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5. Die beiden Seiten der Engelreligion

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Die Engelreligion ist, das habe ich zu zeigen versucht, so recht die Religion unserer Zeit. Sie kennt keine Dogmen, keine Hierarchie und keine institutionelle Gestalt. Sie stellt keine Forderungen und hat keine Gebote. Sie baut auf Erfahrung und nicht auf Glauben. Sie schränkt Freiheit nicht ein, verlangt keine Bekenntnisse und verzichtet auf religiöse Abgrenzungen. Sie entspricht dem Individualismus und der Suche nach eigenem persönlichem Ausdruck. Sie vermittelt gegen alle Vereinzelung ein Gefühl von Ganzheitlichkeit, allseitiger Verbundenheit und Geborgenheit. Sie schafft Ordnung im Weltbild und im eigenen Inneren. Sie vermittelt Heil und Heilung für die kleinen und großen Nöte des Daseins. Sie antwortet auf die unendliche Sehnsucht nach Liebe. Es ist, als wenn ein genialer Religionsstifter die gesamte Religionsgeschichte auf ihre guten und bewährten Elemente hin durchgemustert und diese auf die Bedingungen der Moderne adaptiert hätte, dabei alles Überlebte, Schwierige und Unangenehme beiseite lassend. Aber so ist es ja nicht gewesen. Diese Religion hat sich vielmehr aus den spontanen religiösen Bedürfnissen von Leuten entwickelt, die sich in den etablierten Religionen nicht zu Hause fühlten oder erstmals ihren Weg zum Himmel entdeckten. Die Engelreligion ist ganz und gar eine Religion der Bedürfnisse, aus Bedürfnissen entstanden und auf die Erfüllung von Bedürfnissen ausgerichtet. Sie passt in eine Welt, in der die Erfüllung von Bedürfnissen der fraglos höchste Wert und überdies der Motor der wirtschaftlichen Dynamik ist.

Nun hat diese Religion, wie gezeigt, ihre zwei Seiten, eine helle und eine dunkle – die übrigens sicher nicht zufällig im Blick auf ihre Akteure auch als weibliche und männliche Seite zu erkennen sind. Beide Seiten fügen sich zu der Kennzeichnung „Religion der Bedürfnisse“, aber sie bilden gewissermaßen die Vor- und Rückseite. Während auf der lichten Seite die Befriedigung unserer Wünsche und Bedürfnisse gepredigt wird, ist die dunkle Seite für die diabolische Verkehrung der Bedürfnisse – „Lust“ – in Zerstörung aufmerksam, ja, sie treibt sie selbst voran. Was bei den „Kindern des Zorns“ (so will ich sie einmal mit Eph 2,3 nennen) an Kapitalismuskritik, an Beobachtung der verhängnisvollen Auswirkungen unserer Industriekultur, an „Todesfaszination“ vorhanden ist, verweist auf die Paradoxie der Bedürfnisse. Sie sind gut und sie sind schlecht. Gut sind sie, weil der Hunger gestillt werden will und weil es Freude macht, ihn zu stillen, und sei es der Hunger nach Anerkennung, Liebe, Geborgenheit und Sicherheit. Schlecht sind sie, weil sie von sich aus kein Maß kennen. In ihrer Maßlosigkeit bewirken sie Zerstörung – so wie die ,bröckelnden‘ Atomkraftwerke auf maßlosen Energiebedarf reagieren, der grausame Umgang mit Tieren auf maßlosen Fleischbedarf. Vor dieser Problematik bleiben die Versuche Doreen Virtues, zwischen den Wünschen des höheren und des niederen Selbst zu unterscheiden, ebenso hilflos stehen wie die Unterscheidung von Jana Haas zwischen weißer und schwarzer Magie oder die von Helga Schaub zwischen positiver und negativer Energie. Denn wie soll hier unterschieden werden? Was für den einen als ,weiß‘ erscheint, kommt beim anderen ,schwarz‘ an, und leicht kann man um eines höheren Zwecks willen auch das niedere Bedürfnis als höheres erleben. Zumal in einer Zeit, für die die ständige Steigerung der Bedürfnisse zur Notwendigkeit einer zum unablässigen Wachstum gezwungenen Wirtschaft geworden ist. Ist es denn da nicht ,positiv‘, ,negative‘ Dinge zu tun, z. B. zur Schaffung von Arbeitsplätzen die Wirtschaft anzukurbeln, noch mehr überflüssige Dinge und damit zukünftigen Abfall zu produzieren, noch mehr zu konsumieren, noch mehr Geld anzulegen? Bedenklich ist, dass die lichte Seite der Engelreligion ihre Beispiele und ihre Anschauung nur aus dem persönlichen, privaten Leben nimmt. Der politische und ökonomische Bereich sind völlig ausgeblendet. Und doch hängt beides zusammen. Der Slogan „Gott sorgt für die Erfüllung all unserer Bedürfnisse. Wir brauchen nie zu befürchten, dass uns irgendetwas vorenthalten wird“ (Virtue) scheint doch geradezu einem ökonomischen Imperativ zu gehorchen. Grenzenlose Bedürfnisbefriedigung – jetzt auch religiös legitimiert und ermöglicht. Autofahren – jetzt ohne Parkplatzprobleme. Energieaufwändige Reisen in die Südsee – jetzt auch zur Begegnung mit den Delfinengeln, die sehnsüchtig nach dir rufen. Partnerwechsel – durch den Engel-Raben selbst angezeigt. Warum hören wir nie von Engeln, die zum Öffentlichen Nahverkehr raten? Oder zur Treue in der Partnerschaft? Und weiter: Die Religion verlängert die Bedürfnisse ins Unendliche, ins Transzendente. Nun sollen wir gar das Göttliche in uns selbst entdecken, mit dem ganzen Universum verbunden sein, in jeder Lebenslage Trost und Beistand erfahren, das ganze Wissen der Welt in Himmelsbüchern lesen können. Das ist in etwa das, was die Schlange der Eva im Paradies versprochen hat. Die Maßlosigkeit der Bedürfnisse greift nach der Unendlichkeit des Himmels. Die Engelreligion überträgt insoweit die Logik der grenzenlosen Steigerung, die dem Kapitalismus eigen ist, ins Religiöse. Was Wunder, dass sich auch viele Wirtschaftsgrößen zum Glauben an die Engel bekennen.76

Von Ferne erinnern die beiden Seiten der Engelreligion an die früheren Darstellungen des Jüngsten Gerichts. Zur rechten Seite des Weltenrichters – zur Linken des Betrachters – die Seligen, die von lichtvollen Engeln ins Paradies geführt werden. Zu seiner Linken die Verdammten, die von Teufeln gequält und in die Hölle gebracht werden. In der Engelreligion fehlt jedoch die Figur des Weltenrichters, der nach Gottes Maß und Gesetz richtet. So schieben sich beide Seiten übereinander. Das alte Bild ist zerstört. Beide Seiten richten sich nach derselben Logik. Wir werden verdammt durch das, was uns selig machen soll. Die Seligen sind schon die Verdammten, sie wissen es nur noch nicht.

Die neue Engelreligion

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