Читать книгу Steine zählen - Thomas Röthlisberger - Страница 12
Olli
ОглавлениеOlli hatte das Fenster weit geöffnet. Für seine Begriffe war die Nacht richtiggehend schwül. Als ob sich die ganze Hitze des vergangenen Sommers noch in der Wohnung staute. Er hielt es jedenfalls nur in T-Shirt und Unterhose aus. Die Lautstärke des PCs hatte er leiser gestellt, damit die Nachbarschaft im Haus das Gestöhne nicht mitbekam. Reklamationen waren das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Wie immer, wenn er zu neuem Stoff gekommen war, hatte er ausgiebig gekifft. Nun fläzte er sich auf dem Sofa und sah zu, wie sie es auf dem Bildschirm miteinander trieben. Er befand sich bereits zu tief in einer Wolke von Trägheit, als dass er noch hätte Hand an sich legen können.
Rauchen, trinken, Hand an sich legen: Bei einigen Dingen pflegte er sich jeweils gewählter auszudrücken, als man ihm zugetraut hätte. Seit Irma ihn verlassen hatte, war er abgesackt. Da gab es nichts zu beschönigen. Nur die Sprechweise hatte er aufrechterhalten können. Alles andere schlitterte immer wieder gefährlich am Abgrund vorbei. Fünf Jahre war er mit Irma verlobt gewesen. Zu einer Heirat hatte er sich nie entschließen können. Weiß der Teufel, was ihn daran gehindert hatte.
Er stierte mit offenem Mund auf den Bildschirm. Ohne Stöhnen war das nichts. Er hätte aufstehen und das Fenster schließen müssen, um den Ton lauter machen zu können. Die Anstrengung lohnte sich nicht. Vielleicht war Irma auch nur gegangen, weil er sie irgendwann gefragt hatte, ob sie beim Sex nicht mal ein wenig, also richtig, also hemmungslos geil stöhnen könnte. Irma wollte nicht. Sie fand das taktlos und abstoßend. Eine Zumutung. Überhaupt: eine Schweinerei! Irma wollte nicht stöhnen. Sie wollte geheiratet werden. Das Geschäft war nicht zustande gekommen.
Natürlich hatte es nach Irma noch ein paar andere Frauen gegeben. Auch solche, die stöhnten. Schließlich war er mit siebenunddreißig noch nicht aus dem Rennen gewesen. Aber an jeder hing wieder ein unüberblickbarer Wust von Zwängen, Familie, Job und der ganze psychologische Scheiß, der seine kalten Finger um den Hals der Beziehung legte. So gab er es schließlich auf, entsagte, besann sich auf sich selber und die Vorteile des Internets, das sich per Tastendruck und Mausklick zu- oder ausschalten ließ.
Die Zeit verging. Die Tage schrumpften, die Jahre versanken in Bedeutungslosigkeit. Nun war er bereits vierundvierzig. Irma sah er ab und zu, die Stadt war ja trotz ihrer Größe provinziell geblieben. Irma war jetzt verheiratet und hatte zwei Kinder, die bereits eingeschult waren. Er ging ihr aus dem Weg. Jedes Mal wenn er sie sah, beim Einkaufen, beim Eislutschen mit den Kindern, bei einer Auseinandersetzung mit der Tochter, deren vorpubertäre Ausbrüche erste Kratzer am Familienidyll hinterließen, jedes Mal kam eine seltsame Verlegenheit über ihn. Wie etwas Peinliches, er wusste nicht, was es war. Nein, er hatte nichts verpasst, schüttelte er unwillig den Kopf. Das war es doch, was ihm das Unterbewusstsein einflüstern wollte: Du hast es vermasselt. Du allein. Das alles hättest du haben können. Deine Kinder könnten es sein, deine Frau. Sie hätten dich aus dem Sumpf herausgezogen, worin du steckst, deine Frau und deine Kinder. Du hättest die Chance gehabt, endlich so zu werden wie alle anderen. Aber du hast es nicht gepackt. Du hast es weggeworfen. Du warst zu feige, du warst zu faul!
Und wenn schon.
Er angelte nach der Bierdose, die neben dem Bildschirm auf dem Couchtisch stand. Statt sie zu fassen, stieß er sie um. Der Inhalt, zum Glück nicht mehr viel, ergoss sich über den angebissenen Rest Pizza im Karton, der vom Fett schon ganz pampig geworden war. Pampig wie sein Bauch, den er sich in den eineinhalb Jahren zugelegt hatte, seit er vom Sozialdienst lebte und keiner regelmäßigen Arbeit mehr nachging.
Olli seufzte. Seine Augen suchten nach dem Plastikbeutel mit dem betörend duftenden Gras. Vielleicht lag er hinter dem Pizzakarton. Aus seiner halb liegenden Stellung konnte er ihn nicht sehen. Jedenfalls war das Gras nicht nass geworden. Mehr konnte man vom Leben nicht verlangen. Tat er ja auch nicht.
Aber die Sache mit dem Sozialamt war schon mühsam. So mühsam, wie alles geworden war, seit er die Stelle verloren hatte. Jetzt hatten ihn auch die auf dem Arbeitsamt als kaum mehr vermittelbar eingestuft. Bei Pulkkinen & Söhne hatte er seinerzeit eine Anlehre als Maurer gemacht und anschließend im Betrieb bleiben können. Der Seniorchef, der seinen Vater kannte, hatte stets ein Auge oder zwei zugedrückt, wenn Olli, wie das quartalsweise vorkam, zu spät oder gar nicht zur Arbeit erschienen war.
»Na, Olli«, brummte er jeweils, »wieder mal über die Stränge geschlagen? Jetzt aber los, in die Hände gespuckt, wir brauchen dich!«
Und Olli hatte, beinahe militärisch stramm, die Hacken zusammengeschlagen vor so viel Großmut.
Er hatte an einigen Wohnblocks mitgebaut, die hier an der Peripherie der Stadt standen, Blocks wie der, in dem er wohnte. Keine hochstehende Architektur. Nutzbauten eben. Aber man hatte am Abend sein Tagewerk überblicken können. Stein auf Stein, sauber gepflastert. Frisch gegossene Betonpfeiler und Betondecken. Und man hatte gewusst, warum man müde war, weshalb der Rücken schmerzte. Woher die Schwielen stammten an den Händen und die grauen Spritzer im Gesicht. Auch das Bier, das verdiente, hatte anders geschmeckt.
Als der alte Pulkkinen in Pension gegangen war, hatten die Söhne den Betrieb umgekrempelt. Restrukturierung war das zugehörige Wort. Da war für ihn und ein paar andere kein Platz mehr gewesen. Primär müsse die Firma überleben, hatte es geheißen. Es tue ihnen leid, besten Dank für die geleisteten Dienste, man arbeite an einem Sozialplan. Nur wurde dann nichts daraus. Widrige Umstände. Schulterzucken. Das war‘s.
Eigentlich hatte er ja alles, was er brauchte. Das Sozialamt bezahlte die kleine Wohnung. Die Arbeit fehlte ihm irgendwann auch nicht mehr. Im Gegenteil. Er benötigte für alles plötzlich viel mehr Zeit. Die Langsamkeit hatte ihn entdeckt, die Trägheit stand ihm zur Seite, und er fragte sich, woher er früher die Zeit genommen hatte, um überhaupt zur Arbeit zu gehen.
Natürlich wäre er, wie einige ehemalige Kollegen, lieber mit einem dieser alten Ami-Schlitten herumgefahren, Spannweite drei Meter im Heck und Kotflügel so groß wie der Rumpf eines Kleinflugzeugs. Stattdessen hockte er noch immer in dem zerbeulten Volvo ohne Radkappen, der aussah wie ein zuschanden gerittenes Pferd. Wenn er durch das Quartier kurvte, blickten sich alle nach ihm um, weil der Motor röhrte, als falle gleich der Auspuff ab. Tat er aber nicht.
Manchmal fuhr er mit der Kiste nach Norden, über Asikkala und Padasjoki nach Kasiniemi, geografisch und geschichtlich zurück in die Gegend, in der er aufgewachsen war und wo der Hof der Eltern stand. Er trauerte dieser Zeit nicht nach. Er fuhr nur hin, wenn eine finanzielle Zusatzspritze unumgänglich war. Die Allgemeinheit bezahlte weder Auto noch Gras. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als bei seinen Alten vorzutraben und diese dazu zu bringen, dass sie etwas locker machten.
Taten sie aber längst nicht immer. Es kam ganz darauf an, in welcher Verfassung man den Vater antraf. Und die Verfassung hing nicht nur von dessen Gesundheitszustand ab. Der Alte war unberechenbar. Nach wie vor. Und gewalttätig. Keiner wusste das besser als Olli. Mit zunehmendem Alter war das nicht anders geworden. Aber es war immerhin einfacher, seinen physischen Attacken auszuweichen. Dafür hatte der Vater verbal noch zugelegt.
»Wenn du wenigstens anständig saufen würdest«, hatte er letzthin gesagt. »Aber diese hirnschwache Kifferei. Richtige Männer saufen! Alles andere ist Weiberzeug. Oder schwul.«
Klar: Wenn er nur gesoffen hätte, wenn er nur schwul gewesen wäre, oder auch beides zusammen, dann hätten sie ihn sogar beim Militär genommen. Aber einen, der Illegales konsumierte und auch noch damit handelte … Tat er aber schon lange nicht mehr. Nur noch Eigenbedarf. Alles andere war zu aufreibend. Er vertrug das nicht mehr. Es gab Bluthochdruck, Magengeschwüre, Gallensteine. Stress, einfach nur Stress. Hatte er alles im Internet gelesen. Er wusste zu viel. Ihm konnte keiner mehr etwas vormachen.
»Hosenscheißer!«, hatte sein Alter ihn betitelt. »Hypochonder!«
Woher er den Ausdruck hatte? Er wusste ja nicht einmal, wie man einen Computer startete. Keine Ahnung hatte er. Und als Vorbild – hach! Nur nicht so werden wie der Alte. Vielleicht lag genau darin der Schlüssel, dass er, der Sohn, aus der Rolle gefallen war.
Olli versuchte sich aufzurichten. Er wollte weder rauchen noch saufen. Genug für heute! Er war ganz einfach wütend. Wütend über den Alten, der ihn in die Welt gesetzt hatte. Wütend über die Mutter, die sich von diesem Mistkerl hatte unter die Röcke greifen lassen. Und wütend über sich selber, weil er sich wieder in geistige Turbulenzen hatte verwickeln lassen. Reine Energieverschwendung!
Und jetzt war sie dahin, die Energie. So ging es immer. Eigentlich wusste er es ja. Das machte die Wut nicht kleiner. Nicht einmal das Aufsitzen gelang noch. Das Letzte, was ihm durch den Kopf ging, bevor nach den Muskeln auch die Schaltzentrale ausfiel, war das Telefongespräch mit dem Alten. Er hatte ihn am frühen Abend angerufen, um sein Kommen für den folgenden Tag anzukünden. Und um die allgemeine Lage zu sondieren. Die allgemeine und die spezielle. Ob es überhaupt Sinn machte zu fahren. Ob es sich auch auszahlen würde.
Der Alte war nicht gerade gesprächig gewesen. Aber das war er eigentlich nie. Ausgenommen die Phasen, in denen er außer sich geriet und eine seiner Tiraden gegen alle und alles loslassen musste. Aber das umging man besser. Da war stets Vorsicht und Taktik angebracht.
»Also, dann bis morgen«, hatte er gesagt.
»Morgen«, hatte der Alte wiederholt.
Sonst hatte er nichts gesagt. Nur dieses eine Wort. Morgen. Weder fragend, noch zustimmend. Und das Seltsamste war, dass er nach einer Weile, in der beide nur in die Leitung schwiegen, noch hinzugefügt hatte: «Das musst du mit deiner Mutter ausmachen.«
Als ob die Mutter jemals etwas zu sagen gehabt hätte. Natürlich war sie es, die ihm ab und zu etwas zuschob. Heimlich, hinter Mattis Rücken. Er durfte nichts davon erfahren. Auf gar keinen Fall. Wie und wo die Mutter etwas abzweigen konnte, ohne dass es der misstrauische Alte mitbekam, blieb ihr Geheimnis.
Was sollte er denn mit der Mutter ausmachen? Matti – er brachte das Wort Vater schon lange nicht mehr über die Lippen –, wusste Matti mehr, als er preisgeben wollte? Zuzutrauen wäre es ihm. Andrerseits glaubte Olli nicht daran. Über Geld musste man mit dem Alten nicht diskutieren. Jedenfalls nicht, wenn es nicht etwas Zusätzliches einzubringen versprach.
Ollis Einwand wurde nicht mehr weitergeleitet. Der Alte hatte bereits aufgelegt.