Читать книгу Gwenaëlle - Der Sehnsucht verfallen - Thomas Riedel - Страница 5
Оглавление2
B
aroness Waynette of Brackenridge konnte man noch immer als eine schöne Frau bezeichnen, obwohl sie schon kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag stand. Aber es war eine Schönheit, die jeden kalt ließ, weil ihr jede Herzlichkeit fehlte. Man brauchte ihr bloß in die kalten, strengen Augen zu sehen, um zu wissen, dass ihr ganzes Wesen ausschließlich vom Verstand und nie vom Gefühl diktiert wurde.
Sie war es auch, die unbestritten ihre Familie und das gesamte Haus beherrschte. Ihr Mann, Baron Stratton, schien sich längst damit abgefunden zu haben, denn nur selten äußerte er eine eigene Meinung. Er vermied es nach Möglichkeit auch, irgendwelche Entschlüsse zu treffen, da er genau wusste, wie eigenwillig seine Frau war und sowieso nur das tat, was sie für richtig hielt.
Zu Beginn ihrer Ehe war das freilich einmal anders gewesen. Damals hatte er noch geglaubt, dass Waynette ihn aus Liebe geheiratet hatte. Doch schon bald darauf musste er einsehen, dass dies eine Täuschung gewesen war.
Der ›schönen Waynette‹, wie sie allgemein in ihrer Jugend genannt worden war, hatte es keineswegs an betuchten Freiern gefehlt. Aber sie sah und liebte nur einen einzigen, den Marquis Romney of Roseberry, der unweit des väterlichen Anwesens ein großes Besitztum besaß. Auf allen Gesellschaften und Festlichkeiten war er ihr Tischherr. Sie ritten fast täglich zusammen aus und spielten ›Lawn Tennis‹, und jeder, der sie kannte, war davon überzeugt, dass es in Kürze zu einer Verlobung zwischen ihnen kommen würde. Auch der junge Marquis machte keinen Hehl daraus, dass ihm die Baroness gefiel. Dennoch zögerte er aus einem ihm selbst unbegreiflichen Grund, sich ihr diesbezüglich zu erklären.
Dann kam eines Tages Waynettes Stiefschwester, die um mehrere Jahre jüngere Tempest, aus dem Internat nach Hause. Sie war fast noch ein Kind mit ihren siebzehn Jahren und besaß keineswegs die auffallende Schönheit der Älteren. Aber es ging ein unendlicher Liebreiz von der zarten, kleinen Gestalt mit den großen, verträumten Augen und den leuchtendroten Locken aus. Als sie zum ersten Mal in der Gesellschaft erschien, flogen ihr sofort alle Herzen zu.
Als ihr der gutaussehende Marquis of Roseberry vorgestellt wurde, starrte dieser sie wie ein Wesen aus einem Märchen an, und ab dieser Minute existierte Waynette für ihn nicht mehr. Und obwohl Tempest ihn nicht im Geringsten ermutigte, ihn auch nicht um eine Spur freundlicher behandelte als all die anderen adeligen jungen Gentlemen, mit denen sie tanzte oder Konversation betrieb, ließ er sie keinen Moment mehr aus den Augen und war unaufhörlich um ihre Gunst bemüht.
Waynette entging das veränderte Verhalten ihres bisherigen Verehrers natürlich nicht. Zunächst bemühte sie sich, es zu übersehen, denn es wollte einfach nicht in ihren Sinn, dass dieses ›unfertige, junge Ding‹, als das ihr die Stiefschwester erschien, ihr ernsthaft gefährlich werden könnte. So sicher fühlte sie sich schon der Zuneigung des Marquis'. Doch mit der Zeit musste sie einsehen, dass sie sich vollkommen verrechnet hatte. Als ihr der Marquis immer offensichtlicher aus dem Weg ging, stellte sie ihn eines Tages deswegen zur Rede. Er war sichtlich peinlich davon berührt, erklärte ihr dann aber ganz offen, dass er sich in seinen Gefühlen für sie getäuscht habe, denn seitdem er Tempest gesehen habe, wisse er, dass diese die Einzige sei, die er lieben und zur Frau begehre könne.
Diese Demütigung vergaß Waynette ihr Leben lang nicht, und ihr einziges Bestreben war es fortan, dass niemand davon erfahren sollte, wie schwer ihr Stolz und ihre Liebe getroffen war. Der Marquis of Roseberry solle sich nur nicht einbilden, dass sie ihm nachtrauere!
Es gab ja schließlich noch genug andere Männer, die sich um ihre Gunst rissen. Den erstbesten würde sie jetzt nehmen, nur um zu beweisen, wie wenig sie sich aus dem Marquis gemacht hatte.
Wenige Tage danach verlobte sie sich mit Baron Brackenridge, einem ihrer treuesten Verehrer, der nie darauf zu hoffen gewagt hatte, dass die stolze, schöne Baroness Waynette ihn erhören würde. Er war äußerlich ein ganz ansehnlicher Mann, verfügte aber über keine nennenswerten Reichtümer, da seine Familie nicht allzu begütert war und sein ältester Bruder das väterliche Gut erbte.
Waynettes verschmähte Liebe wandelte sich in Hass, aber dieser richtete sich weniger gegen den ehemaligen Geliebten als vielmehr gegen die Stiefschwester. Ja, Tempest war an allem schuld, - sie hatte den Marquis betört und mit ihren Unschuldsaugen in ihre Netze gezogen!
Am Abend der Verlobung kam es zwischen den beiden Schwestern zu einer heftigen Auseinandersetzung. Tempest, die ihre Glückwünsche im Trubel des Festes nur ganz flüchtig hatte anbringen können, wollte dies nachholen, als sie später allein waren – aber Waynette fuhr sie sofort heftig an: »Spar dir deine Wünsche! Oder meinst du, ich wüsste nicht genau, wie froh du bist, dass ich dir nicht mehr im Weg stehe? Ab jetzt brauchst du auf mich keine Rücksicht mehr zu nehmen und so zu tun, als wäre dir der Marquis of Roseberry gleichgültig. Es kann ja nicht mehr lange dauern, bis er dich fragt, ob du seine Frau werden willst und bei unserem Vater offiziell um deine Hand anhält. Und du … du wirst ihm beseelt in seine Arme sinken.«
Mit verständnisloser Miene hatte Tempest diesen Ausbruch über sich ergehen lassen. Sie starrte die Schwester an, als ob diese in einer fremden Sprache zu ihr rede. Endlich fasste sie sich und erwiderte: »Was habe ich eigentlich getan? Ich verstehe überhaupt nicht, was du meinst.«
»Nun spiele bloß nicht das Unschuldslamm!«, entgegnete Waynette wütend. »Das verfängt bei mir nicht. Meinst du etwa, ich hätte nicht gemerkt, dass der Marquis nur noch für dich Augen hat, seitdem du hier aufgetaucht bist? Wir waren bereits so gut wie verlobt, und du bist schuld daran, dass er sich auf einmal von mir abgewandt hat.«
»Aber glaube mir doch, Waynette, der Marquis of Roseberry ist mir vollkommen gleichgültig! Gewiss, ich habe mich ganz gern mit ihm unterhalten, weil er eine so nette, freundliche Art hat, doch mir ist der Gedanke überhaupt nicht gekommen, dass er sich für mich interessieren könnte«, versicherte Tempest eifrig. »Es wäre auch völlig zwecklos«, setzte sie nach einem kurzen Zögern mit holdem Erröten hinzu, »denn mein Herz gehört bereits einem anderen.«
Jetzt war das Erstaunen bei Waynette. »Wer ist es?«, fragte sie atemlos.
»Du kennst ihn nicht«, wehrte Tempest ab, »es ist ein unbedeutender junger Maler. Sein Name ist Anthony McMasters. Er ist der Neffe unserer Internatsvorsteherin, der öfter zu Besuch kam. Dabei haben wir uns kennen- und lieben gelernt.«
»Aber wie stellst du das vor? Unser Vater wird niemals einwilligen, dass du einen Bürgerlichen heiratest«, warf Waynette ein.
»Dann müssen Anthony und ich eben warten, bis ich mündig bin«, erwiderte Tempest mit fester Stimme. »Von ihm wird mich keine Macht der Welt trennen, und nie werde ich einen anderen lieben als ihn.«
In Waynettes Herzen regte sich ein leichter Hoffnungsschimmer. »Wenn der Marquis of Roseberry dir nun doch einen Antrag machte, … würdest du ihn tatsächlich abweisen?«, fragte sie eindringlich.
»Ganz gewiss würde ich das«, antwortete Tempest gelassen, ohne eine Sekunde des Zögerns, und bemerkte den leicht verwunderten Blick ihrer Schwester. »Deswegen verstehe ich auch nicht, warum du dich mit dem Baron of Brackenridge verlobt hast, wenn du doch eigentlich den Marquis liebst?«
»Warum? … Damit er sich nicht einbilden sollte, dass ich mir seine Wankelmütigkeit zu Herzen genommen habe«, entgegnete Waynette hochfahrend.
»Ist das nicht aber ein Unrecht gegen Stratton? Er liebt dich bestimmt sehr und geht davon aus, dass du auch ihn ebenso gernhast«, wagte Tempest vorsichtig einzuwenden.
»Ach was! … Und Baron of Brackenridge soll froh sein, dass ich ihn überhaupt nehme«, erwiderte ihre Schwester mit einem höhnischen Lächeln, ehe sie unbeherrscht fortfuhr: »Es hätte alles anders kommen können, … aber dann musstet ja du auftauchen. Der Marquis hätte dich einfach nie zu Gesicht bekommen dürfen!«
»Aber ich bin hier ebenso gut zu Hause wie du, Waynette, und du kannst kaum erwarten, dass ich auf ewig fernbleibe«, wehrte sich Tempest und fügte verärgert hinzu: »Ich muss schon sagen: Ich bin ziemlich aufgebracht über deine haltlose Beschuldigung. Wie kannst du dich nur erdreisten mir unterzuschieben, ich hätte meine Finger nach dem Marquis ausgestreckt und ihn betört? … Aber es hat wohl keinen Sinn, dass wir uns noch länger über dieses Thema unterhalten. Ich hoffe für dich, dass du von selbst zur Einsicht kommst, wie ungerechtfertigt deine impertinenten Vorwürfe sind.«
Waynette blieb ihr darauf eine Antwort schuldig. Sie war ganz von ihren Gedanken in Anspruch genommen. Hatte sie nicht doch vielleicht eine Dummheit begangen, als sie sich so übereilt verlobte, statt weiter um die Liebe des Marquis of Roseberry zu kämpfen? Wenn dieser einsah, dass Tempest nichts von ihm wissen wollte, würde er möglicherweise zu ihr zurückfinden. Warum nur, war ihre Schwester ausgerechnet jetzt zurückgekehrt? Ein paar Wochen oder gar nur ein paar Tage später, und sie wäre sicher schon Romneys Braut gewesen, und niemand hätte sie von diesem Platz verdrängen können.
In dieser Nacht fand sie keinen Schlaf. Sie entwarf die abenteuerlichsten Pläne, was sie tun könne, um den Marquis zurückzugewinnen, kam aber zu keinem endgültigen Entschluss. Immer mehr redete sie sich ein, dass ausschließlich Tempest an allem schuld sei – eine Idee, von der sie nicht mehr loskam.
Nur wenige Tage später erfuhr sie, dass der Marquis of Roseberry um die Hand ihrer Schwester angehalten habe. Ihr Vater, sehr beglückt, dass seine Jüngste eine so glänzende Partie machen sollte, wollte es zunächst nicht fassen, als Tempest ihm erklärte, sie liebe einen anderen und würde nie von ihm lassen. Er schalt sie ein törichtes Ding, das doch gar nicht wisse, was Liebe sei – ja, sie stehe ihm Begriff, ihr Glück mit den Füßen zu treten.
Aber Tempest blieb standhaft und ließ sich weder durch Bitten noch Drohen umstimmen. Als ihr Vater sich in seinem Zorn dazu hinreißen ließ, zu sagen, sie solle sich zu ihrem Liebhaber scheren, und das auf ›Castle Ballantyne‹ kein Platz mehr für sie sei, packte sie ohne Widerrede ihre Koffer und verließ das Gut.
Wenn Waynette gewollt hätte, wäre es ihr sicher gelungen, dieses endgültige Zerwürfnis zwischen ihrem Vater und ihrer Schwester zu verhindern. Aber statt ihr beizustehen, tat sie alles, um den alten Herrn noch mehr gegen Tempest aufzuhetzen.
Ein heißes Gefühl des Triumphs bemächtigte sich ihrer, als Tempest das Anwesen verlassen hatte. Nun war für sie der Weg frei, dachte sie, und keinen Moment störte sie an dem Gedanken, dass sie bereits einem anderen ihr Jawort gegeben hatte. Die Verlobung würde eben wieder aufgelöst. Ihr Vater würde schon dafür sorgen. Baron of Brackenridge bedeutete ihr ja sowieso nicht das Geringste, und das Gerede, das darauf entstehen würde, wollte sie wohl gern in Kauf nehmen, wenn sie dadurch nur zu ihrem Ziel kam.
Aber aus diesem Glückstraum wurde sie jäh herausgerissen. Der Marquis of Roseberry war durch Tempests Absage so schwer getroffen, dass er über Nacht sein Gut verließ und sich umgehend ins Ausland begab. Die Verwaltung seines schottischen Besitztums überließ er einem entfernten Verwandten.
Von dieser Stunde an war in Waynette etwas zerbrochen. Sie war zwar zu stolz, um sich ihre Enttäuschung anmerken zu lassen, aber sie verbannte jedes weiche Gefühl aus ihrem Herzen.
Nach Ablauf der Verlobungszeit heiratete sie den Baron of Brackenridge und bezog mit ihm ›Castle Ballantyne‹, das ihr ja nun allein gehören würde, wenn der Vater einmal starb – denn ihre Schwester war vom Erbe ausgeschlossen worden.
Tempest hatte ihr mehrmals geschrieben und sie herzlich gebeten, ihren doch Vater zu veranlassen, sich wieder mit ihr zu versöhnen und seine Einwilligung zu ihrer Heirat mit dem Maler zu geben. Aber sie antwortete gar nicht darauf und verheimlichte die Briefe. Ihr Vater glaubte infolge, seine jüngste Tochter sei zu verstockt, um den Weg zurück ins elterliche Haus zu finden, und Waynette verstand es auf äußerst geschickte Weise, ihn in dieser Ansicht zu bestärken. Da Tempests Mutter, seine zweite Frau, bereits kurz nach der Geburt verstorben war, gab es auch niemand, der vermittelnd hätte eingreifen können. Als ihn dann selbst ein Herzschlag ereilte, starb er, ohne sich mit seiner Tochter ausgesöhnt zu haben.
Waynettes Ehe mit dem Baron of Brackenridge war nach außen hin mustergültig. Sie schenkte ihrem Gatten drei Kinder. Murdock, der Älteste, war ihr besonderer Liebling und der einzige, dem gegenüber sie sich nachgiebig und herzlich zeigte. Wendelle, die jetzt achtzehnjährige Tochter, sah ihrer Mutter sehr ähnlich und hatte neben ihrer Schönheit auch ihr kühles, hochfahrendes Wesen geerbt. Sie war bis vor kurzem in einem vornehmen Schweizer Mädchenpensionat gewesen und sollte nun im kommenden Herbst in die aristokratische Gesellschaft eingeführt werden.
Nur Valora, der zehnjährige Nachkömmling, schien etwas aus der Art geschlagen. Sie hatte weder die bedächtige Ruhe des Vaters, noch die äußeren Vorzüge der Mutter geerbt, sondern war ein ganz ungebärdiges, wildes Kind, das mit seinen unberechenbaren Streichen nicht nur ihre Eltern, sondern auch die jeweiligen Erzieherinnen, die fortwährend wechselten, andauernd zur Verzweiflung brachte. Gerade jetzt hatte die letzte Erzieherin gekündigt und bei ihrem Abschied erklärt, lieber sechs Jungen beaufsichtigen zu wollen, als sich noch länger mit diesem ›boshaften, kleinen Frauenzimmer‹, wie sie Valora nannte, herumzuärgern.
Die Baroness musste sich darauf nach einer neuen Kraft umsehen, hatte jedoch bislang niemanden gefunden. Als sie nun völlig unerwartet die Nachricht vom Tod ihrer Stiefschwester erhielt, zugleich mit einem Brief der Verstorbenen, in dem diese die dringende Bitte aussprach, ihrem einzigen Kind eine Heimat auf ›Castle Ballantyne‹ zu gewähren, tauchte der Plan in ihr auf, der Nichte das Amt der Gouvernante zu übertragen.
Als sie ihrem Gatten diesen Entschluss mitteilte, wagte dieser allerdings einige Einwendungen zu machen, obwohl ihm längst bewusst war, dass sich seine Frau niemals von dem abbringen ließ, was sie einmal in den Kopf gesetzt und als richtig befunden hatte.
»Ich verstehe dich nicht, Waynette … Warum willst du denn dieses junge Mädchen, das durch den Tod der Eltern so hart vom Schicksal geprüft ist, mit einer solchen Verantwortung belasten?«, fragte er vorsichtig. »Schließlich ist sie doch das einzige Kind deiner Schwester und hat jetzt niemand weiter als uns.«
»Tempest war nur meine Stiefschwester, vergiss das nicht!«, unterbrach Waynette ihn rasch. »Außerdem hat sie sich durch ihre Heirat mit diesem bürgerlichen Maler selbst um das Recht gebracht, irgendwelche Forderungen stellen zu können. Mein Vater hat schon genau gewusst, warum er sie vom Erbe ausgeschlossen hat.«
Ihr Mann schüttelte den Kopf. »Ich habe eigentlich nie so recht begreifen können, warum sich der alte Herr in dieser Sache derart unversöhnlich zeigte. Er war zuvor immer sehr großzügig und soweit ich das beurteilen kann, frei von Vorurteilen.«
Waynette hütete sich natürlich, ihrem Mann einzugestehen, dass sie selbst es gewesen war, die alles dazu getan hatte, um eine Aussöhnung zwischen den beiden zu verhindern.
»Er hatte eben andere Pläne mit ihr und konnte es nicht verwinden, dass Tempest diesen Herrn Niemand geehelicht hat«, sagte sie wegwerfend.
»Ein Niemand stimmt aber nicht. Mr. McMasters hat sich in der Kunstwelt durchaus einen beachtlichen Namen gemacht«, konnte sich ihr Mann nicht enthalten ihr zu widersprechen. »Er hätte sicher noch so manches Meisterwerk geschaffen, wäre er nicht so früh verstorben.«
»Und dennoch hat er es anscheinend nicht vermocht, seine Familie so zu stellen, dass ihre Tochter jetzt nicht auf die Gnade von Verwandten angewiesen ist.«
»Du bist ungerecht«, erwiderte seine Lordschaft. »Außerdem war es den Zeilen deiner Schwester deutlich anzumerken, wie schwer es ihr gefallen ist, dich um Hilfe zu bitten.«
»Wie man sich bettet so liegt man«, erwiderte sie hart. »Jedenfalls denke ich überhaupt nicht daran, dieser Gwenaëlle zu gestatten, hier ein Faulenzerleben zu führen. Ich werde ihr von vornherein klarmachen, dass sie für das Unterkommen, das wir ihr gewähren, auch etwas zu leisten hat. Wenn sie sich nicht willig und bescheiden fügt, mag sie sehen, wo sie bleibt.«
Ihr Mann konnte ein leichtes Seufzen nicht unterdrücken, aber er wagte keine weitere Widerrede. Dennoch erfasste ihn ein gewisses Mitleid mit der jungen Vollwaisen, die mit der Hoffnung in dieses Haus kam, hier eine neue Heimat zu finden, und wohl sehr enttäuscht sein würde, wenn sie merkte, wie unerwünscht ihr Kommen war. Leider würde er ihr nur wenig helfen können, denn er selbst hatte es längst aufgegeben, seinen Willen durchzusetzen. Warum Waynette ihn damals überhaupt geheiratet hatte, wusste er auch heute noch nicht zu beantworten – aber dass es nicht aus Liebe war, die sie dazu veranlasst hatte, ihm ihr Ja-Wort zu geben, das war ihm inzwischen mehr als bewusstgeworden. Er war ihr zwar von ganzem Herzen zugetan, aber allmählich stumpften seine Gefühle an ihrer so überaus kalten, herrischen Natur ab, und er zog sich immer mehr in sich selbst zurück.
Sie gab ihm auf ihre Art immerzu deutlich zu verstehen, dass sie sich eigentlich zu ihm herabgelassen habe, und wagte es sogar von Zeit zu Zeit zu betonen, dass sie durchaus eine glänzendere Partie hätte machen können. Immer wieder brachte sie zum Ausdruck, dass ihr ›Castle Ballantyne‹ gehöre und alles, was ihr Vater hinterlassen habe. Er wäre nichts weiter als nur ein armer Schlucker gewesen, der außer seinem adeligen Namen nichts sein Eigen nannte und auch sonst nicht viel vorzuweisen hatte.
Darum wäre es nicht mehr als recht und billig, wenn sie die Entscheidungen über alle wichtigen Dinge träfe und auch die Erziehung der Kinder nach ihren Grundsätzen durchgeführt würde.
Seine Lordschaft war keine Kämpfernatur, und er hasste Auseinandersetzungen. Um des lieben Friedens willen hatte er nachgegeben und war nur dem Namen nach Herr des Hauses.
Bei der heutigen Mittagstafel unterrichtete die Baroness ihre Kinder über das Kommen ihrer Nichte, und da von Gwenaëlles Existenz bisher kaum etwas bekannt war, herrschte zunächst allgemeines Erstaunen.
»Eine unbekannte Cousine? Das ist ja interessant!«, rief Murdock. Er war nur während der Ferien zu Hause, denn er studierte schon seit mehreren Monaten an der Universität von Cambridge, um später einmal die diplomatische Laufbahn einzuschlagen. »Hoffentlich ist sie wenigstens hübsch«, fuhr er fort, »damit man mal eine kleine Abwechslung hat.«
»Sie kommt keineswegs hierher, um sich zu amüsieren«, belehrte ihn seine Mutter. »An sich besteht nicht die geringste Verpflichtung für mich, sie bei uns aufzunehmen. Es geschieht nur aus gutem Willen, weil sie nach dem Tod meiner Stiefschwester alleinsteht. Jedenfalls ist sie in ganz anderen Verhältnissen aufgewachsen als ihr, und diesen Unterschied möchte ich auch nicht allzu sehr verwischen. Sie wird einen bestimmten Bereich an Pflichten zugewiesen bekommen, damit sie gleich weiß, dass sie hier nicht das Leben einer Lady führen kann.«
»Wo soll sie denn schlafen? … Doch nicht etwa mit in meinem Zimmer?«, fragte Wendelle rasch.
»Nein, keine Sorge, meine Kleine. Ich werde ihr die Stube geben, die zuvor deine Gouvernante bewohnt hat«, erklärte ihre Mutter. »Ich habe allerdings keine Ahnung, welche Schulbildung Gwenaëlle genossen hat, doch ich hoffe, dass ihre Kenntnisse ausreichen, vorläufig deinen Unterricht zu übernehmen.«
»Ich will aber keine neue Erzieherin! Ich mag überhaupt nicht lernen!«, begehrte Valora trotzig auf.
»Du bist überhaupt nicht gefragt!«, entgegnete ihre Mutter streng. »Setz dich lieber ordentlich hin, und zappele nicht unentwegt herum!«
»Wann wird sie bei uns eintreffen?«, erkundigte sich Murdock interessiert.
»Noch heute, mit dem Abendzug«, antwortete seine Mutter. »Du könntest nachher dem Kutscher mitteilen«, wandte sie sich an ihren Mann, »dass er gegen sechs Uhr zur Bahnstation fährt. Aber er soll den Einspänner für die Einkäufe nehmen, der genügt vollkommen.«
»Wäre es denn nicht angebracht, dass einer von uns das Mädchen am Bahnhof in Empfang nimmt?«, wagte ihr Mann zu fragen.
»Das halte ich für absolut überflüssig«, wies sie ihn zurecht.
»Eigentlich hatte ich vor, am Nachmittag einen kleinen Ausflug in die Stadt zu machen. Da könnte ich es so einrichten, diese Gwenaëlle auf dem Rückweg mitzubringen«, schlug Murdock vor.
Seine Mutter sah ihn erstaunt an. Sein Interesse für diese fremde Cousine passte ihr gar nicht. Das fehlt mir gerade noch, dass er dem jungen Ding womöglich Flausen in den Kopf setzt!, dachte sie bei sich. Da werde ich beizeiten die Augen offenhalten müssen. Aber zum Glück sind seine Ferien ja bald zu Ende. Murdock hatte nun mal ein leicht entflammbares Herz, und sie lebte ständig in der Angst, er könne sich seine Karriere durch eine seiner zahlreichen Affären verderben. Kein Wunder, dass ihm die Frauen so nachlaufen, dachte sie bei sich, während sie ihren Sohn mit mütterlichem Stolz betrachtete, er sieht wirklich fabelhaft aus.
Und das stimmte auch. Murdock hatte die schlanke, große Gestalt seines Vaters geerbt und auch seine etwas lässige, weiche Art. Die Ähnlichkeit mit seiner Mutter zeigte sich nur an der Haarfarbe – beide waren tiefschwarz. Auch heute noch entdeckte man auf dem Kopf der Baroness kaum ein graues Haar.
Ein leicht blasierter Zug im Gesicht des jungen Mannes ließ darauf schließen, dass er die Genüsse des Lebens bereits ziemlich ausgekostet hatte. Er war fest davon überzeugt, dass er alles, wonach ihn verlangte, auch bekommen würde.
Sie überlegte einen Augenblick, wie sie ihren Sohn auf geschickte Weise von seinem Vorhaben abbringen konnte. Sie wollte auf keinen Fall, dass er mit Gwenaëlle zusammentraf, ehe sie selbst das Mädchen in Augenschein genommen hatte. Aber es wäre natürlich unklug gewesen, ihm das direkt zu sagen, denn dann hätte er es erst recht getan. Nein, sie musste es anders anfangen. »Ach, Murdock«, wandte sie sich darum an ihn, »ich hatte doch sehr darauf gehofft, dass du uns am Nachmittag Gesellschaft leistest. Die Muirheads haben sich zum Tee angemeldet und extra angefragt, ob du auch da wärst. Sie haben dich in diesen Ferien doch noch gar nicht zu Gesicht bekommen.«
Murdock schnitt eine Grimasse. Er verspürte nicht die geringste Lust, sich mit den langweiligen Muirheads zu unterhalten. Wahrscheinlich kam auch Florence mit, die jüngste Tochter. Er hatte ihr im vergangenen Jahr mal ein bisschen den Hof gemacht – einfach aus Langeweile, weil gerade kein anderes weibliches Wesen in der Nähe war. Aber sie schien die Sache verteufelt ernst genommen zu haben, denn seitdem suchte sie dauernd eine Gelegenheit, ihm zu begegnen und die alten Fäden wieder anzuspinnen, während er den kleinen Flirt längst über seine anderen Abenteuer vergessen hatte. Sicher war auch heutige Besuch auf ihrem Mist gewachsen. Er sah sie schon vor sich, wie sie ihn laufend anhimmelte und auf ein freundliches Wort von ihm lauerte!
Allerdings galt es seine Mutter nicht verstimmen. Er hatte im letzten Semester wieder einige Schulden gemacht und musste versuchen, von ihr eine Extrazuwendung zu erhalten. Zwar bekam er ohnehin einen recht hohen Wechsel, doch das Geld rann ihm nur so durch die Finger. Und wenn man sich eine so kostspielige Freundin leistete wie die süße Kimberly vom Ballett, dann war es letztlich kein Wunder, wenn man mit dem Geld nicht auskam. Seine Mutter würde ihm sicher allerhand Vorhaltungen machen, wenn er mit seiner Bitte herausrückte, aber dann würde er schon bekommen, was er brauchte. Bisher war es jedenfalls noch so gewesen. Aber es konnte immerhin nicht schaden, sie bei guter Laune zu halten.
»Na gut, Mutter, wenn du so großen Wert auf meine Anwesenheit legst, dann bleibe ich natürlich hier«, erwiderte er liebenswürdig. »Ich kann ja auch ein anderes Mal in die Stadt fahren. Es eilt damit nicht, und George wird unsere Cousine auch ohne mich sicher hierherbringen.«
Erleichtert nickte ihm seine Mutter zu. »Die Muirheads werden bestimmt sehr erfreut sein, dich zu sehen«, lächelte sie, wissend, dass Florence Muirhead großes Interesse an ihrem Sohn zeigte. Wenngleich dieses junge Mädchen ihr auch nicht gerade als die ideale Schwiegertochter erschien – insgeheim war sie der Ansicht, dass Murdock noch eine weitaus glänzendere Partie machen könnte – so war es ihr doch lieber, wenn er Gefallen an ihr fand, anstatt eine andere, nicht wiedergutzumachende Dummheit zu begehen.
»Bitte, Wendelle«, wandte sie sich jetzt an ihre Tochter, »klingle nach dem Mädchen. Sie soll jetzt den Tee auf der Terrasse servieren.«
»Mich entschuldigst du wohl, meine Liebe«, meldete sich ihr Mann, während er sich gleichzeitig vom Stuhl erhob, »aber ich muss unbedingt gleich zum Vorwerk hinaus, um die Aufstellung der neuen Dampfdreschmaschine zu überwachen.«
»Wie du willst«, erwiderte Waynette kühl. Sie wusste genau, dass ihr Mann seine Arbeit jedes Mal vorschob, wenn sie Besuch bekamen, weil er sich dabei zu sehr langweilte. »Dürfen wir dich zumindest zum Dinner zurückerwarten?«, rief sie ihm noch nach.
»Selbstverständlich. Also dann, … bis später!«
»Bitte, nimm mich doch mit, Vater!«, bettelte Valora. »Du hast mir doch versprochen, mir die jungen Kälbchen zu zeigen, die auf dem Vorwerk angekommen sind … Ich werde auch brav sein und dir ganz sicher nicht fortlaufen«, setzte sie aus freien Stücken hinzu und fasste dabei schmeichelnd nach seiner Hand.
Ihr Vater blickte unschlüssig zu seiner Frau hinüber. Valora war sein heimlicher Liebling, wusste aber, dass Waynette es nicht gern sah, wenn er das Kind mit auf die Felder nahm. Sie verwildere viel zu sehr, hatte sie schon mehrfach erklärt, und gewöhne sich schlechte Manieren an, wenn sie zu oft mit den Knechten und Mägden zusammenkam.
Aber heute hatte sie ausnahmsweise nichts dagegen. Seitdem die Gouvernante aus dem Hause war, gab es niemand, der sich richtig um die Kleine kümmerte, und wer wusste schon zu sagen, welche Streiche sie wieder ausheckte oder sie blamierte, wenn die Muirheads nachher kamen. »Also gut, geh mit«, sagte sie darum gnädig.
Valora stieß einen Freudenschrei aus und zog ihren Vater schnell aus dem Zimmer. Sie hatte Angst, ihre Mutter würde es sich vielleicht noch einmal anders überlegen.
Murdock hatte sich eine Zigarre angezündet und es sich auf der Terrasse in einem Stuhl bequem gemacht. Er überlegte, ob es nicht das Beste wäre, seiner Mutter gleich sein Anliegen vorzutragen. Sie schien heute recht guter Stimmung zu sein, – und dann hatte er es wenigstens hinter sich. Ihn störte nur die Gegenwart seiner Schwester, denn die brauchte ja nichts von seinen finanziellen Schwierigkeiten zu wissen. Aber Wendelle schien gar keinen Wert darauf zu legen, sich mit ihrer Mutter oder ihm zu unterhalten.
»Ich möchte noch einen Brief an meine Freundin schreiben, ehe ich mich für den Besuch umkleide. Wenn die Muirheads eingetroffen sind, lasst mich einfach rufen«, sagte sie kurz und ging fort.
Besser konnte er es gar nicht treffen.
Seine Mutter hatte sich ebenfalls auf einem Stuhl niedergelassen und trank ihren Tee in kleinen Schlucken.
Nachdem sich das Gespräch zunächst um einige belanglose Alltäglichkeiten gedreht hatte, nahm Murdock entschlossen Anlauf und sagte: »Ich muss dir etwas gestehen, Mutter. Ich habe Dummheiten gemacht …«
Erschrocken fuhr sie hoch. »Um Gottes willen, was hast du getan?«
Beruhigend strich er ihr über den Arm. »Kein Grund zur Aufregung. Ich habe halt etwas mehr ausgegeben, als ich eigentlich durfte. Du weißt ja selbst, wie das ist: Wenn man in einer teuren Verbindung ist, muss man allerhand mitmachen. Und dann habe ich auch noch einem armen Kommilitonen etwas vorgestreckt und es bislang nicht zurückbekommen, … und, nun ja, … jetzt sitze ich selbst in der Patsche.« Er hütete sich natürlich zu erwähnen, dass hauptsächlich die kleine Kimberly daran schuld war, wenn er nicht mit seinen Mitteln auskam - denn dafür hätte seine Mutter überhaupt kein Verständnis gehabt.
Erleichtert atmete sie auf. Im ersten Moment hatte sie schon gefürchtet, ihr Sohn habe sich auf irgendein Abenteuer mit einer Frau eingelassen. Instinktiv hatte sie an ein uneheliches Kind gedacht, aber zum Glück ging es nur um Geld! Dennoch wollte sie ihrem Sohn nicht merken lassen, was sie dachte, denn sonst wurde er zu leichtsinnig. Daher versuchte sie, einen leicht vorwurfsvollen Ton anzuschlagen, als sie sagte: »Ich finde, du hast in den letzten Monaten reichlich viel verbraucht, Murdock! Du weißt, ich habe dir immer gern ausgeholfen, aber schließlich sind auch noch deine beiden Schwestern da, die deinetwegen nicht zu kurz kommen dürfen.«
»Nein, nein, … das sollen sie ja auch nicht, Mutter«, beschwichtigte er direkt, »und ich verspreche dir, es ist bestimmt das letzte Mal, dass ich dir mit einer solchen Bitte komme. Aber diesmal hilfst du mir doch, nicht wahr?« Er war aufgestanden und hatte sich auf einem Hocker neben ihrem Stuhl niedergelassen. Schmeichelnd nahm er ihre Hände in die seinen und lachte sie aus seinen dunklen Augen an. Er wusste nur zu gut, wie wenig sie ihm in solchen Momenten etwas abschlagen konnte.
»Also gut, … wieviel brauchst du?«, fragte sie, und es klang alles andere als streng.
»Einhundert Pfund …«, sagte er nach kurzem Zögern. Seine Schulden betrugen zwar deutlich weniger, aber es konnte nicht schaden, wenn er einen ordentlichen Überschuss behielt. Nachher ärgerte er sich, dass er nicht mehr verlangt hatte.
Seine Mutter erhob sich, ging ins Haus und kam nach einigen Minuten mit einem Scheck zurück.
»Das ist viel Geld, mein Junge«, bemerkte sie, als sie ihm das Papier gab und fügte mahnend hinzu: »Sage deinem Vater nichts davon!«
»Ich werde mich hüten!«, lachte Murdock und küsste ihre Hand. »Tausend Dank, Mutter … Und jetzt erlaubst du wohl, dass ich mich umkleide, damit ich rechtzeitig fertig bin, wenn nachher die Muirheads kommen.« Fröhlich pfeifend richtete er sich auf und winkte ihr noch einmal zu, ehe er die Terrasse verließ.
Sie lehnte sich mit einem befriedigten Seufzen in ihrem Stuhl zurück. Es stimmt schon, Murdock ist etwas leichtsinnig, … aber warum soll er nicht das Leben genießen?, dachte sie. Er war ihr immer ein zärtlicher und lieber Sohn, der ihrem Herzen viel näherstand, als die Töchter, da konnte sie ihm ruhig auch mal eine Extrafreude gönnen.
***