Читать книгу Steine zählen - Thomas Röthlisberger - Страница 10
Märta
Оглавление»Und ob du diesen Mann anzeigen wirst!«, ereiferte sich Marja.
Ihre Stimme schraubte sich durch das fließende Wasser in schrille Höhen. Das Besteck klirrte, wenn sie es auf das Abtropfbrett warf. Sie schien ihre Wut bis in die Fingerspitzen zu spüren.
Märta saß am Küchentisch und betrachtete die sauber gewaschenen Gardinen. Ihre Schwester war fünf Jahre jünger. Das war der Unterschied, aus dem alle anderen Unterschiede hervorgingen. Darauf führte Märta es jeweils zurück. Weil es so am einfachsten war.
»Aber …«, begann sie.
»… er hat doch nur in die Luft geschossen«, machte Marja den Satz fertig.
»Bei seinen Augen«, sagte Märta.
»Bei seinen Augen«, wiederholte Arto, der unter der Tür aufgetaucht war, spöttisch.
»Ja«, sagte Märta und knetete ihre Hände.
Die Knoten an den Fingergelenken waren gerötet und schmerzten. Das Kneten half nicht. Sie wusste es. Aber es war unmöglich, dazusitzen und die Hände in den Schoß zu legen, wenn sie schmerzten. Immer hatten die Hände arbeiten müssen. Die Knoten zeugten davon. Man brauchte sich ihrer nicht zu schämen.
»Da, schaut her«, hätte Märta sagen können, »diese Hände haben hart gearbeitet.«
Aber sie sagte nichts. Es tat weh, die Hände zu betrachten. Weil sie nicht mehr zur Arbeit taugten. Sie beobachtete, wie Marjas Hände geschickt und flink mit Besteck und Geschirr hantierten. Dabei war sie doch auch schon siebenundsechzig. Aber Knoten hatte sie keine. An ihren Händen hatte sie keine geröteten, schmerzenden Schwellungen.
»Du willst den Vorfall also melden?«, fragte Arto.
Märta schüttelte den Kopf.
»Ich an deiner Stelle würde das tun«, sagte er. »Wer weiß, was deinem Alten sonst noch einfällt.«
»Er hat dich nicht nur bedroht«, sagte Marja. »Er hat es ernst gemeint. Der Dreckskerl!«
Märta reagierte nicht. Die Katze, die neben ihr auf der Küchenbank lag, erhob sich gähnend, streckte die Läufe und sprang etwas ungelenk auf den Boden. Nach einem Blick in den leeren Futternapf strich sie an Artos Beinen vorbei und verschwand im Flur.
»Warum willst du ihn immer noch schützen?«, fragte Marja. »Er hat es nicht verdient. Nein, das hat er nicht. Nach allem.«
Nach allem. Märta hatte die beiden Worte gehört. Nach allem. Aber sie waren zu groß, zu schwer, als dass sie sie hätte begreifen können. Und doch musste sie darüber nachdenken, ob ihr Leben nicht verpfuscht gewesen war. Ja, verpfuscht. Von Anfang an. Das ganze lange, kurze Leben. Es war nicht das erste Mal, dass sie das dachte.
Arto hatte sie hingefahren, als sie ein paar zusätzliche Sachen holen wollte. Eigentlich hatte sie nur zwei Tage bei der Schwester verbringen wollen. Wie jedes Jahr einmal. Denn seit Arto und Matti sich verkracht hatten, kamen weder Marja noch ihr Mann auf den Hof der Nieminens. So war das seit ihrem Streit, damals auf dem Sommerfest.
Arto hatte sie hingefahren. Märta bat ihn, an der Kreuzung zu warten, wo der Zufahrtsweg zum Hof abzweigte.
»Ich werde diesmal noch ein paar Tage länger bleiben«, hatte sie Matti am Telefon gesagt.
Er hatte etwas Unverständliches gebrummt. Oder etwas, was sie gar nicht hören wollte. Dann hatte er aufgehängt.
Sie ging nun auf dem gewundenen Fahrweg durch den Wald. Dort, wo die Sonne nicht hinkam, war es feucht vom Regen der vergangenen Nacht. In der Lichtung, in der nur vereinzelte Kiefern und Birken wuchsen, stand die Hitze aber noch sommerlich brütend. Es war Mitte August, und der Zenit des Jahres war längst überschritten. Wenn sie daran dachte, dass Matti den Winter hier draußen allein würde überstehen müssen, bekam sie beinahe wieder ein schlechtes Gewissen.
Bei dem kleinen Mückentümpel blieb sie stehen. Er war vollkommen mit Entengrütze bedeckt. Von hier waren es noch hundert Meter bis zum Hof. Eine Wegbiegung und sie wäre da.
Wie nur sollte sie es Matti sagen?
Arto hatte die Scheiben heruntergelassen und im Autositz gedöst. Der Schuss hatte ihn in einem seltsamen Traum erwischt, und im ersten Augenblick wusste er nicht, ob er selber getroffen war. Er stieg aus dem Wagen und horchte. Da war nur das Summen der Insekten und ein leichter Luftzug, der durch die Bäume strich. Nicht einmal das Brummen der Hauptstraße war zu hören, weil der Wind aus der anderen Richtung kam.
Er wartete. Aber es folgten keine weiteren Schüsse mehr, dass er die Richtung hätte feststellen können, in der sich der Schütze befand. An die Jagdvorschriften hielt sich hier eh keiner. Vor die Flinte laufen sollte man hier niemandem.
Plötzlich war er unsicher, ob er sich nicht verhört hatte. Ob es nicht nur der Traum gewesen war, der ihn aufgeschreckt hatte. Schließlich ging er doch zögerlich in den Wald hinein.
Auf halbem Weg kam ihm Märta entgegen. In ihrem Gesicht stand alles, was er wissen musste. Sie sagte nichts. Sie starrte ihn nur an. Wie einen Fremden. Sie weinte nicht einmal. Das würde sie nachholen, wenn der Schock verebbte.
Er griff ihr unter den Arm und führte sie zurück zum Wagen. Gepäck hatte sie keines dabei. Er verkniff es sich, danach zu fragen. Überhaupt wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte. Auf der ganzen Fahrt zurück sprach keiner der beiden ein Wort.
Arto holte sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank. Zu jeder anderen Zeit hätte sich Marja mit verschränkten Armen vor ihn hingestellt. Jetzt warf sie ihm nur einen missbilligenden Blick zu. Er wusste es, ohne dass er hinschaute.
Spielte es eine Rolle, ob Märta die Wahrheit sagte? Der Alte hatte geschossen, das stritt sie nicht ab. Eigentlich genügte das.
Er riss die Lasche an der Dose auf und trank in langen Zügen. Das Bier schmeckte nicht wie sonst, dachte er, als er sich den Schaum von den Lippen wischte. Alles machte er kaputt, sein Schwager, dieses Arsch.
»Ich ruf jetzt auf dem Posten an«, sagte er zu Märta und stellte die Bierdose energisch auf den Tisch.
»Nichts wirst du«, mischte sich da überraschend Marja ein. »Das ist Frauensache, und wenn jemand anruft, dann ist das Märta selbst.«
Arto hielt sich mit beiden Händen an seinem Gürtel fest. Er versuchte, die Hose höher zu ziehen, als sei sie nicht nur wegen seines Bauchumfangs tiefer gerutscht. Und als hätte er, zu spät wieder einmal, diesen Griff der Ohnmacht realisiert, schnaubte er durch die Nase, ließ den Gurt, wo er war, und griff sich das Bier. Er stiefelte aus dem Haus. Die Tür schlug hinter ihm zu. Wenig später hörte man, wie drüben beim Schuppen die Axt wütend in die Holzkloben fuhr. Jetzt war es an Marja, die Luft hörbar auszustoßen.
»Also«, sagte sie und ließ das Abwaschwasser aus dem Trog laufen. »Wie war das nun genau? Er hat geschossen. So viel ist klar. Aber der Rest?«
Märta schwieg. Das Wasser gurgelte im Siphon. Marja rieb die matt gewordene Abdeckung aus Inox-Stahl trocken.
»Wie kam es, dass er plötzlich das Gewehr in der Hand hielt?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht«, murmelte Märta.
»Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht!«
Marjas Stimme war lauter geworden. Wenn sie an ihrer Schwester etwas hasste, dann dieses Kleinlaute. Dass sie sich so mutlos verhielt, statt die Fäuste zu ballen.
»Du bist die Einzige, die dabei war – wer soll es denn sonst wissen, wenn nicht du?«
Märta hob hilflos die Schultern.
»Du bist auf den Hof gekommen«, sagte Marja. »Und dort hast du deinen Mann angetroffen. Draußen, auf dem Hof, auf der Vortreppe. Er hat auf dich gewartet. Mit dem Gewehr. Er wusste, dass du auftauchen würdest. Du hast ihn ja angerufen. Du hast ihm am Telefon mitgeteilt, dass du kommen würdest. War es so?«
Märta schüttelte den Kopf. Sie nestelte das Taschentuch aus der Schürzentasche. Als sie es endlich richtig gefaltet hatte, um die Tränen abzuwischen, hatte sie bereits vergessen, dass sie hatte weinen wollen.
»Wo hast du ihn dann getroffen?«, fragte Marja ungeduldig. »Wo befand sich Matti?«
»In der Küche«, sagte Märta. »Er saß in der Küche.«
»Beim Schnaps«, stellte Marja fest.
Ihre Stimme hatte einen verächtlichen Unterton.
»In der Küche«, wiederholte Märta.
»Beim Schnaps also«, blieb Marja hartnäckig. »Und dann sagtest du ihm, dass du ausziehen würdest.«
»Nein«, wehrte Märta ab. »Nein.«
»Nein?«
»Nein.«
»Märta!«
Märta blickte erschrocken auf.
»Sag mir die Wahrheit«, forderte Marja sie auf. »Die Wahrheit, Märta!«
»Ich wagte nicht, ihm die Wahrheit zu sagen.«
Märta flüsterte es beinahe. Marja setzte sich zu ihr und hielt ihr die zitternden Hände.
»Das glaube ich wohl. Aber wenn du es ihm nicht gesagt hast, hatte er doch auch keinen Grund, gleich das Gewehr zu holen?«
Märta schwieg.
»Märta, was hast du Matti gesagt?«, drang Marja in die Schwester, als diese keine Antwort gab.
Märta hob hilflos die Schultern.
»Wie nun also?«, fragte Marja ungeduldig.
»Er hat es erraten« sagte Märta.
»Hat er gesagt: Gib es nur zu, du willst mich verlassen – war es so Märta?«
Sie nickte.
»Du hättest es ihm sonst nicht gesagt?«
Märta schüttelte den Kopf.
»Ich wusste doch selbst nicht, ob ich das wirklich wollte.«
»Aber jetzt bist du sicher?«, wollte Marja wissen.
Märta nickte zögernd.
»Dann rufe ich jetzt bei der Polizei an«, sagte Marja, »und du erzählst Henrik Nyström, was genau vorgefallen ist.«
Märta schwieg. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet. Wie zum Gebet.