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4. Satanische Mächte

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Satan und seine Engel, den Fürsten der Hölle in seinem Schrecken, die finsteren Mächte und Gewalten, die nach alter Vorstellung mit zur Welt der Engel gehören, haben wir bisher noch nicht angetroffen. Sie kommen in dieser ,hellen‘ Engelreligion nicht oder nur ganz am Rande vor. Die niedlichen Parkplatzengel einer Giulia Siegel wären ohne Zweifel zu schwach, um gegen sie aufzukommen, und auch die Maßnahmen der Helga Schaub griffen wohl nicht. Ist die dunkle Seite der Engelwelt heute ganz vergessen? Nein, aber ich finde sie an einem völlig anderen Ort. Vor mir liegt der Band „Heavy Metal Thunder. Album Covers that Rocked The World“ von Neil Aldis und James Sherry. Er enthält Abbildungen von über 400 Covers von Alben aus der Heavy-Metal-Musikszene von 1970 bis 2005. Schon auf dem Titelbild grinst eine Teufelsfratze. Und dann sind sie in diesem Band alle versammelt: die Teufel und Dämonen, die Verdammten der Hölle, die Täter und die Opfer grausamer Gewalt. Es ist ein Pandämonium, ein Album des Grauens. „Welcome to Hell“ heißt eine Produktion der britischen Band Venom von 1981, auf dem Cover erscheint ein gehörnter Teufel im satanischen Pentagramm. „Possessed“ ist eine weitere Produktion der gleichen Band von 1985. Gezeigt werden geheimnisvoll durchleuchtete Kinder mit dem Satanszeichen auf der Brust. „Reign in Blood“ heißt ein Album der Band Slayer (1986). Das Cover zeigt eine Szene aus der Hölle in der düsteren Art, wie man es von mittelalterlichen Darstellungen des Jüngsten Gerichts kennt: Menschen, die bis zum Hals in einer feurigen Flüssigkeit stehen, bocksköpfige und gehörnte Teufel, weitere Insassen der Hölle, darunter auch ein Bischof. „A Catalogue of Destruction“ wird auf dem Sampler Speed Kills (1987) angeboten, ein weiterer Sampler ist „Hell Comes to Your House“ betitelt (1984) und zeigt ein muskulöses, schweins- oder drachenköpfiges Wesen, das ein friedliches Castle in seinen Klauen hält. Besonders grauenerregend sind die Covers der Gruppe Iron Maiden. In der Produktion „Life after Death“ (1985) ist das eiserne Mädchen51 dem Grabe entstiegen, enthäutet, mit leeren, wahnsinnig blickenden Augen und einem schrecklichen Gebiss treibt sie von nun an ihr Unwesen. Ein „Inkubus“ wird auf der Aufnahme der gleichnamigen Band unter dem Titel „Beyond the Unknown“ (1990) beschworen: eine bedrohliche, rotäugige und wie ein Mönch gekleidete Gestalt vor einer Ruinenlandschaft. Immer wieder Teufel und Dämonen, von einer beachtlichen Fantasie der Künstler ausgeführt. Der Gipfel der Scheußlichkeiten ist vielleicht: Cannibal Corpse mit den Alben „Eaten Back to Life“ (1990) und „Butchered at Birth“ (1991). Auf letzterem Cover wird eine junge Frau von halbverwesten Fleischerdämonen mit blutigem Messer geschlachtet, das Kind wird ihr aus dem Leib gerissen. Die abgerissene Nabelschnur ist inmitten all des Blutes noch zu erkennen. Darstellungen kruder, unvorstellbarer Gewalt auch auf vielen anderen Bildern. Daneben findet man Impressionen einer zerstörten, todverfallenen Welt. Nuclear Assault zeigt unter dem Titel „Survive“ (1988) ein zerbröckelndes Atomkraftwerk, darüber einen hässlich grinsenden gehörnten Totenkopf, das alles in einer schwefelgelben, giftigen Atmosphäre. Das Atomkraftwerk taucht auch bei „World Remise“ (1994) der Gruppe Obituary wieder auf, eingebettet in eine Landschaft grün-gelblich rauchender Fabrikschlote. „Cause of Death“ (1990) und „Slowly we Rot“ (1989) heißen weitere Produktionen dieser Gruppe. „Death Shall Rise“ (Cancer, 1991) könnte das Motto all dieser Bildmotive sein. Der Sensenmann mit Teufelskopf erhebt sich hier kraftstrotzend über einer Landschaft aus menschlichen Körperteilen.

Im Grunde genommen müsste man die Musik dazu hören. Aber für jemanden, der in der europäischen Musiktradition aufgewachsen ist, ist hier eigentlich keine Musik zu hören. Nur ein Grunzen, Stöhnen, Kreischen der „Shouter“ genannten Sänger, begleitet von wahnsinnig schnell hämmernden Rhythmen, in einer Lautstärke (live) von 100 Dezibel und mehr. In der Industrial-Musikszene werden gerne auch Geräte wie Hämmer oder Kreissägen zur Begleitung eingesetzt. Das sind für mich Geräusche aus der Hölle.

Was ist das alles? Der Reiz des Verbotenen? Die Faszination durch eine dunkle, mysteriöse Welt? Das Spiel mit den Tabus? Das Vergnügen am Schock? Die Lust am Horror? Oder einfach die Auswirkung einer Musikindustrie und ihrer Abnehmer, die mit Nervenkitzel um Marktanteile kämpft und in sich eine Dynamik zur immer weiteren Steigerung des Horrors erzeugt? Von allem sicher etwas, und doch: Irgendwie äußert sich hier auch eine echte Wahrnehmung. Hier werden Mächte erfahren, deren Ausdruck von selbst zur Gestalt des Satanischen und Dämonischen drängt – und darum ist diese Szene zur Engelreligion hinzuzunehmen.

„They know something is wrong. They don’t feel comfortable in their given setting in live“52, so charakterisiert der Leader der Band Misery Index, Jason Netherton, die Stimmung bei den „Metal People“.53 Etwas, das sie falsch finden, ist offensichtlich schon das Verschweigen und Verdrängen des Todes aus der Gesellschaft. Die Gothic-Leute54 tragen schwarz, behängen sich mit Symbolen des Todes, feiern in ihrer Musik die Macht des Todes; sie verleihen dem Tod Präsenz. Womöglich lieben sie den Tod sogar. Dies jedenfalls legt der Name der Berliner Band Thanateros nahe. Ihr Texter und Sänger Benjamin Richter erklärt: „Ich denke, dass der Tod und die Liebe von zentraler Bedeutung für den Menschen sind. Der Tod als der große unbekannte Gegenspieler des Lebens, das Unfassbare, Dunkle. Aber ohne Tod kein Leben. Unsere westliche, moderne Kultur versucht gerade alles zu tun, um den Tod […] zu verdrängen. Die Alten werden aus dem Blickfeld geräumt; man hat ewig jung und fit auszusehen; Todkranke werden an Maschinen angeschlossen, um sie um jeden Preis noch für ein paar Tage länger am Leben zu erhalten.“55 Richter, der Religionswissenschaft und Ethnologie studiert hat, versteht sich als Anhänger des Schamanismus. Mit diesem, einer uralten religiösen Tradition, begreift er die Einheit von Leben und Tod in einem zyklischen, natürlichen Ablauf, in einem „Circle Of Life“, wie ein Album von Thanateros von 2003 heißt. Seinen religiös fundierten Naturalismus stellt Richter bewusst gegen das westlich säkularisierte und auch gegen das christliche Weltbild, mit Recht übrigens, denn der christliche Glaube kann der natürlichen Wahrnehmung des Todes nicht beistimmen. Richter bezieht sich auf vorchristliche, vor allem keltische Traditionen und versteht sich als praktizierender Heide. Die Anknüpfung an heidnische Religion ist ein typisches Merkmal der Gothic-Culture. Thanateros und ein der Band angeschlossener, von Benjamin Richter mitbegründeter magisch-schamanischer Adarga-Orden (zusammen mit einem Adarga-Institut) beschränken sich nicht auf die Kritik unserer todvergessenen Gesellschaft, sie wollen auch einen Weg in die Zukunft weisen: „Thanateros versuchen […] das scheinbar verlorene Erbe einer vergangenen Ära, das Gestern mit dem modernen Geist, mit dem Heute zu verbinden und so einen möglichen Weg für das Morgen zu skizzieren.“56

Doch nicht nur die Todesvergessenheit, viel mehr noch die Todesverfallenheit, ja die Faszination durch den Tod in unserer Gesellschaft bewegt die Gothic- und Metal-Szene. Die Plattencover mit den Atomkraftwerken, den verödeten Fabriklandschaften, mit dem Sieg des Meisters Tod deuten schon darauf hin. Wir sind eine Zivilisation, die auf der Macht des Todes beruht, die sich weit mehr Tod leistet, als nach dem natürlichen Zyklus angemessen ist. Diese geheime, uneingestandene Liebe zum Tod wird bei Heavy Metal ausdrücklich! Mick Mercer, der Herausgeber eines Szene-Magazins, notiert über die Anfänge des Goth: „Leben und Tod waren die verbreitetsten Themen der frühen Achtziger, wo die nukleare Bedrohung über unseren Köpfen schwebte. […] Man musste nicht lange nach Inspiration suchen. Der Verfall der Gesellschaft umgab uns überall.“57 Die amerikanische Band Sacred Reich gibt in einem ihrer Songs zu Protokoll: „Our atmosphere clouded with poison. We’re killing ourselves to live filling the world with hate and dissention. […] Our ignorance means death.“58 Gegen die Ignoranz unserer Verbrüderung mit dem Tod geht nicht nur diese Band an, die vor allem den American Way of Life mit seiner Umweltschädigung und seinem Kriegstreiben aufs Korn nimmt. Nicht die Metal-Music verbreitet morbide Stimmung, sie verschafft ihr nur Ausdruck. Die Band Cannibal Corpse, angesprochen auf die Frage, ob sie mit ihren Covers und ihrer Musik die jungen Leute nicht zur Gewalt motiviert, antwortet: „We’re not out trying to teach your children about violence. I mean, all they have to do is watch the news if they want to learn about it.“59 Es genügt also, die Nachrichten zu sehen, dann weiß man genug über die Macht des Todes in unserer Zeit. Die industrielle Produktion, die Vorherrschaft einer leblosen kalten Technik, die Herabwürdigung der Menschen zu Bedienern der Maschine und der Natur zur Ressource, zum Materiallager eines überdimensionierten Wohlstands, das ist der Hintergrund der der Gothic-Culture oft vorgeworfenen Todesfaszination. Die US-amerikanische Band Cattle Decapitation, um auch dieses Beispiel noch zu erwähnen, macht mit ihren grauenerregenden Covers und ihren Texten auf unseren wahrhaft satanischen Umgang mit Tieren aufmerksam. In einem ihrer Songs versetzen sie die Menschen selbst als Vieh ins Schlachthaus: „AAAAHHHHH! Millions of human hung up hooks suspended in deep freeze Subzero, sterile environment keeps meat tender and lean choice cuts from the slaughter. Husband, mother, daughter. Dead families kept together.“60 Hier wird etwas gesehen, was sonst verborgen gehalten wird. Die Band will nicht predigen, will nicht überzeugen. „I think the shock value we use is preaching enough“, erklärt das Bandmitglied Ryan.61

Also ist Aufklärung die Sache des Metal, oder genauer: Aufwachen aus dem Traumschlaf unserer Zivilisation. „Punk war wie ein Faustschlag genau zwischen die Augen. Er haute dich aus den Socken, wenn du ihn das erste Mal hörtest, und auf einmal bedeutete der ganze Müll um dich rum überhaupt nichts mehr. Alles sollte sich verändern und entweder hast du das sofort und instinktiv begriffen oder nichts davon abgekriegt“, berichtet der Szenebeobachter Mick Mercer über die Anfänge der Goth-Bewegung.62 Man könnte sagen, dass die sich steigernde Brutalität und Härte dieser Musik darauf aus ist, immer neue solcher Faustschläge auszuteilen. Auch Gewalt kann aufklärerische Funktion haben, ohne Gewalt wird die kulturelle Vernebelung nicht zu durchbrechen sein (das wussten schon die Propheten der Bibel!). „In einem großen Umfang glaube ich fest daran, dass gewisse Formen der Gewalt positive Auswirkungen auf die Gesellschaft haben können. […] Gewalt ist ein Stellvertreter der sozialen Veränderung und ebenso eine gültige Form des künstlerischen Ausdrucks“, so war in einem Internet-Fanzine (Fan-Magazin) der Szene zu lesen.63 Die britische Band Grey Wolves, die sich, provozierend genug, in ihrer Namenswahl an die gleichnamige rechtsradikale türkische Terrorgruppe anlehnt, hat sich diesem Aufklärungsprojekt besonders verschrieben. Es gehe darum, „the dirt behind the dream“, den Dreck hinter dem Tagtraum, bewusst zu machen. Da aber das Bewusstsein dazu neigt, sich diesem Dreck gegenüber zu verschließen, ist nicht weniger als „cultural terrorism“ nötig, um es aufzuwecken. Die Gruppe übt ihren kulturellen Terrorismus durch bewussten Tabubruch, durch das Spiel mit unmoralischen und verbotenen Themen aus. Sie hat ein eigenes „Informationsministerium“, die Homepage „Open Wound Alliance“ begründet, um auf die offenen Wunden der Gesellschaft hinzuweisen. Dort findet man verwirrende, widersprüchliche, unkorrekte und provokative Informationen, die dazu dienen, die Benutzer zu irritieren und zu medienkritischen Menschen zu machen. Man sieht sich in einen „information war“ verwickelt und kämpft in diesem Krieg mit allen Mitteln.64

Damit wird vollends deutlich, dass die Gothic- und Metal-Szene nicht nur anprangert, sondern auch auf Gegenstrategien zum miserablen Zustand unserer Gesellschaft sinnt. Dass diese Gesellschaft scheinbar so alternativlos daherkommt, „that there are no alternatives or dissenting ideas being discussed“65, das regt Jason Netherton von der Band Misery Index auf. Der Name der Band kommt von einer Art Armutsbericht in den USA, und dieser fällt Jahr für Jahr katastrophal aus. Der studierte Ökonom Netherton kämpft gegen Neoliberalismus, Turbokapitalismus und Globalisierung. Für ihn ist unsere Wirtschaftsform ein Programm zur Zerstörung des Planeten. Menschen werden zu Sklaven „der Maschine“ erniedrigt, werden zur Mordlust gegeneinander angeregt. „What remains here …? Bowing to the dollar in their selfish church of capital, where wealth encrusts their bodies, yet cancer fills their hearts? Brother will kill brother in this stained-glass abattoir called Earth“66, heißt es in dem Song „Retaliate“ in Anspielung auf das „stahlharte Gehäuse“ Max Webers. Netherton möchte die Ideen des Anarchismus und des Sozialismus wach halten, nicht als einzigen Ausweg aus der Krise, sondern um über Alternativen überhaupt nachdenken zu können. Die Rolle des Musikers ist für ihn die, Menschen eine Stimme zu geben, die sonst keine Möglichkeit haben sich auszudrücken.67

Einen viel radikaleren Weg geht die Band Dissection, die der Black-Metal-Richtung angehört. Und hier stoßen wir auch zum ersten Mal auf den vielbeschworenen Satanismus der Gothic-Szene.68 Die Band steht im Umkreis des „Misanthropisch-luziferischen Ordens“, der sich auf der Grundlage neognostischen, altgermanischen und sozialdarwinistischen Gedankenguts zu einem antikosmischen Satanismus bekennt. Das heißt, die Menschheit muss abgeschafft („misanthropisch“) und die Welt ins Nichts zurückgestoßen werden („antikosmisch“). Die Energien, die dazu nötig sind, kommen von Luzifer/Satan. „Anti-Cosmic has he function of bringing disharmonic Chaotic energies into Cosmos, this way speeding up the evolution that leads the creation back to the formless chaos that descends it from“69,so die Philosophie des „Ordens“ in einem Selbstzeugnis. Im Hintergrund steht eine gewisse politisch-religiöse Radikalisierung der skandinavischen Gothic-Szene, in deren Gefolge es zu Brandstiftungen an Kirchen und zu Morden – auch innerhalb der Szene – gekommen war.70 Von hier aus wird auch erkennbar, warum die Gothic-Szene anfällig ist für die Infiltration mit nationalsozialistischem und neofaschistischem Gedankengut. Kirche, Christentum und Demokratie sind die gemeinsamen Feindbilder. Wilde Zerstörungswut, gepaart mit der sozialdarwinistisch motivierten Hoffnung, dass eventuell die Über- oder Herrenmenschen die neue Welt regieren werden, das sind Verbindungslinien zwischen satanistischem Black Metal und der Neonazi-Szene. Rob Darken, der Frontmann der polnischen Band Graveland, erläuterte in einem Interview die Absichten der unter dem Banner NS-Black Metal zusammengeschlossenen rechten Gruppierungen wie folgt: „Der deutsche Kriegsgeist muss erwachen! Wir sollten menschenfreundliche Ideen zerstören! Aber wir tun nichts und viele Leute aus der Türkei, Neger und andere Subkulturen kommen in unsere Länder und mischen unser Blut! Sie zerstören unsere Kultur und Traditionen! Zerstören die Demokratie, das Christentum, die amerikanische Kultur. Es ist höchste Zeit, aufzuwachen und einen neuen Krieg zu beginnen!“ Die Ablehnung einer todverfallenen Kultur führt hier selbst zu Hass- und Gewaltfantasien. Oder anders: Wenn man Satan als den Herrn der Welt anerkennt, gerät man auch unter seine Gewalt.

Das Thema Neofaschismus und Metal-Kultur erfordert sicher eine differenziertere Betrachtung, als sie an dieser Stelle möglich ist. In den Texten der deutschen Gruppe Death in June entdecke ich andere Töne, die vielleicht gehört zu werden verdienen. Mit ihrem Namen erinnert die Gruppe, die in Kampfanzügen und Masken auf der Bühne erscheint und Nazi-Symbole auf ihren Covers führt, an den 30. Juni 1934, als Hitler den so genannten Röhm-Putsch niederwarf, d. h. die SA vernichtete und 200 seiner treuesten Anhänger ohne Gerichtsurteil exekutierte. In ihrem Album „Brown Book“ – der Name ist einem DDR-Dossier zur Dokumentation der Gräueltaten der Nazis entlehnt – gibt es die Zeilen:

„Wird er meine Seele halten?

Wird er mein Herz herausreißen?

Wird er, wird er

Mich zerreißen?

Eine Rose zu ertränken

[…]

Liebe ist jetzt leer

Für immer unvollständig

Ein Stich ins Herz der Hoffnung […]

Wir beten für das Ende

Wir fordern die Hinrichtung

Eines zerstörten Glaubens, der fehlt

Einer sterbenden Liebe, die vergeht“71

Ist dies vielleicht ein Stück „Poesie nach Auschwitz“, die laut Adorno zu schreiben barbarisch wäre? Wer gedenkt der missbrauchten Liebe, der zerstörten Hoffnung der damaligen jungen Generation? Und ist nach einem solchen Missbrauch von Liebe, Treue, Glaube und Hoffnung nicht die Liebe überhaupt gestorben? Was bedeutet diese historische Lektion für die jungen Menschen heute? Können sie noch lieben und hoffen? Nach Richard Leviathan, selbst ein Angehöriger der Gothic-Kultur, handelt es sich bei den Songs von Death in June um „Kunstwerke, die tief in das finstere Herz unseres historischen Gewissens eintauchen“.72 Solche Finsternis mit einem schwachen poetischen Licht zu erhellen ist auch eine Arbeit an der Todverfallenheit unserer Gesellschaft.

Doch zurück zu Satan und dem Satanismus, die natürlich in unserem Zusammenhang vor allem interessieren. Was ist darunter zu verstehen? Viele Deutungen sind möglich, so wie der Teufel ja auch viele Namen hat. Nik Page, ein deutscher Gothic-Sänger, der mit mehreren Bands zusammengearbeitet hat, steht dem Satanismus nahe.73 Er versteht unter dem Satan aber nicht „den Teufel, den die Kirche selbst erschaffen hat, um das niedere dumme Volk noch besser kontrollieren zu können“, auch nicht den „Gott der Bosheit“ oder einfach „eine Art negative Energie, die in jedem von uns steckt“, sondern, viel raffinierter, die Kraft der Versuchung, die es auf unsere Schwäche abgesehen hat, um sie in eine Stärke zu verwandeln, die uns schließlich selbst zerstört. „Mephisto [so nennt er ihn im Anschluss an Goethes Faust] beweist uns Tag für Tag, dass der Mensch jede großartige Erfindung früher oder später in ein Instrument der Zerstörung verwandelt … und dennoch haben wir ihm den luxuriösen Alltag unserer Konsumgesellschaft zu verdanken, den niemand freiwillig missen will.“ Es ist also der Teufel, der im Kapitalismus steckt und dem alle tatsächlich dienen. In genialer Umdichtung erzählt Nik Page den Mythos vom Engelssturz neu: Die drolligen kleinen Engel und ihr weißbärtiger Super-Opi leben in Harmonie und Langeweile auf einer Wolke, bis eines Tages Luzifer „mit großen Kulleraugen und Schmollmund“ um Einlass bittet. „Es dauerte jedoch nicht lange, bis das Miststück seinen wahren Charakter offenbarte. Sie war nicht nur der schönste, sondern auch der intelligenteste aller Engel.“ Bald hatte sie alle Engelknaben um den Finger gewickelt und „Opis tugendhaftes Paradies in eine lasterhafte Partyhöhle verwandelt“. Zwar wurde die „undankbare Partygöre“ aus dem Himmel verstoßen, aber nun, auf Erden, treibt sie es umso schlimmer. Im Song „Mephisto“ besingt Nik Page den teuflischen Gott der Lust und der Bedürfnisse ganz in diesem Sinne:

„Du bist der Gott der Maschinen

Der Schöpfer der Lust

Hast uns die Augen geöffnet

Bist der sündige Kuss

Hast die Erleuchtung versprochen

Uns Zerstörung geschenkt

Hast uns die Unschuld genommen

Unser Karma gelenkt

Tief in meiner Seele brennt ein Feuer nur für dich …

Mephisto.“

Es ist also unsere Lust selbst, die die Maschine antreibt, die uns Zerstörung bringt. Und dieser Mechanismus funktioniert in mephistophelischer Kraft. Der Satanismus, der der Gothic-Culture zur Last gelegt wird, ist der einer auf grenzenlose Bedürfnisse, auf ewige Lust getrimmten Kultur. Dass damit beileibe nicht nur die sexuelle Lust gemeint ist, entnehme ich einem auffälligen Moment, das sich wie ein roter Faden durch die Selbstzeugnisse der Gothic-Kulturwelt zieht: der Hass auf die Musikindustrie. „Fuck the Industry!!“74, so oder so ähnlich heißt es immer wieder. Man schimpft auf die Musikindustrie, auf Kommerzialisierung und Verflachung – und kann ihr doch nicht entkommen. Denn sie allein macht das Überleben der Bands möglich, sie verschafft ihnen bisweilen erheblichen Erfolg und Wohlstand. Versuche, die eigenen Produktionen in selbst gegründeten, nicht kommerziellen Labels zu vertreiben, müssen wohl sämtlich als gescheitert gelten.75 Man bleibt dem teuflischen System ausgeliefert, man dient ihm selbst – und da haben wir den Grund für den Satanismus der Szene.

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