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Henrik

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Henrik Nyström kam nicht weit. Nachdem er vor Harmoinen die Abzweigung nach Torittu genommen hatte, musste er vor der roten Ampel einer Baustelle anhalten. Zwar hatte er schon bei der Herfahrt festgestellt, dass ein längerer Straßenabschnitt erneuert werden sollte, die Ampeln waren aber noch nicht in Betrieb gewesen. Er würde zehn Minuten warten müssen, oder länger, er wusste das. Die Baustelle erstreckte sich über mindestens einen Kilometer. Er überlegte, ob er wenden und den Umweg über Arrakoski fahren sollte. Aber das machte keinen Sinn. Die zusätzliche Strecke war zu lang, als dass er einen Zeitvorteil herausgeholt hätte. Zudem: Wenn das eintreten sollte, was er befürchtete, dann war er wohl so oder so zu spät. Er ließ die Scheibe herunter, stellte den Motor ab und zündete sich eine Zigarette an.

Was hatte der alte Nieminen über die Ehe gesagt? Nichts. Er hatte nichts über die Ehe gesagt. Nein, hatte er nicht. Er hatte nur über das Scheitern gesprochen. Über das Scheitern? Eigentlich auch darüber nicht.

»Frauen gehen weg, Männer gehen weg. Was wissen wir.« Das hatte er, Henrik, gesagt.

»Du bist geschieden, Heikki«, hatte Nieminen darauf erwidert. »Du musst es wissen.«

Du musst es wissen. Das war es. Da saß der Pfeil. Tief im Fleisch, immer noch. Nach so vielen Jahren.

Was wissen wir.

Nieminen hatte seinen Satz nicht akzeptiert. Eine Aussage ohne Wert. Wer geschieden ist, muss es wissen.

Natürlich wusste er es. Die Fakten waren klar. Daran gab es nichts zu rütteln. Er zog den Rauch tief in die Lungen, als gelte es, dort etwas auszumerzen. Oder eine Leere auszufüllen. Wenn der Atem allein dazu nicht ausreichte.

Heikki. Hier nannte ihn keiner bei seinem ursprünglichen Namen. Henrik war er nur als Knabe gerufen worden. In der Familie. In Österbotten, wo er aufgewachsen war. Wo man noch Schwedisch sprach. Er hasste das finnische Kürzel seines Namens. Andererseits war er froh darüber, denn es bedeutete, dass er akzeptiert war, dass er hier nicht mehr nur der Schwedischstämmige war.

Er rauchte die Zigarette zu Ende, hastig, ohne Genuss. Aus der Gegenrichtung war noch kein Fahrzeug aufgetaucht. Er schaltete das Radio ein und trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad den Takt zur Musik. Zu schnell. Viel zu schnell. Und dann ärgerte er sich, weil er aus dem Takt fiel.

Ja, er hatte früh geheiratet. Zu früh und zu jung. Seine Jugendliebe. Sie waren schon zusammen zur Schule gegangen und wie Bruder und Schwester aufgewachsen.

»Das kann nicht gutgehen«, hatte seine Großmutter die Verbindung bemäkelt. »Man heiratet nicht die Erstbeste.«

Wenn aber die Erste die Beste ist? Sie hatten es nicht anders gewusst. Er nicht und Janna nicht. Janna war Lehrerin geworden. Sie liebte Kinder. Aber die Ehe blieb kinderlos.

»Du hast sie ja in der Schule«, hatte er gesagt und gehofft, sie würde, wie er, im Job ihre Erfüllung finden. Wobei: Erfüllung, das war nun doch etwas zu pathetisch. Das war ein Pastorenwort. Gedacht hatte er vielmehr, sie würde abends von der Plackerei des Tages so hundemüde sein wie er, so dass da gar keine anderen Gedanken mehr Platz hätten. Die Gemeinschaft war praktisch. Man hatte ein Zuhause, man wusste, wo man hingehörte. Mehr konnte man doch nicht verlangen. So hatten sich die Jahre hingezogen, und jeder, glaubte er, hatte seinen Teil zum gemeinsamen Leben beigetragen.

Aber dann hatte Janna ihm eines Tages eröffnet, dass sie schwanger sei. Nicht von ihm. Eine Woche später war sie ausgezogen und hatte sich mit dem Erzeuger ihres künftigen Kindes ein neues Nest gebaut.

Seine Welt, die er wenigstens im Privaten als einigermaßen heil eingestuft hatte, frei von Hader, Zwist, Betrug und Blut, wie er es im Beruf täglich erlebte, seine Welt hatte einen tiefen Riss bekommen. Er war in Selbstmitleid versunken. Die Ersatzfrauen, die er getroffen hatte, waren davon wenig angetan gewesen. Zwei Jahre dauerte es, bis er sich auf sich selbst besonnen und wieder einen Marktwert erlangt hatte.

Henrik machte eine unwillkürliche Bewegung mit der Hand, als wollte er all das Vergangene, Unerfreuliche wegwischen. Die Hand streifte die Frontablage über dem Armaturenbrett und hinterließ eine Spur im abgelagerten Staub. Als hätte sich eine Schlange durch den Sand gewunden.

Verdammt, wie kam einer in diesem Alter dazu, auf die eigene Frau zu schießen?

Natürlich war er damals wütend gewesen auf Janna. Natürlich hatte er ihr die Schuld zugeschoben im ersten Augenblick. Aber handgreiflich werden? Nein. Nie wäre ihm eingefallen, sie auch nur zu packen und zu schütteln. Vielleicht unterschied ihn das von den richtigen Männern. Dass er nicht zeigte, wer das Sagen hatte. Dass er nicht bestimmte, wo’s langging. Ein Waschlappen! Und so etwas schimpfte sich Polizeibeamter. Darüber wurde ja ein Elch nachdenklich.

Es war nicht das erste Mal, dass er hinaus zu den Nieminens hatte fahren müssen. Matti hatte den Finger schon früher zu nah am Drücker gehalten. Zur Unzeit gejagt. Den Nachbarn bedroht. Er hatte einige Kerben im Holz, der Alte.

Wie unter Zwang drehte sich Nyström nach dem Gewehr um, das zugedeckt im Fond des Wagens lag. Aber die hintere Sitzreihe nahm ihm die Sicht.

Er staunte immer wieder darüber, wie viele Leute ihre Waffen offen herumliegen ließen. Oder gar zur Schau stellten. Wenn er nur daran dachte, wie die manchmal bei den Einkaufszentren mit ihren Geländewagen aus den Wäldern auftauchten. In irgendwelchen Tarn- oder Kampfanzügen. Als kämen sie geradewegs aus einer fremden Söldnertruppe. Er hielt nicht viel von Statistiken. Aber dass mehr als jeder zweite Einwohner dieses Landes eine Schusswaffe besitzen sollte, dieses Wissen verdankte man der Statistik. Ein Volk von Waffennarren. Annähernd so schlimm wie drüben in den Staaten. Immer unter dem Mantel der individuellen Freiheit. Und dann wunderten sie sich, wenn Dinge geschahen wie in der Schule von Tuusula, wo ein Jugendlicher bei einem Amoklauf mehrere Mitschüler und Lehrer erschossen hatte. Staatstrauer. Fahnen auf Halbmast. Das war die hilflose Antwort der Politiker auf solche Vorkommnisse.

Als Nyström in den Rückspiegel blickte, stellte er fest, dass mittlerweile fünf, sechs weitere Wagen in der Kolonne hinter ihm warteten. Ungeduldig sah er auf die Armbanduhr. Die veranschlagten zehn Minuten waren längst vergangen. War die Automatik der Ampelanlage etwa noch gar nicht eingeschaltet, sodass ein Arbeiter nach Belieben irgendwann auf den Knopf drücken musste? Er rutschte unruhig auf dem Sitz hin und her.

Die Staubwolke, die in der Ferne sichtbar war, wurde aufgewirbelt von einem Baulaster. Wie ein fauchendes Untier rollte er heran. Als der Fahrer sich dem Polizeiauto näherte, bremste er ab und hob die Hand, ohne den Blick von der Straße zu wenden. Henrik, der gerade noch rechtzeitig die Scheibe hochgekurbelt hatte, war sich nicht sicher, ob er den Mann kannte. Die Staubwolke legte sich über die wartenden Wagen wie eine braune Decke.

Wenige Minuten später tauchte schließlich die Fahrzeugkolonne der Gegenseite auf und ratterte vorbei. Der Staub machte es schwierig, die Gesichter hinter den Windschutzscheiben zu erkennen.

Plötzlich glaubte Henrik aber, Olli gesehen zu haben. Den Sohn des alten Nieminen. Eine verkrachte Existenz. Anders konnte man das nicht bezeichnen. Eigentlich schade um ihn. Er hätte sicher Potenzial gehabt, in irgendeiner positiv zu verwertenden Form. Aber bei dieser Herkunft. Einer unter vielen in der Stadt, die sich irgendwie durchschlugen oder von der Unterstützung lebten. Die Geschichten, die sie erzählten, die sie für sich erfanden, blieben unter dem Strich eine wie die andere.

Nein, es konnte nicht Olli gewesen sein. Der fuhr doch diesen alten Volvo. Jedenfalls keinen Audi. Henrik schüttelte den Kopf.

Jetzt kamen keine weiteren Autos mehr. In der Luft flirrte immer noch der aufgewirbelte Straßenstaub.

Henriks Blick streifte die beiden Beutel mit den Süßigkeiten. Zögernd nahm er den einen in die Hand und öffnete ihn. Er griff nach dem erstbesten Stück und steckte es in den Mund. Es schmeckte süß. Unglaublich süß. Aber dann nahm das Saure überhand und wurde immer dominanter. Schließlich fühlte sich seine Zunge beinahe taub an, und er spuckte den Rest aus dem wieder geöffneten Wagenfenster.

Endlich schaltete die Ampel auf Grün.

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