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3 Freia 1733
ОглавлениеEs war spät nachmittags, die Sonne stand schon sehr tief und alles tat ihr weh. An ihren nackten Füßen, Armen und Händen hatten die scharfen Schilfstoppeln ihre blutigen Spuren hinterlassen. Die fünfzehnjährige Freia half wie auch ihre fünf jüngeren Geschwister den Eltern. Jeden Tag, vom späten Herbst nach den ersten Nachtfrösten bis zum zeitigen Frühjahr, bei jedem Wetter schnitten sie das Reet. Trockene Kälte und kein Hochwasser war die beste Erntezeit. Mit dem Verkauf des Reets konnte sich die Familie gerade so versorgen. Trotzdem war Meister Schmalhans stetiger Gast bei ihnen und oft gingen die Kinder hungrig schlafen.
Das großgewachsene, hübsche Mädchen bestritt, besonders seit ihre Mutter nach der dritten Fehlgeburt melancholisch und gleichgültig geworden war, größtenteils allein den Haushalt. Kurz vor Sonnenaufgang stand sie auf, schürte das Feuer an, kochte den Haferbrei und versorgte ihre Geschwister. Ihre Mutter lag meist trübsinnig und lustlos auf ihrem Strohsack und jammerte. Der Vater brummte mürrisch, aß eilig seinen Brei und verzog sich schleunigst nach draußen. Er bereitete alles für die Tagesarbeit vor, dazugehörte auch, dass er sich hinterm Haus einen kräftigen Schluck aus der im Holzstapel versteckten Schnapsflasche genehmigte. Wenn Freia es bemerkte, funkelte sie ihn aus ihren hellblauen Augen immer nur missbilligend an, traute sich aber nicht, etwas zu sagen. Einmal, als sie es doch gewagt hatte, ihn zu tadeln, schlug er sie windelweich und schrie: „Was fällt dir ein, das geht dich einen Dreck an, ich kann tun und lassen, was ich will!“
„Zscht, zscht …“, wieder und wieder fraß sich der Reetschieber, vom Vater kraftvoll geschoben, durch die Halme. Es war ein mistkarrenähnliches Gerät, an dem sich statt eines Rades ein scharfes Messer befand. Einige der Kinder hoben jeweils einen Armvoll des abgeschnittenen Reets auf und trugen dieses auf das trockene Land. Hier verarbeitete die Mutter, die sich mittlerweile aufgerafft hatte, mit den anderen Kindern diese Schilfhalme zu einem Schoof, das waren etwa armdicke Bündel. Diese wurden so lange auf den Boden gestukt, bis das untere Ende gleichmäßig glatt war. Anschließend banden sie diese mit einem blauen Band fest zusammen. Dann stapelten sie 60 Stück davon zu einem Schock in Pyramidenform zum Trocknen auf. An guten Tagen, so wie heute, schafften sie gemeinsam acht bis zehn Schock.
Reetschneider - eigentlich kein Beruf, sondern nur eine sehr schlecht bezahlte Arbeit für arme Leute. Aber schon der Vater des Vaters und auch dessen Vater lebten hier im breiten Schilfgürtel des Peenestromes, unweit der kleinen Stadt Lassan. Ihre seit mehreren Generationen im Besitz der Familie befindliche, einfach zusammengezimmerte Bretterhütte bestand nur aus einem Raum mit einem über die Hälfte reichenden Obergeschoss.
Die Hütte stand schon immer schief, behauptete der Vater. Sie erweckte den Eindruck als wiegte sie sich mit dem Schilf im Wind. Selbst das leiseste Lüftchen brachte das alte Gebälk zum Ächzen und Stöhnen. Im Sommer sammelte die Familie auf den Feldern der umliegenden Bauern das restliche Stroh, um es mit Schlamm und Lehm vermischt in die Ritzen der Hütte zu schmieren. Dieses Abdichten sollte wenigstens etwas gegen die starken Winterwinde schützen.
Der untere Raum war, mit der offenen Feuerstelle gleich neben dem seitlichen Eingang, Küche sowie Wohn- und Arbeitsraum. Gleichzeitig diente er abends als Stall für die in einem Verschlag im hinteren Eck eingesperrten zwei Ziegen, dazu kamen noch ein paar Hühner und drei fett gemästete Kaninchen.
Auf dem Zwischenboden, der über eine Leiter erreichbar war, schlief die ganze Familie eng aneinander gekuschelt. Hier sammelte sich der beißende Rauch, besonders wenn Mutter im Winter noch einmal eine Handvoll Torf auf das Feuer warf. In die Torfglut streute sie zudem getrockneten Kampfer, das sollte das lästige Ungeziefer vertreiben. Ein übelriechender Geruch zog dann durch den Raum, leider waren die lästigen Plagegeister nicht totzukriegen, nach ein paar Tagen krabbelten und schwirrten sie wieder munter umher.
Freia hatte Glück, ihre Schlafstelle befand sich über dem Ziegenverschlag und so hatte sie es besonders im Winter etwas wärmer.
Seit dem letzten Krieg 1720 war die Stadt Lassan eine Grenzstadt und stand unter schwedischer Verwaltung. Zwei Stadttore und eine Backsteinmauer bildeten das Bollwerk zur Landseite. Von hier führten zwei Straßen, gesäumt mit schmucken ein- und zweistöckigen Häusern, zum Hafen. Nach dem Durchschreiten der Stadttore sah man auf einem kleinen Hügel die ebenfalls aus Backsteinen errichtete Kirche. Der Handel und die Handwerker litten unter der gegenwärtigen Situation. Besonders schmerzlich empfanden das die Bierbrauer und Schnapsbrenner. Deren Hauptabsatzgebiete, die Insel Usedom und die Gegend um Wolgast, lagen nun jenseits der Grenze im preußischen Land. Der Aufschwung der letzten Jahrzehnte, der besonders in den Städten Anklam und Greifswald stattgefunden hatte, war an der kleinen Fischerstadt vorübergegangen. Die Zeiten, als die Anklamer Händler ihre großen Schiffe hier im Hafen beladen hatten, waren endgültig vorbei. Noch vor dem großen Krieg im letzten Jahrhundert lief der Ostseehandel von Frankfurt und Berlin über Lassan. Der Handel wurde damals auf dem Stettiner Haff und dem Peenestrom immer umfangreicher. Von hier aus waren die Schiffe im ganzen Ostseeraum unterwegs. Die von Anklam kommende Peene war für die immer größer werdenden Segler jedoch nicht mehr passierbar und so wurden die Waren hier umgeladen. Aber jetzt, rund einhundert Jahre später, versank die Stadt Lassan in Bedeutungslosigkeit. Nur wenige Handelszüge passierten noch die beiden Stadttore. Längst hatten die alten Hansestädte Greifswald und Swinemünde, nicht zuletzt wegen steuerlicher Vorteile, diesen Handel mit übernommen. Schon seit 1729 bauten die Preußen an der Vertiefung der Swine, um einen unabhängigen Zugang von Stettin über Swinemünde zur Ostsee zu bekommen. König Friedrich Wilhelm träumte von einer Seemacht Preußen.
Von ihrer Hütte aus konnten die Reetschneider über dem Wasser einer kleinen Bucht die wenigen Häuser und die Backsteinkirche der Stadt sehen. Alle Häuser waren mit Reet gedeckt. Jedes Mal nach den Winterstürmen benötigten die Kleinstädter wieder neues Material, um die Sturmschäden auszubessern.
„So sorgt Gott immer wieder dafür, dass wir armen Reetschneiderfamilien genügend Arbeit haben“, meinte Freias Vater fast ein wenig schadenfroh, lächelnd zu seinen Kindern.
Das Mädchen hatte sich ihren einzigen warmen, wollenen Rock hochgebunden und lief barfuß in dem eiskalten, knöcheltiefen Wasser hin und her. Nur nicht stehenbleiben, dachte sie, sonst kriecht die Kälte noch weiter an mir hoch. Immer wieder strich sie sich das strohblonde Haar aus dem Gesicht. Sie hatte heute früh verschlafen und in der Eile den Zopf nicht fest genug gebunden, sodass er sich immer wieder auflöste. Es war trotzdem heute ein schöner Tag gewesen. Die letzten Mückenschwärme tanzten im untergehenden Sonnenlicht.
Vater brummte: „Heute können wir zufrieden sein, wir haben viel geschafft.“
Das war gut so, denn Bürgermeister Sarren hatte eine große Wagenladung bestellt. Er wollte eines seiner kleineren Häuser neu eindecken.
„Endlich werde ich mich mal wieder richtig satt essen können“, freute sich Freia über diesen Auftrag.
Sofia, die Tochter des Bürgermeisters, sollte nach ihrer Hochzeit in das neu hergerichtete Haus einziehen. Sie war vor ein paar Jahren zusammen mit Freia in die unteren Klassen der Schule gegangen. Nun wurde sie mit dem Sohn des Hafenmeisters verheiratet. Eine gute Partie, wie man so sagte, von den Eltern arrangiert und zu beider Familien Nutzen.
Es wäre schön, einen feschen jungen Burschen, noch dazu einen, der reich ist, kennenzulernen, träumte Freia. So einen Traumprinzen, der sie hier wegholen würde. Aber was hatte sie schon für Aussichten? Mit viel Glück heiratete sie vielleicht einen Bauernknecht. Aber dann müsste sie auf den Feldern oder im Stall der reichen Herrschaften von früh bis abends schuften. Oder, und das war viel wahrscheinlicher, sie wurde eine alte Jungfer und schnitt bis an ihr Lebensende Reet.
Freia schaute sich um. Eigentlich war sie sehr gerne hier draußen in der Großen Heide, besonders im Frühjahr, wenn die Winterstürme vorbei waren und Tausende von Vögeln, vor allem sehr viele Graugänse, hier brüteten. Das war auch eine der wenigen Zeiten, wo sie genug zum Essen hatten. Schon früh morgens, wenn die Sonne über dem Strom aufging, sammelten die Kinder Gänseeier und ab und zu brachte der Vater auch eine Gans mit nach Hause. Sehr vorsichtig musste man sich in dieser Zeit durch das Reet bewegen. Die Wildgänse waren während des Brütens sehr nervös. Ein lauter Ruf oder ein Knacken von einem zertretenen Ast und Tausende Vögel erhoben sich in die Luft. Da half nur noch, sich flach auf den Boden zu werfen. Lautes Schnattern und das Rauschen der Flügel, die eine Spannweite bis zu drei Ellen erreichen konnten, begleiteten den Start. Meist beruhigten sich die Tiere schnell und ließen sich wieder auf ihre Nester nieder.
Im Mai dann überall dieses frische Grün und Halme, die sanft im Wind schaukelten. Leichtes Rauschen vermischte sich mit dem Plätschern der Wellen und dem Vogelgezwitscher. In dieser Zeit gab es wenig Arbeit. Manchmal leichte Handarbeiten wie Binsenkörbe flechten oder ab und zu mal bei jemandem für ein geringes Entgelt aushelfen.
Auch der heiße Sommer gefiel ihr, denn da halfen sie bei einem der Bauern beim Torfstechen. Dafür bekamen sie reichlich zu Essen und einen kleinen Anteil Torf zum Heizen und Kochen.
Aber jetzt, im November, die Temperaturen bewegten sich schon auf den Gefrierpunkt zu, machte es keinen Spaß mehr, Tag für Tag im Schilf zu arbeiten. Die Wildgänse hatten sich schon lange auf ihren Flug nach Süden mit wildem Geschnatter verabschiedet. Beängstigend war das immer, wenn sich die riesigen Schwärme gleichzeitig erhoben und im Tiefflug über die Hütte rauschten.
„He Mädchen - träume nicht! Marsch, wir müssen fertig werden, bevor das Wetter kommt“, herrschte sie der Vater barsch an und deutete nach Westen auf den immer schwärzer werdenden Himmel. Gewaltige Gewitterwolken ballten sich zusammen. Das sah schon beängstigend aus, wie die schwarzen Wolken immer wieder aus der dunklen Masse hervorbrodelten. Frierend und hungrig beugte sie sich wieder über ihre Arbeit. Freia fing an zu singen, das lenkte ab, sie dachte dann nicht an den knurrenden Magen und die Kälte. Auch die Arbeit ging ihr dadurch leichter von der Hand. Mit ihrer glockenhellen Stimme sang sie ein Liedchen, welches sie von den Mädchen auf der Gasse aufgeschnappt hatte:
Mädchen warum weinest du, weinest du so sehr.
Wenn andere Mädchen tanzen gehen, muss ich bei der Wiege stehn.
Darum weine ich, weine ich so sehr! …
Das Lied hatte der Herr Pfarrer allerdings verboten, es sei unanständig, wetterte er nicht nur einmal in der Sonntagsschule. Doch es hatte eine so schöne Melodie, Freia fing wieder an zu träumen, nein so mache ich es nicht! Ich will mehr erreichen als meine Mutter. Ja keinen armen Mann heiraten. Und kein Kind, sie küsste bestimmt keinen Mann, bevor sie nicht verheiratet war. Von dem unerlaubten Rumschmusen und Küssen bekommt man ein Kind, hatte ihre Freundin Mechthild einmal unter aller Verschwiegenheit erzählt, und die hatte es von ihrer älteren Schwester erfahren.
Grollend - der Wind schwoll zum Sturm an - näherte sich das Unwetter. Blitze zuckten am Horizont. Sie banden die Garben mit den dafür bereitliegenden Stangen und Seilen eilig fest.
„Kinder, beeilt euch! Kommt her, wir müssen schleunigst heim“, rief Mutter ihnen zu. Alle sammelten sich bei den drei alten Birken, zwischen denen sie das Schilfrohr festgezurrt hatten.
„Uwe! Uwe! Wo ist Uwe?“, schrie ihre Mutter.
„Ich weiß nicht, gerade war er noch da. Ich gehe ihn suchen“, brüllte Freia zurück, bemüht sich gegen das Brausen des Sturmes verständlich zu machen. Sie rannte Richtung offenes Wasser los, dort hatte sie den Fünfjährigen zuletzt gesehen.
Laut krachend entlud sich das Gewitter. Der Regen klatschte ihr in Strömen ins Gesicht, nahm ihr fast die Luft. Blitze zischten ins Wasser. Der Sturm peitschte hohe Wellen ins Schilf. Freia sah zurück, weit und breit war nichts mehr zu sehen, alles vom Regen verhüllt. Sie wurde fast wahnsinnig vor Angst, Tränen liefen ihr übers Gesicht. Klatschnass kämpfte sie sich vorwärts. Sie hatte keine Kraft mehr, ihr Rufen wurde immer schwächer. Plötzlich tauchte ihr kleiner Bruder etwa einen Steinwurf von ihr entfernt auf, im nächsten Moment war er weg. Verschluckt von einer großen Welle. Diese riss auch sie Sekunden später um und schleuderte sie in das Schilfdickicht.
“Bitte, lieber Gott, hilf mir”, flehte sie in ihrer Verzweiflung, aber nur das Heulen des Sturmes antwortete. Wieder und wieder erfasste sie die Flut und warf sie ins Schilf. Die Wellen schlugen über ihr zusammen und sie verlor die Orientierung. Zwischendurch tauchte sie auf, schluckte viel sandiges Wasser und schnappte nach Luft. Jetzt ist es aus, das ist das Ende!
„Ich will noch nicht sterben, Jesus hilf mir!“, heulte sie. Doch es hörte nicht auf, plötzlich knallte ihr Kopf gegen etwas Hartes und sie verlor das Bewusstsein.