enthalten schien.

Ihre Augen trafen sich und Gwenaëlle lächelte höflich.

»Ach, was für ein kalter Tag!«, bemerkte die Frau. »Ich musste eine Weile auf meine Droschke warten. Dabei sind meine Beine ganz kalt geworden.«

»Aber irgendwie ist der Tag auch schön«, erwiderte Gwenaëlle.

»Oh ja, richtig schön«, entgegnete die Frau. »Immer noch besser als Regen, sage ich immer.« Der Bahnhofsvorsteher rief etwas Unverständliches, seine Pfeife schrillte und die Türen der Waggons schlugen zu. »Es geht los und recht pünktlich, wie ich finde. Wollen Sie weit?«

Gwenaëlle, die schon zu ihrem Journal gegriffen hatte, ergab sich in ihr Schicksal, legte es wieder weg und unterhielt sich.

»Fodderty«

»Da will ich auch hin. Ich bin zwei Tage bei meiner Schwester gewesen. Zum Einkaufen. Sie haben hier ein schönes Geschäft. Habe meinem Mann ein Hemd gekauft. Wollen Sie in Fodderty bleiben?«, fragte sie, aber es war keine Neugier, sondern schlicht menschliche Anteilnahme.

»Ja«, antwortete Gwenaëlle, und weil sie davon ausging, dass die Frau sicherlich weiterfragen würde, ergänzte sie aus freien Stücken: »Ich fahre zu meinen Verwandten, auf ›Castle Ballantyne‹.«

»Das Anwesen kenne ich gut. Ich bin dort mit einer der Bediensteten befreundet. Wir sticken gemeinsam neue Kniekissen für die Kirche. Sie hat mir gar nicht erzählt, dass man auf dem Castle Besuch erwartet. Aber vermutlich hat das dort noch nicht die Runde gemacht … Sind Sie zum ersten Mal hier?«

»Ja. Meine Mutter hat früher auf dem Anwesen gelebt, … Baroness Tempest of Brackenridge.«

»Sie wohnten also bisher im Süden.«

»Ja, in Newcraighall, bei Edinburgh.«

»Dachte ich mir schon. Man hört es an Ihrem Akzent.«

Der Zug ratterte über eine Brücke, und unter ihnen breitete sich ein Fluss aus. Gwenaëlle sah kleine, geschäftige Boote und reizende Häuser mit Gärten, die bis ans Wasser gingen. »Ich bin vorhin mit dem Zug aus Edinburgh gekommen und musste in Inverness umsteigen.«

»Das ist eine lange Reise, aber immer noch besser, als mit einer Droschke zu fahren. Außerdem ist es weit weniger gefährlich. Mit einer Kutsche zu reisen, das ist Gott versuchen, sage ich immer. Mein Mann traut sich so eine holprige, beschwerliche Fahrt gar nicht mehr zu. Aber er war noch nie dafür die Gegend wirklich zu verlassen. Das gehört wohl zu seinem Beruf.«

Gwenaëlle lächelte. »Was arbeitet er denn?«

»Er ist Schäfer. Hat fast nur seine Tiere im Kopf. Hoffentlich hat er nicht vergessen, dass er mich vom Bahnsteig abholen soll. Ich habe ihm einen Zettel über den Herd gehängt, damit er daran denkt … Aber bei ihm weiß man nie.« Sie beklagte sich nicht. Eher schien sie stolz auf die Fehler ihres Mannes zu sein, so als hoben sie ihn aus der Masse heraus. »Werden Sie abgeholt?«

»Das weiß ich ehrlich gesagt nicht, hoffe es aber.« Gwenaëlle blickte aus dem Fenster. Sie waren jetzt in den Bergen und wanden sich durch eine öde Landschaft, in der es nichts gab außer abgelegenen Gehöften, Schafherden und Flüsschen, die sich durch breite grüne Täler schlängelten. Die Sonne war inzwischen höher gestiegen, und die langen Schatten waren kürzer geworden. Ihre Reisegefährtin hatte sich ein Sandwich aus dem Korb geholt und biss zierlich davon ab.

Kleine Bahnhöfe kamen und gingen, wo der Zug einen Augenblick hielt und Passagiere aus- oder zusteigen ließ. Man begrüßte sich, Hunde bellten und Gepäckträger rumpelten mit Karren voller Pakete und Koffern dahin. Niemand hatte es eilig. Es war, als hätte hier jeder alle Zeit der Welt.

So ging es weiter nach Norden, und Gwenaëlle zählte für sich die Haltestellen: noch drei, noch zwei – fast schon war sie da. Die Frau des Schäfers packte ihren Imbiss weg, wischte sich Kekskrümel vom Mantel und kramte in ihrer geräumigen Tasche nach einem Taschentuch.

Endlich kam die Station in Sicht, wo sie aussteigen musste. Schnell holte sie ihren Koffer aus dem Gepäcknetz und spähte gespannt aus dem Fenster. Ob man mich abholen wird?

Langsam und schnaufend lief der Zug auf dem kleinen Bahnsteig ein. Gwenaëlle hatte mit ihrer Reisegefährtin das Abteil verlassen, sich von ihr verabschiedet und blickte sich nun suchend um. Aber sie konnte niemand entdecken, der so aussah, als ob er auf sie wartete. Zögernd nahm sie ihren Koffer auf und ging durch die Sperre nach draußen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah sie einen jungen Mann aus einem Tabakwarengeschäft kommen.

Sie wollte gerade auf ihn zulaufen und fragen, wie sie zum ›Castle Ballantyne‹ käme, da hörte sie, wie eine kräftige männliche Stimme ihren Namen rief. Rasch drehte sie sich herum und sah sich einem älteren Mann in Kutscherlivree gegenüber.

»Sie sind ganz sicher die Nichte der Baroness of Brackenridge, die ich abholen soll?«, erkundigte er sich freundlich und setzte hinzu: »Aber natürlich, Sie müssen es sein. Das habe ich doch gleich gesehen. Sie sind Baroness Tempest ja wie aus dem Gesicht geschnitten, als sie noch ein junges Mädchen war!«

»Ach, Sie haben meine Mutter noch gekannt?«, stieß sie freudig erregt hervor und reichte dem alten Mann impulsiv die Hand. »Oh, dann müssen Sie mir recht viel von ihr erzählen, Mister …«

»George«, fiel er schnell ein, »ganz einfach George. Ja, natürlich habe ich Ihre gnädige Frau Mutter gut gekannt! Ich diene ja schon seit meiner Jugend auf ›Castle Ballantyne‹ … Aber darf ich jetzt um Ihren Koffer bitten? Ihre Ladyschaft, die Baroness, wird schon warten.«

Er verstaute das Gepäck auf der Ladefläche des Gefährts und half ihr beim Aufsteigen. Dann nahm er die Führleine in die behandschuhte Rechte, schnalzte kurz mit der Zunge, und setzte das Pferd in Trab.

Mit großen Augen sah sich Gwenaëlle um. Jetzt war sie also in der Heimat ihrer Mutter, von der ihr diese so oft erzählt hatte. Auf den breiten, kopfsteingepflasterten Bürgersteigen herrschte geschäftiges Treiben. Sie sah eine reizvolle Vielfalt an Häusern und Geschäften mit ihren Auslagen. Es folgte ein frisch gestrichener Pub, vor dessen Tür links und rechte Lorbeerbäume in Kübeln standen, ein Friseursalon mit der Aufschrift ›Patricia Coiffures› und eine Weinhandlung mit Fenstern aus grünlichem Flaschenglas. Erst ging es noch ein Stück durch den Ort, dann bog George nach links ab, steuerte das Pferd durch ein Wäldchen, und dann musste schon die große Allee kommen, die zum Schloss führte. Ja, … es ist genau so, wie es meine Mutter beschrieben hat. Ein ganz eigenartiges Gefühl beschlich sie: Ihr war zumute, als sei sie gar nicht zum ersten Mal hier, sondern hätte das alles immer schon gekannt.

Ein Hund bellte, ein Vogel zwitscherte hoffnungsvoll von einem Baum herunter, als habe er sich von dem bisschen Sonnenschein vorgaukeln lassen, der Frühling sei bereits ausgebrochen.

George wagte es nicht ihre Gedanken zu unterbrechen. Er musterte sie nur ein paar Mal verstohlen von der Seite und wischte sich dann heimlich eine Träne aus den Augen. Niemals hätte er es für möglich gehalten, dass es so eine Ähnlichkeit geben konnte! Er vermeinte fast, Baroness Tempest säße an seiner Seite, nur, dass diese viel fröhlicher und unbekümmerter ausgeschaut hatte als dieses junge Mädchen, das sich mit so großen, ernsten Augen umsah. Doch als sein Blick auf ihr schwarzes Kleid fiel, fand er sich wieder in der Gegenwart. Natürlich, – Baroness Tempest of Brackenridge war tot, und es war ihre Tochter, die er zum Castle chauffierte. Sie sollte dort nun eine neue Heimat finden. Ach, sie würde es gewiss nicht leicht haben bei ihren neuen Verwandten. Gewiss, der Baron war ein gütiger und gerechter Mann, aber er hatte ja nichts zu sagen. Und die Baroness? – Nun, die kannte er bereits seit seiner Jugendzeit. Sie hatte immer ein kaltes, herzloses Wesen gehabt, und mit den Jahren hatte sich dieses eher verstärkt statt gemildert.

Auch von den Kindern hielt George nicht viel. Murdock war zwar gutmütig, aber leichtsinnig und war hinter jedem Rockzipfel her. Na, wenigstens war er die meiste Zeit fern von zu Hause. Wendelle genoss beim Personal die geringsten Sympathien. Sie glich in allem ihrer Mutter. Schon als Kind hatte sie eine hochfahrende, eitle Natur gehabt, und seitdem sie aus dem Internat zurück war, hielt sie es für unter ihrer Würde, mit den Hausangestellten auch nur ein freundliches Wort zu sprechen. Nur kommandieren und sich bedienen lassen, das konnte sie. Versuchte er sie mit Adjektiven zu beschreiben, dann war sie zwar durchaus elegant, aber extrem verwöhnt, eigenwillig, launenhaft, oberflächlich und verschwenderisch.

Blieb noch Valora, die Jüngste. Gewiss, sie war wild und übermütig und hatte auch ihm schon so manchen Schabernack gespielt, aber sie besaß wenigstens ein gutes Herz und war kein bisschen eingebildet. Man musste freilich mal abwarten, wie sie sich weiterentwickelte – vielleicht artete sie jedoch später noch ihren Geschwistern nach.

Jedenfalls sah George ziemlich schwarz, was das Verhältnis der Bewohner von ›Castle Ballantyne‹ zu ihrer jungen Verwandten betraf. Aber was an ihm lag, wollte er tun. Vor allem auf sie aufpassen, denn das war er ihrer Mutter schuldig.

»Das dort ist ›Castle Ballantyne‹, nicht wahr?«, weckte Gwenaëlle ihn aus seinen Betrachtungen.

»Ja, gewiss, Mylady. Wir sind in wenigen Minuten da«, gab der alte Kutscher zur Antwort.

»Oh, bitte, nennen Sie mich doch nicht Mylady«, bat sie ihn mit einem reizenden Lächeln. »Ich bin das gar nicht gewöhnt. Ich heiße Gwenaëlle.«

»Gewiss … gern, wenn ich darf, Mylady … Miss Gwenaëlle«, erwiderte George und strahlte übers ganze Gesicht. Sie ist wirklich ganz wie ihre Mutter, dachte er bei sich, die war auch kein bisschen Stolz. Das muss ich nachher gleich Minna, der Köchin erzählen. Die hat Baroness Tempest ja auch noch gekannt und in ihr Herz geschlossen.

Während sich das Gespann in leichtem Trab dem Schloss näherte, fühlte Gwenaëlle ihr Herz klopfen. In wenigen Minuten würde sie ihren neuen Verwandten gegenüberstehen. Wie werden sie mich aufnehmen und warum ist mir nur so bang davor?, fragte sie sich. Es ist doch die Schwester meiner Mutter, zu der ich komme. Ihr Brief hat zwar kalt geklungen, aber sie muss ihrer verwaisten Nichte Mitgefühl und Liebe entgegenbringen. Aufgeregt sah sie sich um. Oh, wie schön ›Castle Ballantyne‹ doch ist, dachte sie.

Das große, weiße Gebäude stammte aus dem sechzehnten Jahrhundert. Es war geschickt modernisiert worden und bot einen imposanten Anblick, wie es da, in den riesigen, gepflegten Park eingebettet, vor ihr lag. Gwenaëlle betrachtete die glatte, symmetrische Fassade mit den gefälligen Proportionen und dem halbkreisförmigen Glaseinsatz in der großen Haustür.

Mit einem Ruck hielt der Einspänner vor der breiten Freitreppe. Trotz seines Alters sprang George sehr gewandt vom Kutschbock und half Gwenaëlle beim Herabsteigen. Dann holte er ihren Koffer vom Ladebord herunter und stellte ihn neben sie.

Etwas unschlüssig sah sie sich um. Kommt denn niemand, um mich zu begrüßen? Endlich erschien auf der obersten Stufe ein Mädchen in schwarzem Kleid und weißer Schürze, dass sie mit offensichtlicher Neugier musterte, während es mit betont gemäßigten Schritten die Treppe herabkam. Sie blickte ziemlich mürrisch drein, so, als habe man sie bei etwas unterbrochen oder gestört, und als wollte sie sich gar nicht um den angereisten Gast kümmern. Ihr offensichtlich langes, weißblondes Haar hatte sie zu einem Dutt hochgesteckt und unter dem Häubchen verborgen.

»Na los, Geraldine«, rief ihr George zu, »nimm den Koffer von der gnädigen Miss, und sag ihrer Ladyschaft, dass die Miss Gwenaëlle angekommen ist.«

Die Angesprochene zuckte spöttisch die Achseln. »Nur immer mit der Ruhe, George!«, erwiderte sie mit dem typisch schottischen Akzent der Midlands. »Die Herrschaften haben noch Besuch, da kann und darf ich jetzt nicht stören.« Dann nahm sie sichtlich widerwillig den Koffer auf und bedeutete Gwenaëlle mit einem kurzen »Kommen Sie!« ihr zu folgen.

Gwenaëlle streckte dem Kutscher die Hand entgegen. »Auf Wiedersehen, George!«, sagte sie lächelnd. »Haben Sie vielen Dank für die Fahrt!«

»Keine Ursache, Mylady … Miss Gwenaëlle«, murmelte er verlegen und drückte ihr kräftig die Rechte. Dann setzte er leise, und nur für sie verständlich, hinzu: »Wenn Sie mal irgendetwas brauchen, dann wenden Sie sich nur an mich. Ich werde Ihnen schon helfen wissen.«

Gwenaëlle vermochte nur stumm zu nicken, denn das Angstgefühl von vorhin saß ihr wie ein Klumpen im Hals und hinderte sie am Sprechen. Rasch wendete sie sich ab und folgte dem voranschreitenden Mädchen.

George sah den beiden einen Moment nach, ehe er das Pferd am Zügel ergriff und fortführte. »Diese Geraldine, das dumme Ding, hat sich schon ganz die hochnäsigen Manieren von der Gesellschaft da oben angewöhnt«, sprach er halblaut vor sich hin, während er missbilligend den Kopf schüttelte.

*

Die hohe Freitreppe führte in eine große, weitläufige Halle, die mit stilvollen Möbeln, schweren Teppichen und Waffen aller Art ausgestattet war. Die Wände waren mit riesigen Geweihen und sonstigen Jagdtrophäen geschmückt. Das Mädchen setzte Gwenaëlles Koffer mit einem harten Ruck auf den Boden. »Warten Sie hier!«, sagte sie kurz angebunden und verschwand schnell durch eine der zahlreichen Türen.

Gwenaëlle wagte es nicht, sich zu setzen. Scheu blickte sie sich in dem großen Raum um. Sie musste eine ganze Weile ausharren, bis sich endlich eine der Türen öffnete. Eine Frau, in der sie ihre Tante, die Baroness of Brackenridge, vermutete, erschien auf der Schwelle und näherte sich ihr mit langsamen Schritten.

Einem ersten Impuls folgend, wollte Gwenaëlle ihrer Tante entgegenlaufen und sich ihr in die Arme werfen, aber als sie deren kalten, strengen Augen auf sich gerichtet fühlte, war ihr, als ob alles in ihr erstarrte. Ihre bereits angehobenen Arme sanken herab, und wie gelähmt blieb sie auf der Stelle stehen.

Ihrer Tante gelang es nur mühsam, ihre Fassung zu bewahren. Wie ein elektrischer Schlag hatte es sie durchzuckt, als sie ihrer Nichte ansichtig geworden war. Noch mehr als der alte Kutscher war sie von Gwenaëlles Ähnlichkeit mit ihrer verstorbenen Stiefschwester verblüfft. Das ist ja Tempest, wie sie leibt und lebt!, schoss es ihr durch den Kopf. Um Gottes willen, nein, wenn ich das geahnt hätte. Niemals hätte ich sie zu uns ins Haus geholt! Soll ich denn von nun an laufend an die Vergangenheit erinnert werden?

Tempest allein war daran schuld gewesen, dass Waynette den einzigen Mann, den sie in ihrem Leben wirklich geliebt hatte, nicht bekam. Das konnte und wollte sie niemals vergessen. Und wenn das Gewissen sie auch manchmal quälte und ihr zuflüsterte, dass sie ihrer Schwester Unrecht getan hatte, und es ihre Pflicht gewesen wäre, diese wieder mit dem Vater auszusöhnen, damit ihr das gebührende Erbe nicht verloren ging, so hatte sie es verstanden, die innere Stimme im Laufe der Jahre zum Verstummen zu bringen. Aber sie wusste genau: Wenn Gwenaëlle nun täglich um sie war, würde es mit dem mühsam erkämpften Frieden vorbei sein. Und der abgrundtiefe Hass, den sie für ihre Stiefschwester empfunden hatte, übertrug sich in diesem Augenblick auf deren Tochter.

Nur mit äußerster Beherrschung richtete sie ein paar kühle Begrüßungsworte an ihre Nichte und zog ihre Hand sofort wieder zurück, ehe Gwenaëlle sie richtig ergreifen konnte.

Hoch aufgerichtet stand Waynette vor Gwenaëlle, als sie nun sagte: »Ich habe dir in meinem Haus ein Unterkommen geboten, … nicht etwa, weil ich mich irgendwie dazu verpflichtet fühlte, denn du weißt ja wohl, dass deine Mutter sich freiwillig von der Familie gelöst hat, als sie sich damals verheiratete. Aber das soll nicht heißen, dass sich deine Verwandten nicht um die kümmern. Natürlich wirst du einsehen, dass ich dich nicht hierhergeholt habe, damit du das Leben einer jungen Lady führst, die ihre Zeit mit Vergnügungen und Nichtstun verbringt. Ich halte es daher für das Beste, dir einen bestimmten Aufgabenbereich zuzuweisen, um von vornherein die Stellung, die dir innerhalb der Familie zukommt, klar festzulegen. Ich gehe davon aus, dass du damit einverstanden bist.«

»Gewiss, Tante Waynette«, antwortete Gwenaëlle leise. Der frostige, unfreundliche Empfang brachte sie den Tränen nahe, aber sie unterdrückte ihr Empfinden tapfer – auf keinen Fall wollte sie sich ihre tiefe Enttäuschung anmerken lassen.

»Also gut«, fuhr Waynette of Brackenridge befriedigt fort. »Wie steht es mit deiner Bildung? Ich nehme doch an, dass dich deine Mutter auf eine höhere Schule geschickt hat?«

»Ja, ich habe die ›Girl's High School‹ in Edinburgh besucht und außerdem privaten Sprachunterricht in Französisch und Spanisch genossen. Beides beherrsche ich ziemlich perfekt.«

»Nun, das wird sicher genügen«, nickte ihre Tante befriedigt. »Dann wirst du also zunächst den Unterricht deiner jüngsten Cousine Valora übernehmen. Ich hoffe, es wird dir gelingen, den etwas vernachlässigten Lerneifer des Kindes zu wecken und ihm das Nötige beizubringen. Die Erzieherinnen haben darin bisher leider ziemlich versagt. In der übrigen Zeit kannst du nebenher noch einige Hausarbeiten übernehmen. Glaubst du, diesen Aufgaben gewachsen zu sein?«

»Ich werde mir alle Mühe geben, dich zufrieden zu stellen«, gab Gwenaëlle zur Antwort.

»Dann wäre also vorläufig das Wichtigste geklärt.« Ihre Tante machte einige Schritte und zog an einem Klingelband. »Geraldine kann dich jetzt auf dein Zimmer führen. Um acht Uhr speisen wir zu Abend, da erwarte ich dich hier unten im Salon. Ich möchte aber noch bemerken, dass du an den gemeinsamen Mahlzeiten nur dann teilnimmst, wenn wir unter uns sind. Wenn Besuch da ist, wirst du zusammen mit dem Personal essen … Hast du sonst noch eine Frage?«

»Nein, danke, Tante. Ich werde mich ganz nach deinen Wünschen richten«, entgegnete Gwenaëlle bescheiden.

In diesem Augenblick erschien das Mädchen. »Eure Ladyschaft wünschen?«, fragte sie mit unterwürfiger Freundlichkeit.

»Zeige meiner Nichte das Zimmer, das bislang Miss Wittingham bewohnt hat«, wandte sich ihre Herrin an sie. »Komme aber sofort wieder nach unten, denn die Muirheads werden gleich aufbrechen, und da musst du den Herrschaften beim Ankleiden helfen.«

»Gewiss, Eure Ladyschaft. Ich werde mich beeilen«, antwortete Geraldine.

Ohne ihre Nichte noch ein weiteres Wort zu gönnen, rauschte Waynette schnell hinaus.

*

Da das Mädchen keine Anstalten machte, Gwenaëlle behilflich zu sein, nahm diese ihren Koffer selbst auf.

Geraldine eilte so schnell voran, dass sie Mühe hatte, mit ihrem Gepäck nachzukommen. Es ging einen endlosen Flur entlang, Treppen hinauf und wieder hinunter, bis sie endlich in einen Seitenflügel kamen, wo Geraldine vor einem der Zimmer Halt machte.

»So, hier ist es!«, sagte sie schnippisch, nachdem sie die Tür mit einem Ruck aufgestoßen hatte. »Wasser müssen Sie sich selbst holen. Sie finden das Bad am Ende des Ganges.« Damit drehte sie sich auch schon wieder herum und lief eilig davon.

Behutsam stellte Gwenaëlle ihren Koffer auf dem Boden ab und schloss die Tür hinter sich. Dann sah sie sich mit großen Augen um. Sie befand sich in einem kleinen, nur spärlich möblierten Raum, dem man deutlich ansah, dass seit langen Zeiten nichts mehr für die Verschönerung getan worden war. Die verblichene, dunkle Tapete begann bereits an zahlreichen Stellen abzublättern, und auch die paar armseligen Einrichtungsgegenstände hatten schadhafte Stellen und passten nicht im Geringsten zusammen. Niemand, der dieses Zimmer sah, wäre auf den Gedanken gekommen, dass es zu ›Castle Ballantyne‹ gehörte.

Eine Gouvernante muss in den Augen meiner Tante ein zweitklassiges Wesen sein, dachte Gwenaëlle bei sich, und da ich nun deren Stelle innehabe, muss ich mich wohl oder übel damit abfinden. Nein, sie scheute sich keineswegs, eine Arbeit zu übernehmen, aber die Art, wie ihre Tante über sie verfügt hatte, war so verletzend gewesen, dass ihr nun doch die vorhin so mühsam zurückgedrängten Tränen kamen und sie in ein heftiges Schluchzen ausbrach.

Sie tastete nach dem einzigen Stuhl, der vor dem wackeligen Tisch stand, setzte sich und schlug die Hände vor das Gesicht. Das Weinen schüttelte ihren ganzen Körper. So traurig und verlassen wie in dieser Stunde hatte sie sich nicht einmal beim Tod ihrer geliebten Mutter gefühlt. Sie hatte ja nicht erwartet, dass man sie hier wie eine Prinzessin behandelte, aber zumindest ein paar freundliche, gute Worte hätte man ihr gönnen können. Schließlich war sie doch kein wildfremdes Wesen, sondern eine nahe Verwandte.

Ach, was hilft es mir, wenn ich mich selbst bemitleide? Davon wird nichts besser. Jetzt bin ich nun einmal hier und muss zusehen, dass ich mit meinem Schicksal fertig werde.

Mit einer entschlossenen Bewegung trocknete sich Gwenaëlle die Tränen ab und stand auf. Sie trat zu dem einzigen Fenster hin und öffnete die beiden Flügel weit. Ein würziger Rosenduft schlug ihr entgegen, den sie in tiefen Zügen einatmete. Mit Entzücken nahm sie die herrliche Aussicht wahr, die sich ihr bot. Sie konnte von hier aus den ganzen hinteren Teil des weitläufigen Parks sowie den anschließenden Nutzgarten überblicken, und auf einmal erschien ihr das Zimmer gar nicht mehr so unfreundlich und kahl wie in den ersten Minuten. Vielleicht durfte sie sich ein paar Blumen holen und hier aufstellen, – das würde dem Raum gleich ein ganz anderes Gesicht geben.

Sie straffte sich. Jetzt wollte sie sich ein wenig frisch machen, damit man ihr nachher beim Abendessen nicht anmerkte, dass sie geweint hatte. Sie griff nach dem angeschlagenen Krug, der auf dem Waschtisch stand, und trat auf den Gang hinaus. Nachdem sie unschlüssig die Reihe von Türen gemustert hatte, entdeckte sie schließlich ganz hinten das Bad.

Das eiskalte Wasser tat wirklich gut. Mehrmals füllte sie ihre Handflächen, wusch sich das Gesicht und nachdem sie sich wiederholt die Augen gekühlt hatte, fühlte sie sich gleich erheblich frischer.

Danach machte sie sich rasch ans Auspacken und verstaute ihre wenigen Habseligkeiten in Schrank und Kommode. Viel Staat konnte sie mit den Sachen nicht machen, denn ihre Mutter und sie hatten sich nach dem Tod des Vaters stark einschränken müssen. Und Mutters lange Krankheit und die Beerdigung hatte so viel gekostet, dass sie sich schweren Herzens entschließen musste, alles, was noch an Möbeln und Wertsachen da war, zu verkaufen, um keine Schulden zu hinterlassen.

Aber hier würde wohl keiner daran Anstoß nehmen, wenn sie in einfachen Kleidern herumlief. Im Gegenteil – ihre Tante hätte es höchstwahrscheinlich recht übel vermerkt, wenn sie durch Eleganz aufgefallen wäre.

Sie band sich einen frischen weißen Kragen um und bürstete sorgfältig ihr Haar, bis es ihr in weichen Locken über die Schläfen fiel. Sie wusste nicht genau wie spät es war, aber ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass es wohl an der Zeit sei, nach unten zu gehen.

Aber ehe sie das Zimmer verließ, nahm Gwenaëlle noch einmal die Bilder der Eltern im Doppelrahmen zur Hand, die sie vorhin auf den kleinen Nachttisch neben ihr Bett gestellt hatte. Mit einer zärtlichen Bewegung strich sie über das Glas hinweg. »Ich weiß, dass ihr immer um mich seid, auch wenn ich euch nicht mehr wahrzunehmen vermag«, flüsterte sie liebevoll. »Haltet bitte die Hand über euer Kind, und gebt mir Kraft, das Leben hier zu ertragen und den Anforderungen, die an mich gestellt werden, gerecht zu werden.«

***

Gwenaëlle - Der Sehnsucht verfallen

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