Читать книгу Steine zählen - Thomas Röthlisberger - Страница 7

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Eigentlich irrt sich der Hund nie. Er hat eine merkwürdige Art zu flennen entwickelt, ein Fiepen beinahe, wenn er ein fremdes Tier wittert. Knurrt er hingegen, so muss ein Mensch in der Nähe sein. Er sitzt im Flur vor der Haustür, als der Mann in Hemd und Unterhose die Treppe vom Obergeschoss herunterkommt.

Der Mann blickt auf die Uhr. Es ist einige Minuten vor zwei Uhr morgens. Er kaut ein paar unverständliche Worte zwischen den Zähnen, während er durch den Flur tappt und das Jagdgewehr aus dem Schrank holt. Er entsichert die Waffe, geht in die Küche und tritt ans Fenster. Vorsichtig schiebt er die Gardine ein wenig zur Seite. Die Lampe drüben am Schuppen brennt die ganze Nacht. So bleibt der Hof gut beleuchtet.

Der Hund hat nicht geknurrt. Also muss er ein Tier gewittert haben. Der Mann sucht mit den Augen den Platz ab. Nichts. Da ist nichts. Kein Tier, kein Mensch. Er will sich bereits abwenden, als er den dunklen Umriss sieht. Reglos steht er außerhalb des hellen Kegels, der von der Lampe auf den Hof fällt. Die kaum wahrnehmbaren Lichtreflexe auf seinem Fell verraten das Tier: Es ist ein Fuchs.

Etwas anderes hat der Mann auch nicht erwartet. Er drückt auf den Metallriegel, um das Fenster so weit zu öffnen, dass er den Gewehrlauf durch den Spalt schieben kann. Aber das unvermeidliche Knacken genügt, dass der Schatten draußen sich auflöst. Geräuschlos, wie ohne Bewegung. Einfach weg und verschluckt von der Dunkelheit. Als hätte es ihn nie gegeben.

Der Mann flucht. Er lässt das Fenster offenstehen und hastet, soweit das schmerzende Bein es zulässt, zurück in den Flur, zur Haustür. Der Hund kratzt mit der Pfote am Holz. Es ist nicht das erste Mal, dass die Hundepfote an der Tür scharrt. Am Tag sind die Spuren deutlicher sichtbar. Man müsste die Tür neu streichen. Der Mann weiß es. Man müsste auch den Zaun um das Hühnerhaus erneuern. Das Dach des Holzschuppens abdichten. Den Hofplatz entwässern. Müsste man.

Manchmal gibt der Mann schon am Morgen auf. Manchmal verlangt der Tag einfach zu viel. Da ist es besser, bereits am Morgen in der Küche zu sitzen und zu rauchen, die Schnapsflasche hervorzuholen, wenn sie nicht vom Vorabend noch auf dem Tisch steht.

Der Mann schlüpft in die Stiefel. Mit dem Fuß schiebt er den Hund zur Seite, um die Tür aufschließen zu können. Der Hund flitzt an ihm vorbei und springt über die Vortreppe hinunter auf den Hof. Ohne einen Laut von sich zu geben, quert er den Lichtkegel der Lampe und verschwindet zwischen den Holzhütten. Der Mann eilt ihm hinterher. Nach wenigen Schritten hört er ihn hinter dem Hühnerhof bellen.

Es läuft immer auf dasselbe hinaus: Wenn er beim Hühnerhaus ankommt, steht der Hund da und bellt in den Wald hinaus. Der Fuchs hat längst Fersengeld gegeben. Er sitzt jetzt irgendwo dort draußen, im Dunkel des Unterholzes, und ärgert sich über den wachsamen Hund.

Die Schatten zwischen den Bäumen verdichten sich in der Ferne zu einer zusammenhängenden Masse. Das Bellen des Hundes schlägt zurück. Als er verstummt, ist da nur noch das leise Rauschen des Nachtwindes ganz oben in den Wipfeln zu hören.

»Verflucht!«

Der Mann stößt den Gewehrkolben ärgerlich auf den Boden. Steinchen spritzen auf. Eines davon muss den Hund getroffen haben. Erschrocken fährt er zusammen und hascht nach seinem Schwanz. Dann kommt er angeschlichen, als hätte er ein schlechtes Gewissen.

»Blödes Vieh!«, faucht der Mann.

Er dreht sich um und schlurft über den Hof zurück ins Haus. Der Hund zieht den Schwanz ein, er zögert einen Augenblick, dann trottet er hinter ihm her.


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