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ie Familie war bereits vollzählig im Salon versammelt, als Gwenaëlle nach bescheidenem Klopfen eintrat. Alle Augen richteten sich gespannt in ihre Richtung.

»Das also ist eure Cousine Gwenaëlle McMasters«, stellte die Baroness of Brackenridge sie vor und forderte mit einer kurzen Handbewegung ihr Näherkommen, während ihr der Baron auf halbem Weg entgegenkam.

»Ich bin dein Onkel Stratton«, sagte er freundlich und streckte ihr die Hand entgegen. »Willkommen auf ›Castle Ballantyne‹, liebe Gwenaëlle! Möge es dir bei uns recht gut gefallen.«

»Vielen Dank, Onkel Stratton«, antwortete sie, knickste und blickte ihn aus ihren großen Augen an. »Es ist sehr gütig von dir und Tante Waynette, mich bei euch aufzunehmen.«

Sie spürte das Wohlwollen, welches ihr von ihrem Onkel entgegengebracht wurde, und nach dem vorgehenden kühlen Empfang durch ihre Tante tat ihr seine Freundlichkeit doppelt gut.

Murdock, der bisher gelangweilt am Fenster gestanden hatte, kam jetzt ebenfalls etwas näher. Donnerwetter, dachte er bei sich, ist das ja ein bezauberndes Geschöpf! Sie sieht zwar ein bisschen altbacken aus in ihrem schwarzen Kleid, aber sonst … Alle Achtung! Ihre Augen, und dazu ihr rotgoldenes Haar … Einfach unbeschreiblich! »Wenn du gestattest, liebe Cousine. Ich bin Murdock, dein Cousin«, sagte er mit einer korrekten Verbeugung und versuchte, mit einem bezwingenden Lächeln, Eindruck auf sie zu machen.

Gwenaëlle entzog ihm ihre Hand sehr schnell und hielt die Augen gesenkt.

Die Baroness hatte ihren Sohn beobachtet und hielt es für richtig, einzugreifen, um eine weitere Unterhaltung zwischen Murdock und ihrer Nichte zu verhindern. »Möchtest du nicht auch deine Cousinen begrüßen, Gwenaëlle?«, fragte sie ihn einem Ton, der befehlend und wenig freundlich klang.

Gwenaëlle näherte sich dem Stuhl, auf dem Wendelle saß. Aber diese hielt es nicht für nötig aufzustehen. Sie nickte ihr nur herablassend zu, ohne ihr die Hand zu geben. Unschlüssig blieb Gwenaëlle einen Moment neben ihr stehen. Sie spürte fast körperlich die feindselige Gesinnung, die ihr von Wendelle entgegengebracht wurde. Dann wandte sie sich um und bemerkte die neugierig auf sie gerichteten Kinderaugen der jüngsten Tochter. »Du bist gewiss die kleine Valora«, sagte sie freundlich zu ihr. »Ich hoffe, wir werden uns gut miteinander vertragen.«

Aber das Kind wich zurück und versteckte trotzig die Hände auf dem Rücken. »Bäh … Was bist du hässlich in deinem schwarzen Kleid!«, rief sie ungezogen. »Ich mag dich nicht, und ich will auch keine neue Gouvernante! Du kannst gleich wieder dahingehen, woher du gekommen bist! Verschwinde!«

»Valora! Hör sofort auf damit! Was ist das für ein Benehmen?«, reagierte ihr Vater scharf. »Du wirst Gwenaëlle sofort die Hand geben und benimmst dich, wie es sich für ein wohlerzogenes Mädchen gehört.«

»Lass sie doch«, mischte sich seine Frau spöttisch lächelnd ein. »Man muss die Worte eines Kindes ja nicht so ernst nehmen … Und nun zu Tisch, bitte!« Damit schnitt sie jede weitere Erörterung ab und nahm am oberen Ende der Tafel Platz.

Gwenaëlle hatte sich stumm auf dem ihr zugewiesenen Platz niedergelassen und bemühte sich, die eben erlittenen Kränkungen zu überwinden. Was habe ich nur getan, dass mir alle Verwandten, außer meinem Onkel und Murdock, so feindlich begegnen? Wenn sie mich doch alle als einen lästigen Eindringling empfinden, wäre es besser gewesen, mich gar nicht erst herzuholen! Aber ich will den Mut nicht verlieren. Vielleicht gelingt es mir im Laufe der Zeit noch, ihre Herzen zu gewinnen.

Während der Mahlzeit drehte sich das Gespräch hauptsächlich um den Besuch des Nachmittags. Die Muirheads hatten allerhand Neuigkeiten aus der Nachbarschaft mitgebracht, und die wurden jetzt eingehend erörtert.

Weder ihre Tante noch Wendelle dachten daran, Gwenaëlle in die Unterhaltung einzubeziehen. Zwar machten sowohl der Baron als auch Murdock ein paar entsprechende Versuche, aber Waynette unterbrach sie sofort, ehe Gwenaëlle überhaupt antworten konnte.

Sie beobachtete ihre Nichte mit scharfen Augen. Nicht die geringste Kleinigkeit entging ihr. Sie scheint wirklich tadellos erzogen zu sein, dachte sie bei sich, und hat ausgezeichnete Manieren. Das muss ich ihr lassen. Aber es passt mir nicht, dass meine Männer ihr so viel Aufmerksamkeit schenken. Da muss ich beizeiten einen Riegel vorschieben. Nicht, dass Gwenaëlle noch auf den Gedanken kommt, bei den beiden irgendwelche Unterstützung zu finden. Früher als sonst hob sie die Tafel auf. »Du kannst dich jetzt auf dein Zimmer zurückziehen, Gwenaëlle«, bestimmte sie. »Morgen früh um acht Uhr erwarte ich dich in meinem Zimmer. Dann werde ich dir genaue Anweisungen für Valoras Unterricht geben und deine weiteren Aufgaben mit dir besprechen. Gute Nacht!«

Gwenaëlle schob ihren Stuhl zurück und stand auf. Dann verabschiedete sie sich höflich und verließ das Zimmer.

*

Mit aufrichtigem Bedauern sah Murdock ihr nach. Nur zu gern hätte er seine Cousine noch länger beobachtet. Sie war so ganz anders als die Frauen und Mädchen, die er bisher kennengelernt hatte. Von ihr ging ein eigener Zauber aus, den er unbedingt näher ergründen musste.

Wenn ich dagegen an diese Florence Muirhead denke! Wie eine Klette hat sich diesen Nachmittag wieder an mich gehängt und ist mir nicht von der Seite gewichen. Aus meiner Freundlichkeit scheint sie neue Hoffnung zu schöpfen und wiegt sich nun wahrscheinlich in dem Gedanken, ich wolle den alten Flirt mit ihr wiederaufnehmen und würde sogar ernste Absichten hegen. Dabei bin ich nur ein wenig nett zu ihr gewesen, um meine Mutter bei Laune zu halten, weil sie sich mir gegenüber großzügig in der Geldangelegenheit gezeigt hat. Er seufzte innerlich. Na gut, davon kann Florence ja nichts wissen … Ich werde ihr in den nächsten Tagen möglichst aus dem Weg gehen und mich stattdessen ein bisschen mehr um meine neue Cousine kümmern. Ich muss nur auf Mutter aufpassen, damit sie nichts merkt. Ich begreife gar nicht, woher ihre unübersehbare Abneigung ihr gegenüber kommt? Schade, dass meine Ferien bald vorbei sind und ich wieder fort muss. Aber Gwenaëlle bleibt ja vorläufig im Haus. Ich werde sie also wiedersehen, wenn ich über Weihnachten hier bin. Über diese Betrachtungen hatte er gar nicht auf das Gespräch der anderen geachtet.

»Jetzt habe ich dich schon zum zweiten Mal gefragt, ob du mich morgen mit in die Stadt nimmst«, richtete Wendelle sich vorwurfsvoll an ihn, »und du antwortest überhaupt nicht. Ich möchte nur wissen, wo du deine Gedanken hast!«

»Wie? … Was?«, fuhr Murdock hoch. »Ach so, ja. Ich überlegte gerade, dass ich eigentlich die nächsten Tage unbedingt dazu benutzen muss, um mir aus der Bibliothek verschiedene Bücher herauszusuchen, die ich für mein Studium brauche.«

»Seit wann bist du denn so lerneifrig?«, meinte seine Schwester spöttisch. »Aber bitte! … Wenn du keine Zeit hast, kann mich ja auch der Kutscher fahren. Ich muss unbedingt ein paar neue Kleider für den Sommer haben, denn wir werden ja sicherlich des Öfteren von der Nachbarschaft eingeladen. Nicht wahr, Mutter?«

»Gewiss, mein Kind«, antwortete ihre Mutter. »Ich denke auch, dass wir vielleicht selbst im nächsten Monat eine größere Abendgesellschaft geben. Es wird wohl das Beste sein, wenn ich dich morgen in die Stadt begleite und wir deine Garderobe gemeinsam aussuchen.«

Sie wird langsam heiratsfähig, überlegte Waynette. Es wird Zeit, sich nach einem passenden Ehemann für sie umzuschauen. Sie ging die in Frage kommenden jungen Männer durch, aber es war eigentlich keiner unter ihnen, der ihr für Wendelle gut genug erschien. Dass er von bestem Adel sein musste, war ja selbstverständlich, aber elegant und gutaussehend sollte er auch sein und womöglich recht reich. Doch das wichtigste war, dass beide sich liebten, denn Wendelle sollte glücklicher werden als sie selbst in ihrer Ehe mit einem Mann, den sie nur genommen hatte, weil ein anderer sie verschmäht hatte …

Marquis Romney of Roseberry … was mag nur aus ihm geworden sein? Ich habe ihn nie vergessen können. Wenn er doch nur wüsste, wie sehr ich immer noch unter der Enttäuschung leide, die er mir damals bereitet hat.

Es ging das Gerücht um, dass er sich irgendwo im Ausland verheiratet habe. Jedenfalls hatte er sich seit damals nicht wieder in seiner Heimat sehen lassen. Sein Verwandter, dem er die Verwaltung seines Besitztums übergeben hatte, war ein Eigenbrötler und pflegte keinerlei Verkehr mit der Nachbarschaft. Wenn ihn jemand über den Marquis auszufragen versuchte, behauptete er, nichts von ihm zu gehört zu haben.

Durch den Eintritt Gwenaëlles in ihr Haus, und vor allem durch deren unwahrscheinliche Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, waren all die schmerzhaften Erinnerungen erneut wachgerufen worden. Am liebsten hätte sie das junge Mädchen unter irgendeinem Vorwand wieder fortgeschickt, aber das war ja nicht mehr gut möglich.

Jedenfalls war sie entschlossen, ihrer Nichte immer wieder vor Augen zu halten, dass man sie nur aus Gnade und Barmherzigkeit hier aufgenommen habe. Sie sollte zu keinem Zeitpunkt auf den Gedanken kommen, sich als gleichberechtigtes Familienmitglied zu fühlen.

***

Gwenaëlle - Der Sehnsucht verfallen

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