Читать книгу Südstadtkind - Thomas Stange - Страница 5
1.
ОглавлениеDie Luft, die in seine Nase strömte, war angenehm. Süß, frisch, zart. Eben angenehm.
Maiglöckchen. Es roch nach Maiglöckchen.
Er wusste nicht, wie Maiglöckchen riechen. Er wusste nicht, was ein Maiglöckchen ist. Und ebenso wenig wusste er, was Riechen bedeutet.
Trotzdem roch er Maiglöckchen, denn eine Stimme hatte es ihm gesagt. Er hielt seine Augen geschlossen und lauschte stattdessen angestrengt. „Er riecht die Maiglöckchen“, war die Stimme zu vernehmen gewesen.
Die Maiglöckchen schwebten durch seine kleine Welt und bereiteten sich auf ihr Vergessen vor, denn ein neues Geräusch erforderte seine gesamte Aufmerksamkeit. Ein abschwellendes Brummen, eine Glocke, dann ein Summen, das zum Heulen wurde, immer schriller, lauter, sich zur Erleichterung entfernend, leiser werdend, verstummend.
Unwillkürlich hatte er den Kopf gedreht. „Er hört die Straßenbahn“, sagte die Stimme, als das Geräusch für ihn bereits versunken war.
Es war die Stimme, die nun in ihm nachhallte. Vorsichtig streckte er seinen linken Arm aus, versuchte, mit der Hand tastend, den Quell der Stimme ausfindig zu machen, verspürte harte Rauheit, zog die Hand erschreckt wieder zurück, denn so konnte sich die angenehme Stimme nicht anfühlen, hoffte nun mit der rechten Hand auf mehr Erfolg, verspürte plötzlich Zartheit, Wärme, hatte die Stimme gefunden und war zufrieden.
Die abwechselnd hellen und dunklen Schatten, die bisher ihren Weg durch die Lider seiner fest geschlossenen Augen gefunden hatten, erweckten plötzlich sein Interesse, begannen ihn gleichzeitig zu beunruhigen. Obwohl er die Kraftanstrengung ahnte, die jener Akt der Selbstfindung ihn kosten würde, spürte er eine wachsende Anspannung, gleichsam ein Gefühlsgemenge aus zur Befriedigung strebender Erwartung und schwer kontrollierbarer Nervosität. Er wusste, wenn er seinen Muskeln die Erlaubnis erteilen würde, nachzugeben, die Spannung zu verringern, auf dass sich die Augendeckel höben, träfe er damit eine unumkehrbare Lebensentscheidung.
Als hätten sie auf einen folgenschweren Entscheid nur gewartet, begannen die Muskeln seiner oberen Gesichtspartie unheilvoll zu zittern. Ihm war, als ob sich eine höhere Macht seines immer noch halbherzig gefassten Entschlusses zu bemächtigen versuchte. Seine Gegenwehr erfolgte, jedoch nur schwach, war er sich der Unabwendbarkeit des Zwangsläufigen doch durchaus bewusst. Gleichzeitig erkannte er, dass die Entscheidung längst gefallen war, bereits getroffen wurde, als er sich der Tatsache ihres Bevorstehens noch gar nicht gewidmet hatte. Nicht Handelnder, sondern Behandelnder zu sein, Objekt statt Subjekt, Tat statt Täter, immer der Folgende, Ausführende, der Anhänger, nicht der Treiber, sondern der Getriebene, ab dem Moment des Nachlassens seiner Muskelspannung und von da an bis zum Ende seiner Zeit; diese Erkenntnis blitzte durch seine Nerven, fraß sich in den Windungen seines kleinen Gehirns fest, schüttelte ihn; er spürte in sich Panik aufsteigen, vernachlässigte darüber die Kontrolle seiner Augenmuskeln, spürte seinen Widerstand brechen, zusammen-brechen, ein schmaler Lichtstrahl fraß sich durch den unteren Rand seiner immer noch geschlossenen Augen, wurde breiter, heller, gleißend, Farben mischten sich plötzlich mit weißer Schärfe, das Chaos seiner Eindrücke widersetzte sich sämtlichen Züchtigungsversuchen, Farben, Licht und Blitze begannen sich zu verbinden, zu formen, bildeten Muster, Mosaike zunächst, dann, klarer werdend, tatsächliche Formen, nach Gegenständlichkeit strebend, realer, wirklicher, sich allmählich beruhigend, nachtropfend, nachblitzend, erkennbar schließlich, betrachtensbereit.
Seine bislang starren Augen begannen zu flirren, seine Pupillen fokussierten den nächstbesten Gegenstand, schwenkten dann nach links, verharrten einen Moment, begannen von dort aus den begrenzten Horizont nach rechts abzutasten. Gestalten glitten durch sein Blickfeld, schienen ihm zugewandt, doch immer noch unscharf, ebenso wie alle weiter entfernten Gegenstände, deren Umrisse sich erst jetzt langsam zu klären begannen. Mit erwachtem Selbstbewusstsein neugierig geworden, bewegte er vorsichtig seinen Kopf nach rechts, um einen weiteren Ausschnitt seiner neuen Wirklichkeit in Augenschein zu nehmen. Wieder von der Mitte nach links, dann langsam von dort nach rechts. Eine helle, unscharf umrissene Fläche brachte den Streifzug seiner Augen abrupt zum stehen.
„Du bist uns gut gelungen“, ertönte es von irgendwo aus der Fläche.
Tat, nicht Täter.
Seine Augen weiteten sich. Er wusste, er musste sehen, klar sehen, jetzt, sofort, seine ganze Kraft auf diesen Augenblick konzentrieren, die Unschärfe fort-wischen, von seinem Blick und aus seinen Gedanken. Noch einmal schloss er seine Augen, hielt einen Moment inne, sammelte seinen Willen, seine sich öffnenden Lider enthüllten zuerst wieder nur Konturen, sich schnell verstärkend, konkretisierend. Dann, unvermittelt, war es vorbei. Angstvolle Ahnung, nagende Unsicherheit, bohrende Befürchtung, vorbei. Beruhigende Geborgenheit, tröstende Unwissenheit, zärtliche Blindheit, vorbei.
Die Zeit der Erkenntnis war da.
Er schaute sich um. Mit klarem Blick, bereit zu verstehen. Und er verstand.
Tat, nicht Täter!
Sein Mund öffnete sich und es entfuhr ihm ein unartikulierter, markerschütternder Schrei.
Der kleine Schulz war geboren.