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3.

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Der Vater als Geldverdiener, die Mutter als Hüterin von Heim und Haushalt: eine durchaus geläufige Konstellation, damals, zu Zeiten des im Wirtschaftswunder aufstrebenden Landes. Besonders, wenn ein Kind im Hause war.

Und das war er schließlich, der kleine Schulz. Ein Kind in der Südstadt des aus den Trümmer wiederauferstandenen Kassels, in sogenannten geordneten Verhältnissen aufwachsend, mit Freunden um sich und dem großen, schon älteren, wilden Jungen vom Nach-barhaus sowie Mutter Schulz als Menetekel über sich.

Geschwister hatte der kleine Schulz keine, denn Vater und Mutter Schulz hatten beschlossen, mit der Erzeugung eines einzelnen Nachfolgers genug zum Bevölkerungswachstum des kriegsbedingt geschwächten Gemeinwesens beigetragen zu haben. Gegenargumente dahingehend, dass Einzelkinder Probleme bekommen könnten, sich im Leben zurecht zu finden, vielmehr zu ausgeprägten Egoisten heranwachsen würden, wurden weitgehend unbesehen zurückgewiesen. Das sei schließlich Erziehungssache, hieß es. Und für eine gute Erziehung des Kindes, nun, dafür wolle man schon sorgen. So die Eltern Schulz.

Dem kleinen Schulz brachte sein Alleinstellungs-Status indes nur Vorteile. Zu Weihnachten und zum Geburtstag bekam er alle Geschenke und musste sie mit niemandem teilen. Wenn ihn Mutter Schulz nach seinem Lieblingsessen fragte, durfte er wählen - und nur er. Und ebenso natürlich war es für ihn, dass ihm die ganze Aufmerksamkeit seiner Familie zuteil wurde.

Die Familie bestand in den Augen des kleinen Schulz im Wesentlichen aus zwei Personen: Mutter Schulz und Oma Schulz. In zweiter Reihe rangierten der „Große Opa“ und die „Große Oma“, die zur Familie von Mutter Schulz gehörten. Drittreihig folgten Onkel Schulz sowie Tante Martha und Onkel Walter. Wer darüber hinaus noch zur Familie gehörte, hätte der kleine Schulz wohl nur sehr fehlerhaft und erst nach längerem Nachdenken zu sagen gewusst. Sie gehörten noch nicht zu seiner Welt, die Cousins und Cousinen, Groß-Cousins und Groß-Cousinen, angeheirateten Schwipp-Schwager und –Schwägerinnen, das ganze Volk also, das an seiner Familie dranhing. Wer sich nur selten sehen ließ und auch keine Geschenke schickte, den kannte der kleine Schulz nicht. Punkt!

Eine besondere Stellung hingegen war Vater Schulz vorbehalten. Er war zwar selten greifbar und trotzdem auf seltsame Weise omnipräsent. Er war da, auch wenn er nicht da war. Er schützte und beschützte, gab Vertrauen und bot Sicherheit, er hielt alles zusammen.

Väter sind so. Zumindest in Kinderaugen.

Wer sich eine solche Präferenz- und Sympathie-Rangliste leistet, zieht daraus bestimmte Konsequenzen und weiß in der Regel auch, was er tut. Der kleine Schulz zog seine Konsequenzen und wusste mitnichten, was er tat oder besser hätte tun sollen. Er tat das, was alle Viereinhalbjährigen getan hätten: er folgte seinem Herzen.

Morgens gegen kurz nach sieben, wenn Vater Schulz zur Wohnungstür hinaus war, begann der Tag für den kleinen Schulz immer auf die gleiche Weise: Mutter Schulz holte ihn aus dem Bett, wusch ihn, zog ihn an und bereitete dann in der kleinen Küche für ihn und sich das Frühstück. Natürlich wurde in der Küche dann auch gegessen, denn im Winter war sie der einzige Raum der Wohnung, der zu dieser frühen Stunde bereits geheizt worden war. Und da das, was sich im Winter bewährt hatte, im Sommer nicht schlecht sein konnte, wurde zu jeder Jahreszeit in der Küche gefrühstückt, gerade so, wie in Tausenden anderer Haushalte auch.

Später räumte Mutter Schulz den Frühstückstisch ab und setzte den Pfeifkessel auf den Herd, um warmes Wasser für den Abwasch zu bekommen. Der kleine Schulz wurde unterdessen ins Wohnzimmer geschickt, zum Spielen, denn der Wohnraum war knapp und die Wohnungen klein; Kinderzimmer kamen erst einige Zeit später wieder in Mode.

Dann klingelte es an der Wohnungstür. Natürlich klingelte es öfters einmal, wenn der Briefträger einen Eilbrief brachte oder der Scherenschleifer durchs Haus ging oder der Bürstenmann oder ein Hausierer. Dieses Klingeln war jedoch anders. Zweimal lang, einmal kurz. Das war Oma Schulz, die in einem neugebauten Apartmenthaus, gleich um’s Eck in der Milchlingstraße, eine winzige Wohnung besaß und jeden zweiten Tag, manchmal aber auch jeden Tag herüber kam. Meistens war sie gerade auf dem Weg in die Stadt, zum Gemüsemarkt auf dem Königsplatz, zum Fisch- und Fleischmarkt auf dem „Entenanger“ genannten Platz oder dorthin, wo die großen Kaufhäuser bereits wieder lockten und die Hut-, die Mieder- und die Haushaltswarengeschäfte. Dort war Trubel, dort war Treiben, dort drängte sich der Verkehr, umstanden Kräne riesige Baugruben, ausgehoben von lärmenden Baggern, dort schlug das Herz der Stadt, dort entstand sie aus den Trümmern neu.

Dorthin nahm die Oma Schulz den kleinen Schulz regelmäßig mit. Und wenn er dann an ihrer Hand fürbass schritt, glücklich, für eine zeitlang der Enge der elterlichen Wohnung entkommen zu können, glücklich auch, ein paar Stunden seiner Mutter entronnen zu sein, dann machte sich in ihm mitunter ein schlechtes Gewissen bemerkbar. Er spürte mehr als er wusste, dass hier etwas mit ihm geschah, dass jeder Ausflug an der Hand der Oma Schulz zwar auch ihm, dem kleinen Schulz, zur Freude stattfand; aber eben nur „auch“. Denn warum sonst meldete sich bei ihm sein Gewissen? Und warum sonst hatte der kleine Schulz das Gefühl, auf rätselhafte Weise Mittel zum Zwecke zu sein?

Er wusste es nicht.

Da aber lange Grübeleien nicht die Sache kleiner Jungen sind, verschob der kleine Schulz sein schlechtes Gewissen in die hinterste Ecke seines Gehirnkastens. Er würde sich später damit befassen. Irgendwann.

Und so kam es, dass ein nun wieder ganz unbeschwerter Viereinhalbjähriger, an der Hand seiner Großmutter hin und hertändelnd, erwartungsfroh der Stadt zustrebte.

Der Weg in die Stadt, das bedeutete, genau besehen, eigentlich zwei Wege, die je nach Plänen und Gemütslage der Oma Schulz zur Auswahl standen. Wollte Sie zum Beispiel zum Versorgungsamt oder zum Arzt, dann wählte sie die sogenannte „Beamtenlaufbahn“, einen breiten Fußweg entlang der verkehrsreichen Frankfurter Straße, die sich an dieser Stelle kopfsteingepflastert und einen Ehrfurcht einflößenden und „Weinberg“ genannten Basaltkegel in ansteigenden Mäandern umkreisend, der Innenstadt entgegen wand. Da die Hauptstraße gleichzeitig den damals kürzesten Weg zu einer Vielzahl von Behörden darstellte, war sie als Dienstweg der vielen in der südlichen Vorstadt wohnenden Beamten bekannt und trug ihren Spitznamen daher zu recht.

Wollte die Großmutter hingegen, wie gerade jetzt, auf den Markt oder eines der großen, nach dem Kriege emporgewachsenen Kaufhäuser aufsuchen, begab sie sich lieber auf dem Weg durch die Aue dorthin, der ruhiger war, weil vom Verkehr unbeläs-tigter, und der sozusagen „von hinten“ die Stadt erreichte.

Genau genommen führte der Weg gar nicht durch die Aue, wie der beliebte Park der Südstadt der Kürze halber gern genannt wird, sondern lediglich ein kleines Stück an ihr vorbei.

Entlang ging es auf dem Fahrdamm, entlang der Mauer der Kleingarten-Kolonie. Dann links ab, besagte Kastanie passierend.

Danach begann der Weg anzusteigen. Und war er bis hierhin noch ein Asphaltweg gewesen, wurde er nun zum Schotterweg, eigentlich eher zum Erdeweg. Und steil ging es nun bergauf, der ersten Terrasse des Rosenhangs entgegen, der so hieß, weil er genau das war – ein Hang, vor Jahren aufgeschüttet mit Trümmerschutt aus dem Bombenkrieg, nun über und über von kunstvoll angepflanzten Rosenbüschen bestanden. Auf der ersten Terrasse verschnaufte die Großmutter für gewöhnlich einen Moment, bevor sie den nächsten Anstieg zur nächsten Terrasse in Angriff nahm.

Dem kleinen Schulz blieben diese Zwangspausen weitgehend unverständlich. Er war nicht außer Atem; warum dann seine Oma, die doch sonst immer alles konnte und ständig auf den Beinen war, quirlig und vergnügt? Dass die Großmutter während der Flucht aus Ostpreußen an Tuberkulose erkrankt war, wusste der kleine Schulz natürlich nicht. Und hätte er es gewusst, es hätte ihm wahrscheinlich nicht viel bedeutet. Er war auch öfters einmal krank, hatte schon Keuchhusten gehabt und Mumps und andere komische Sachen. Aber wenn man so etwas hatte, dann wurde man früher oder später auch wieder gesund. So einfach war das. Zumindest für den kleinen Schulz.

Bereits nach wie immer kurzer Zeit setzten sich Oma und Enkel wieder in Bewegung und ihren Aufstieg in städtische Höhen fort. Sie passierten aufenthaltslos die zweite Terrasse und nahmen nun den letzten Aufstieg in Angriff, die Rampe, die, in einiger Entfernung gut sichtbar, den Gipfel erreichte und damit die Straße, welche den Rosenhang zur Stadt hin begrenzte und „Schöne Aussicht“ genannt wurde.

Spätestens jetzt lief dem kleinen Schulz ein Schauer über den Rücken, denn erstens war man an dieser Stelle bereits weit genug den Hang hinaufgeklettert, um, wenn man hinunter guckte, einen gehörigen Schrecken zu bekommen, und außerdem musste der kleine Schulz an dieser Stelle immer an den Elefanten denken.

Der Elefant war Angehöriger der indischen Spielart dieser Spezies gewesen, ein braver und immer williger Mitarbeiter eines kleineren Zirkus’, der eines Tages in der Stadt gastierte. Viele, viele Jahre war das her, lange Zeit vor dem Krieg. Wie es passieren konnte, war nicht bekannt; jedenfalls hatte der Elefant die Gelegenheit zur Flucht bekommen, sie sogleich ergriffen und war seinen Wärtern davon geeilt. Die darauf folgende wilde Hatz hatte den Dickhäuter schließlich zur Schönen Aussicht geführt. Die Dompteure hinter und die weite Parklandschaft vor sich, war das brave Rüsseltier weiter gelaufen, immer weiter, auf den damals noch ungesicherten Rosenhang zu, wo es unversehens den Boden unter den Füßen verlor und kopfüber in die Schlucht stürzte.

Der kleine Schulz hatte dem Elefanten bereits seine Referenz erweisen können. Die Oma war mit ihm im Naturkundemuseum gewesen, wo der bleiche Schädel des armen Dickhäuters präpariert zur Schau stand. Und sie hatte dem kleinen Schulz genau gezeigt, wo ein kleines Loch und ein langer Riss in der Schädeldecke diejenige Stelle markierten, an der dem Leben des Flüchtlings durch den Aufprall auf eine Basaltsteinkante ein jähes Ende gesetzt worden war.

Jedes Mal, wenn der kleine Schulz daran dachte, also jedes Mal, wenn er an der Hand seiner Großmutter zur Stadt hinauf stapfte, jagte es ihm einen Schauer über den Rücken, der jedoch bereits im selben Moment vergessen war, in dem man um die nächste Straßenecke bog. Denn dort, direkt hinter der verkehrsreichen Hauptstraße, öffnete sich dem Blick die Innenstadt, streckte sich der für einen Viereinhalbjährigen unglaublich große und nach einem ehemaligen Landesherrn benannte Friedrichsplatz baumlos, aber wiesengrün den Geschäftshäusern entgegen, rechts beflankt von zwei monumentalen Bauwerken der Kaiserzeit: dem Portikus des „Roten Palais“ und dem Museum Fridericianum, letzteres weiß marmoriert und im Sonnenlicht gleißend hell leuchtend, ein Anblick, der den kleinen Schulz jedes Mal von Neuem innehalten ließ.

An was denkt ein kleiner Junge, sozusagen „ante portas“ der großen Stadt? Gibt es für ihn Dinge, die zu besorgen wären? Geschäfte, die es zu tätigen gälte?

Natürlich nicht! Oder…vielleicht doch?

Wenn der kleinen Schulz etwas wichtig nahm, dann waren es Autos. Spielzeugautos. Spielzeugautos waren dem kleinen Schulz wichtiger, als irgendein anderer Zeitvertreibs- oder Beschäftigungsgegenstand es jemals hätte sein können. Auch waren dem kleinen Schulz Spielzeugautos wichtiger, als sie anderen Jungen in seinem Alter durchschnittlich waren. Und es waren auch nicht irgendwelche Spielzeugautos, an denen sein Herz hing, denen er nachjagte. Nein, ganz besondere mussten es sein, ganz spezielle, von einem ganz bestimmten Hersteller. Aus Plastik waren sie, ganz naturgetreu waren sie, eben keine Spielzeugautos, sondern Modellautos, manchmal ein wenig zerbrechlich. Diese wollte der kleine Schulz. Diese, und nur diese.

In der südlichen Vorstadt, wo er mit seinen Eltern lebte, dort, wo auch seine Großmutter wohnte, gab es eine kleine Baracke. Sie stand auf einem ansonsten leeren Grundstück an der Heinrich-Heine-Straße, von dem man vor noch nicht all zu langer Zeit die Trümmer des Hauses, das dort gestanden hatte und das in einer der Bombennächte gefallen war, fortgeräumt hatte.

Die kleine Baracke beherbergte einen Laden. Das war an sich nichts Besonderes. In Baracken hatten zu dieser Nachkriegszeit immer noch viele ehemalige Läden und Geschäfte Unterschlupf gefunden.

Der Laden, der sich in dieser kleinen Baracke befand, war allerdings ein Spielzeugladen, in dessen kleinem Schaufenster sich eine Vielzahl von Spielzeugautos tummelte. Spielzeugautos? Nein, Modellautos! Eben genau die, die der kleine Schulz wollte.

Wie oft stand er an der Schaufensterscheibe und drückte sich seine kleine Nase platt? Wohl so ziemlich jedes Mal, wenn ihn seine Mutter zum Einkaufen mitnahm. Oder seine Großmutter.

Bei seiner Mutter zeitigte sein Betteln keinen Erfolg. Bei seiner Großmutter manchmal schon. Die kleinen Autos waren nicht sehr teuer. Seine Mutter hatte Geld, aber Prinzipien. Seine Großmutter besaß nur eine kleine Rente und auch Prinzipien. Aber andere.

Und so kam es, dass sich die Modellautosammlung des kleinen Schulz Stück für Stück vergrößerte. Und da eine Modellauto-Sammlung für einen Viereinhalbjährigen niemals groß genug sein kann, verband der kleine Schulz, der da an der Hand von Oma Schulz auf die große, verheißungsvolle Stadt zutrabte, mit den bevorstehenden ein bis zwei Stunden ganz bestimmte Wünsche und Hoffnungen. Denn Läden, in denen man Spielzeugautos kaufen konnte, gab es hinter der breiten Hauptstraße genug.

Zuvor jedoch sollte die hoffnungsvolle Vorfreude des kleinen Schulz noch auf eine unerwartete Probe gestellt werden. Was an sich kein Problem war. Denn wer es schafft, sich als Viereinhalbjähriger eine bereits recht ansehnliche Automodell-Sammlung trickreich zusammen zu betteln, der weiß auch auf seine Chance zu warten.

An der den direkten Weg in die verlockende Stadt versperrenden Hauptstraße angekommen, wo Autos, Motorräder und Lastwagen aller Art von links nach rechts und von rechts nach links zweispurig donnernd vorbei tosten, bog die Großmutter zunächst wie immer links ab, vorbei am Geländer des Abgrunds, der in die Unterwelt führte und bezüglich der fußgängermäßigen Überwindung vielbefahrener Straße von einschlägigen Planern des Verkehrs als der zur dieser Zeit Weisheit letzter Schluss angesehen wurde. Jedoch gedachte Oma Schulz offenbar nicht, den sich dahinter erschließenden Treppenabgang zu erreichen, sondern blieb stehen und blickte einen Moment den kleinen Schulz nachdenklich an. Der kleine Schulz blickte fragend zurück.

Dann schien es, als ob Oma Schulz einen Entschluss gefasst habe. Sie fasste die Hand ihres Enkels fester, wandte sich einem Gebäude gleich zur Linken zu, öffnete dessen eisenbeschlagene Tür und trat ein. Die Tür fiel hinter ihnen wieder zu.

Es war, als ob ein unhörbarer Befehl dem Verkehr auf der Hauptstraße geboten hätte, zu verstummen. Plötzliches Dämmerlicht umgab den kleinen Schulz. Und Stille. Tiefe, halbdunkle Stille. Der kleine Schulz konnte sich nicht erinnern, jemals vorher an einem solchen Ort gewesen zu sein. Trotzdem empfand er keine Angst, denn er spürte die Hand der Großmutter fest um seiner eigenen. Damit ging die Sache für ihn in Ordnung.

„Wo sind wir hier?“ flüsterte er. Sein Flüstern durchschnitt die Stille wie ein Rasiermesser.

„Das ist die neue Elisabeth-Kirche“ flüsterte Oma Schulz zurück. „Ich komme manchmal hierher, wenn ich auf dem Weg in die Stadt bin. Es ist zwar eine katholische Kirche, aber die evangelischen sind immer verschlossen, da kommt man nicht hinein. Außerdem sind die katholischen viel schöner geschmückt als unsere.“

Womit der kleine Schulz etwas zum Nachdenken hatte. Er hätte in diesem Moment eigentlich ganz viele Fragen gehabt, die ihm seine Großmutter bestimmt hätte beantworten können. Aber er getraute sich nicht. Denn bereits schon das leiseste Geräusch, das man von sich gab, schallte durch das große Haus wie eine Posaune. Außerdem fühlte sich der kleine Schulz plötzlich irgendwie komisch. Als habe ihn jemand in eine dicke Decke eingewickelt. Er fühlte sich so, wie sich Viereinhalbjährige normalerweise eben nicht fühlen.

Der kleine Schulz beschloss, gegen dies komische Gefühl etwas zu tun. Er machte sich von der Hand der Großmutter los und begann, langsam und, um jedes unnötige Geräusch zu vermeiden, auf Zehenspitzen durch das Kirchenschiff zu schleichen. Dazu wählte er den Seitengang, der ihm im Vergleich zum viel breiteren Mittelgang ungefährlicher erscheinen wollte. Er wunderte sich über die Größe der Kandelaber an den Wänden und die Konstruktion der hölzernen Sitzreihen, die, gleichförmig wie eine Kette, durch sein Blickfeld glitten. Er erreichte den Seitenaltar, widerstand aber dem Drang, an ihn heran zu treten und seine kleine Hand auf die steinerne Tischplatte zu legen. Er würde kalt sein, der Stein, furchtbar kalt, so kalt, wie kalter Stein eben ist. Und kalten Stein wollte er jetzt nicht anfassen.

Also schlich er weiter voran, weiter, bis sich über ihm die rot- und gold gemalte Kanzel wölbte, die für den kleinen Schulz so aussah, als habe sie jemand mit Alleskleber an die Wand geklebt, gerade so, wie Vater Schulz einen kleinen Schornstein an ein kleines Dach klebte und damit ein kleines Modellhaus vervollständigte, was sich auf der Eisenbahnanlage gut ausmachen würde, die der kleine Schulz gerade zu Weihnachten bekommen hatte..

Der kleine Schulz schaute nach oben, zog seinen Kopf unwillkürlich ein wenig ein und bemerkte bei dieser Gelegenheit den Hauptaltar, in seinen Augen ein langer, breiter Tisch, der mit einem purpurroten Tischtuch und zwei Leuchtern geschmückt war.

„Anfassen verboten!“ Hätte vor dem Tisch ein großes Schild gestanden, das jegliches Berühren des Mobiliars nebst dessen Arrangements kategorisch untersagt, dem kleinen Schulz hätte es nicht klarer sein können! Niemand brauchte es ihm zu sagen, nein, der Altartisch schrie es ihm förmlich entgegen, denn dieser Tisch war ein Gegenstand aus einer Welt, die nicht die Welt des kleinen Schulz war. Der kleine Schulz stand vor den zwei Stufen, die den Altarraum vom Kirchenschiff trennten und spürte, dass er vor einem Tor stand, das für ihn verschlossen war. Und er fragte sich in diesem Moment, ob sich ihm dieses Tor auch irgendwann einmal öffnen würde. Und wusste darauf keine Antwort.

Der kleine Schulz drehte sich um und schlich langsam durch den breiten Mittelgang zurück, zurück zu seiner Großmutter. Die lenkte seinen Blick hinauf ins rückwärtige Kirchenschiff, dorthin, wo die große Orgel in ihrer ganzen Pracht zu sehen war.

Auch wenn er pflichtschuldig nach oben guckte, der kleine Schulz interessierte sich nicht für die Orgel.

Der kleine Schulz war traurig und wusste nicht warum. Nicht zum Weinen traurig; anders traurig. Als habe er etwas verloren, etwas ganz Wichtiges. Oder es gesucht und nicht gefunden. So traurig.

Oma Schulz schien von den Nöten ihres Enkels nichts bemerkt zu haben. Sie nahm ihn wieder an der Hand und steuerte auf den Ausgang zu. Der kleine Schulz wollte sich noch einmal umblicken, wollte (warum nur?) den Altar noch einmal sehen. Die Großmutter jedoch fasste seine Hand fester und zog den kleinen Schulz mit sich, öffnete die schwere Türe – und hinaus waren sie, zurück im Sonnenlicht, das ihnen nun viel heller, gleißender erscheinen wollte als zuvor. Schnell stiegen sie die Treppe zur Straßenunterführung hinab, wieder ins Halbdunkel, diesmal neonerhellt. Über eine andere Treppe zurück ans Tageslicht, die große Straße lag nun hinter ihnen.

Nach einer Weile – sie waren mittlerweile in der Kaufhalle gewesen und bei Bilka, waren die Treppen der neu entstandenen Fußgängerzone hinauf gestiegen, um beim Hutgeschäft eine von Omas Mützen zur Reparatur abzugeben, hatten im Haus der Krankenkasse schnell ein Formular besorgt, waren auf der anderen Seite der Fußgängertreppen wieder hinab gestiegen, den Straßenbahnen entgegen, die dort in schneller Folge bimmelnd und quietschend vorüber fuhren, anhielten, alte Fahrgäste ausspien, neue Fahrgäste mit ihren gefräßigen Mäulern verschluckten, bimmelten, brummten, heulten, knarrten, schneller werdend vorwärts krochen, sich schon für den nächsten Halt bereit machten, um das ganze Spiel wieder von vorne zu beginnen – nach einer Weile also bemerkte die Großmutter, dass etwas anders war. Anders als sonst. Sie überlegte und kam schließlich darauf.

Ihr Enkel war anders. Anders als sonst. Gewöhnlich war er ein Meister darin, zu erzählen. Er erzählte, was ihm gerade in den Sinn kam, erzählte, was er gerade sah, dachte laut darüber nach, wenn er etwas nicht auf Anhieb verstand, dozierte über Dinge so, wie er sie sah, manchmal zu Oma Schulz gewandt, meistens aber sich neugierig-aufmerksam umblickend, wie ein quicklebendiger Viereinhalbjähriger eben.

All das tat er an diesem Tage eben nicht. Im Gegenteil. Der kleine Schulz schwieg, schwieg beharrlich vor sich hin, schien eher lustlos an der Hand von Oma Schulz dahin zu trotten.

Die Großmutter überlegte – war ihr Enkel schon den ganzen Tag so still gewesen? Hatte es vielleicht schon zuhause bei den Eltern Ärger gegeben und waren dem Jungen dabei womöglich die Leviten gelesen worden?

Nein. Als sie ihn abgeholt hatte, war er gewesen wie immer. Sie verfolgte gedanklich ihren Weg durch die Aue, den Rosenhang hinauf, über die „Schöne Aussicht“, begann, ab dort die Kreise enger zu ziehen und kam schließlich zu dem Ergebnis, dass zwischen der einen Seite der Hauptstraßen und der anderen Seite etwas mit ihrem Enkel geschehen sein musste, sann einen weiteren Moment nach, dann fiel ihr die Kirche ein. Was war dort passiert? Hatte der Junge etwas gespürt? Am Ende womöglich Gottesnähe? War das der Grund für sein Schweigen?

Die Gedanken der Großmutter schweiften für einen Moment ab. Mit Gott war das so eine Sache. Da war einerseits das, was man sollte und andererseits das, was man wollte. Man sollte den Jungen zu einem guten Christen erziehen. Trotz allem. Das war man ihm schließlich schuldig. Außerdem gehörte sich das so. Aber manchmal war das gar nicht so leicht. Wenn man nämlich daran dachte, dass er einen im Stich gelassen hat, der sogenannte liebe Gott, im Stich gelassen, als man ihn am Nötigsten brauchte. Wie hieß es so schön? Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott? Pustekuchen. Damals in Ostpreußen, als sie hinaus mussten aus dem Familienanwesen, dem Mietshaus, das der Mutter gehörte, die es mit Bescheidenheit, Menschlichkeit und Beharrlichkeit (den drei ostpreußischen Kardinaltugenden) zu kleinem Wohlstand gebracht hatte, als man also dieses Lebenszentrum verlassen musste, von jetzt auf gleich, gerade mal mit einem Koffer in der Hand, den Weg nach Westen anzutreten, einen Weg, der viel mehr Möglichkeiten bot, zu krepieren als ihn zu überleben, da war kein lieber Gott weit und breit. Sie hatten sich selbst helfen müssen, jeden Tag, Tag für Tag. Und irgendwie war es gegangen. Sie hatten überlebt. Aber sie hatten einen hohen Preis dafür zahlen müssen (bloß nicht darüber nachdenken). Eigentlich war es eher ein Geschäft mit dem Teufel gewesen, das sie damals eingegangen waren. Und die gute Mutter musste es, nur wenige Jahre später, schließlich doch noch mit ihrem Leben bezahlen.

Nein! Oma Schulz wollte seitdem nicht mehr an die Existenz eines Gottes glauben. Und hin und wieder in die Kirche ging sie nur, weil ihr die Stille dort gefiel. Und die Erhabenheit, die man dort spürte. Und die Festlichkeit, von der man sogleich umfangen wurde. Deshalb ging sie in die Kirche. Mit Gott hatte das nichts zu tun.

So dachte sie und dachte weiter darüber nach, was ihrem Enkel vorhin wohl widerfahren sein mochte.

Der kleine Schulz indes lief neben seiner Großmutter her und war traurig, weil er etwas verloren hatte, von dem er vorher nicht wusste, dass er es besaß. Und da er vorher nicht wusste, was es war, würde er es nun wahrscheinlich niemals mehr erfahren.

Und als dem kleinen Schulz das klar wurde, da wurde er noch trauriger.

Oma Schulz hatte inzwischen den Weg zum Königsplatz eingeschlagen. Erstens, weil sie dort ein Kilo Zwiebeln zu erstehen gedachte und ein Pfund Rosenkohl, der bereits schon den ersten Frost abbekommen haben musste, auf dass er dadurch seine Bitterstoffe verlöre. Und nur auf dem Gemüsemarkt war Oma Schulz sicher, ein solches unter verschärften Bedingungen aufgewachsenes Gemüse anzutreffen.

Zweitens gab es auf dem Gemüsemarkt auch die sogenannten Lebenden Tiere zu besichtigen und, gegebenenfalls, auch käuflich zu erwerben.

Natürlich gedachte Oma Schulz keineswegs, einen verängstigten Hahn oder einen zitternden Stallhasen mit nach Hause zu nehmen, um ihm dort, an besten in ihrer winzigen Appartementküche, zwecks Zubereitung eines schmackhaften Mahls den Garaus zu machen.

Vielmehr waren die im behelfsmäßig aufgeschichteten Stroh scharrenden Hühner, die sich gegenseitig imponierenden Hähne, die buckelnden Hasen, die schnakenden Enten und die unter- und übereinander quirlenden Küken wie dazu geschaffen, einen düster schweigenden Viereinhalbjährigen aufzuheitern und ihm wieder sonnigere Gedanken ins Hirn zu leiten.

Tatsächlich hellte sich die Miene des kleinen Schulz auf, als er des wieselnden Getiers ansichtig wurde. Tatsächlich bat er die Großmutter, mit ihm doch einmal hierhin und dorthin zu gehen, zu den roten Hähnen, zu den Wollhühnern. Dann sah er die Entenküken, wollte dort hin und nicht wieder weg.

Schließlich mahnte Oma Schulz jedoch, dass es Zeit sei, den Heimweg anzutreten.

Hätte der kleine Schulz in diesem Moment die Bitte geäußert, doch vorher noch einmal bei einem Spielwarengeschäft vorbei zu schauen, die Großmutter hätte nichts dagegen einzuwenden gehabt. Im Gegenteil. Eigentlich wartete sie nur auf diesen Vorschlag, denn der kleine Schulz hatte ihn bisher jedes Mal gemacht, wenn sie zusammen in der Stadt waren.

Doch diesmal schwieg der kleine Schulz. Und kaum hatten Großmutter und Enkel dem Gemüsemarkt den Rücken gekehrt, wurde der kleine Schulz auch schon wieder wortkarg.

Für den Heimweg wählten sie wie immer die „Beamtenlaufbahn“. Vorbei ging es zunächst am „Roten Palais“ und an der ehemaligen Kommandantur, von deren schmiedeeisen-umwehrten Balustrade herab sogar einmal Kaiser Wilhelm II. das Defilee verdienter Lokalgrößen abgenommen haben soll. Danach ging’s weiter die Obere Königsstraße hinauf. Kurz vor „Wuulwort“ (wie Oma Schulz mangels Englischkenntnissen immer zu sagen pflegte) wurde links abgebogen.

Es ging die dunkle, zugige Rathausgasse entlang, dann über den kopfsteinpflastrigen Karlsplatz, wobei man mit viel Glück und zur richtigen Uhrzeit dem herrlichen Glockenspiel lauschen konnte, welches von der Kuppel der Karlskirche herab erklang. Doch wie um eine Stimmungsaufhellung des kleinen Schulz zu vermeiden, schwiegen die Glocken, so dass die beiden Stadtbummler unbeschallt ihren Weg fortsetzen mussten.

Dadurch konnte der kleine Schulz ungestört traurig sein. Und fand dabei Zeit für tiefschürfende Überlegungen. Er fragte sich zum Beispiel, warum ihm eigentlich so merkwürdig zumute war. So, als ob ihm die Großmutter ein Modellauto gezeigt hätte (eines von denen, die er sich schon so lange wünschte), und in dem Moment, wo er zugreifen will, sagen würde: „Ätsch – das bekommst du aber nicht!“ Das ist nicht recht, dachte sich der kleine Schulz, das ist nicht recht, dass du so etwas denkst. Die Oma hatte so etwas noch niemals getan, und so, wie der kleine Schulz die Lage einschätzte, würde sie so etwas auch in Zukunft niemals tun. Aber warum fühlte er dann einen unbestimmten Groll auf seine Großmutter? Warum hatte er einfach keine Lust mehr, mit ihr zu reden?

Unvermittelt meldete sich sein schlechtes Gewissen. Wenn er weiter schwieg, würde es nicht mehr lange dauern, bis auch die Großmutter traurig sein würde. Und zum Schluss wäre sie womöglich sogar böse auf ihn. So was konnte passieren, der kleine Schulz wusste es. Einmal hatte er einen ganzen Vormittag lang nicht mit seiner Mutter geredet, weil die ihm beim Waschen morgens Seifenwasser in die Augen gespritzt hatte. Das hatte höllisch gebrannt und der kleine Schulz hatte sich erst nach einer halben Stunde getraut, seine fest zugekniffenen Augen vorsichtig wieder zu öffnen. Da war er der Mutter böse gewesen und hatte keinen Ton mehr von sich gegeben. Das hatte die Mutter nun davon! Doch irgendwie hatte sich die ganze Situation plötzlich ins Gegenteil gekehrt. Nach einer Weile war die Mutter ärgerlich geworden und hatte ihn, den kleinen Schulz, böse angefunkelt. Es war richtig brenzlig geworden für den kleinen Schulz, bis das Eintreffen der Großmutter gerade noch rechtzeitig die Wogen geglättet hatte.

So etwas, dachte sich der kleine Schulz, konnte jeder Zeit wieder passieren. Und wenn es diesmal auch nicht die Mutter, sondern die Oma Schulz war, die er anschwieg, wäre es vielleicht doch besser, sich die ganze Sache noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen.

Wenn jemand in diesem Moment dem kleinen Schulz ins Gesicht geblickt hätte, dann wäre ihm die Veränderung aufgefallen, die dort von einem Augenblick auf den anderen vor sich ging.

Die Miene eines kleinen traurigen Jungen ist für gewöhnlich verschlossen und ziemlich in sich gekehrt. Die Miene dieses kleinen Jungen hingegen schien sich wie auf einen geheimen Befehl hin zu entspannen, hellte sich auf, die Mundwinkel ruckten ein Stückchen aufwärts, es war fast schon wieder ein Lächeln, was sich da zeigte – und auch die Großmutter spürte es. Denn sie blickte auf den kleinen Schulz hinab und wusste, dass die dunklen Gedanken-Wolken ihres Enkels dabei waren, sich zu verziehen. Sie wusste es, weil sie – erstens - selbst zwei solcher Racker großgezogen hatte und – zweitens – viele Jahre in einem Jungen-Gymnasium tätig war, als Sekretärin des Direx, damals, in ihrem ersten Leben, vor dem Krieg.

Und deshalb wusste sie, dass es in der Natur plötzlich auftretender Probleme kleiner Jungen liegt, ebenso plötzlich wieder zu verschwinden. Nur – welcher Natur das Problem des kleinen Schulz gewesen war, davon ahnte sie nichts. Wie sollte sie auch? Der kleine Schulz wusste ja selber nicht, von was er an diesem Vormittag so seltsam berührt worden war.

Da jedoch weiterführende Überlegungen fürs Erste nicht mehr notwendig schienen, da der kleine Schulz wieder ansprechbar war, verlegten sich Oma und Enkel wieder auf das, was sie immer taten, wenn sie auf dem Weg von der Stadt nach Hause waren: sie statteten der großen Baustelle des neuen Amtsgerichts einen Besuch ab.

Zwischen kleinen Jungen und großen Baustellen besteht eine natürliche Affinität. Zumindest war es damals noch so, in Deutschland am Anfang der sechziger Jahre. Es gab natürlich noch weitere Affinitäten: kleine Jungens und Autos, kleine Jungens und Lokomotiven, zum Beispiel.

Mit den Baustellen hatte es jedoch eine besondere Bewandtnis. Hier fokussierte sich das Interesse nicht auf einen einzelnen, eindeutig definierten Gegenstand der Begeisterung, sondern fand in der Aggregation der Details seine Vollkommenheit.

Da war der Kran – seine Höhe im exponentialen Verhältnis zur Baustellengröße. Auf manchen Baustellen fanden sich mitunter zwei dieser Giganten, die sich, wie in einem von Geisterhand dirigierten Ballett real gewordener stählerner Ungeheuer, mit überraschender Sanftheit vor einander verbeugten und sich dabei gegenseitig Betonsilos, Ziegelpaletten oder Gittermatten gleich Geschenken zureichten, wie Vogeleltern es tun, wenn sie sich zur Brut bereit machen.

Dann die Bagger – die kleinen, die mittleren, die großen Bagger, auf Rädern, auf Schienen, auf Gleisketten, die sich in die Erde graben, Schlünde eröffnen, Berge auftürmen, abtragen, gestalten, neu erschaffen.

Zwischen ihnen die Lastwagen – Erde, Sand, Kies, Steine auf ihren Rücken angehäuft, man spürt ihre Last förmlich, sie ächzen, sie stöhnen und schreien ihre Anstrengung aus sich heraus, mit brüllenden Motoren. Dann die Erlösung – noch ein letztes Aufbäumen, die Ladefläche hebt sich, tonnenschwere Gewichte rollen, fließen, fallen zu Boden, man meint die Erleichterung zu fühlen, minutenlang, nicht länger, denn irgendwo hält ein gieriger Bagger sein greifbereites Maul bereits wieder geöffnet, hält neue Last bereit, denn die Arbeit muss weitergehen, es kann nicht schnell genug gehen, sie kommen fast nicht nach, die Menschen, die zwischen den Maschinen wuseln, zu hören sind sie, ja, sie schreien sich abgehackte Kommandos zu, Wortfetzen dringen an das Ohr des Betrachters, zu sehen sind sie auch, doch so klein, so winzig – und doch die Dompteure der um sie herum tobenden Manege.

Der kleine Schulz war begeistert. Denn wenn Oma und Enkel ihren Heimweg über die Beamtenlaufbahn wählten (was sie meistens taten), kamen sie zwangsläufig an der Baustelle vorbei. Und jedes Mal stellte sich dann erneut die spannende Frage, was es wohl heute Neues zu sehen geben würde. Denn die Baustelle veränderte sich. Tag für Tag. Das liegt an sich in der Natur von Baustellen, wurde jedoch angesichts des Tempos, mit dem damals gebaut wurde, umso augenfälliger. Außerdem galt es jedes Mal wieder von Neuem zu schauen, welches Loch im Baubretterzaun wohl diesmal offenstünde, um dem neugierigen Betrachter erkenntnisreiche Einblicke zu gewähren. Denn kaum fehlte einmal eine Latte an einer besonders exponierten Stelle, war sie beim nächsten Besuch bereits wieder ersetzt worden, getrieben von der Angst, einem unberufenen Auge aufschlussreiche Informationen liefern zu können – etwa über die Tiefe des Fundaments oder die Rezeptur des Betons. „Feind hört (und sieht) mit“ – diese Parole war in den Köpfen der Menschen damals immer noch oder auch schon wieder weit verbreitet. Besonders die Baustellen öffentlicher Gebäude waren deshalb von einer gewissen Hermetik gekennzeichnet.

Also umkreiste Oma Schulz, den kleinen Schulz fest an der Hand, die Baustelle, immer am Bauzaun entlang, um ein geeignetes Loch zu finden, eines, welches einerseits nicht zu hoch liegen durfte (Enkel-Zehenspitzenhöhe war gerade noch akzeptabel), andererseits auch nicht zu tief, denn das Kind trug lange Hosen, und den Jungen mit sandigen Hosenbeinen zu Hause abzuliefern – das kam für Oma Schulz nicht nur nicht in Frage, nein, das wäre undenkbar gewesen!

Als sie bereits die gesamte Baustelle ihrer Länge nach abgeschritten hatten und nun der nach links abbiegenden Bretterwand folgen wollten, blieben sie plötzlich wie angewurzelt stehen und das Gesicht des kleinen Schulz strahlte auf wie ein Autoscheinwerfer bei Nacht: da war kein Bauzaun mehr! In der Wand klaffte eine Lücke, gute zehn Schritte breit. Sie hatte wohl dazu gedient, neues Material auf die Baustelle zu bringen und war danach nur notdürftig mit ein paar aufrecht gestellten und mit Schweißdraht gesicherten Baustahlmatten verschlossen worden.

Für den kleinen Schulz indes war es wie ein Panoramafenster ins Paradies. Ganz nah stand er an der durchlässigen Absperrung. Mit seinen kleinen Händen umfasste er das Drahtgitter und schaute hindurch, nahm den Draht gar nicht mehr wahr und schaute nur. In diesem Moment war alles für ihn verschwunden. Mutter Schulz und Vater Schulz, Mein-liebes-Freundchen-wir-sprechen-uns-noch und Schweigen, die Kastanien und Nikodemus, sogar Oma Schulz, die Entenküken und das Glockenspiel – alles weg!

Der kleine Schulz schwebte, schwebte durch das Gitter, schwebte über die Lastwagen, die Bagger, die Bauarbeiter, schwebte nacheinander durch die Stockwerke des aufstrebenden Gebäudes, näherte sich dem Kran, war ihm ganz nah, fasste die Leiter ins Auge, die lange, lange Leiter, die den Kranführer hinaufführte, in seine Kanzel, viele Meter, hundert Meter, tausend Meter hoch hinaus, dem Himmel entgegen. Der kleine Schulz schwebte die Leiter hinauf, höher und höher, und er verspürte keine Angst, als er an der Glaskabine ankam. Er öffnete die schmale Türe, setzte sich auf den ledergepolsterten Kranführersitz und schaute über die Stadt, über die Welt, war oben, oben angekommen, unerreichbar für alle, die ihm befehlen wollten, ihn überreden wollten. Unerreichbar auch für alle die, für die er Objekt war, nicht Subjekt. Also für alle! Hier oben jedoch war er „er selbst“. Der kleine Schulz war der kleine Schulz war der kleine Schulz. Hier oben war er glücklich.

Ein ohrenbetäubender Schrei ertönte! Ein schrecklicher, unförmiger, krähender schrill ohrenbetäubender Schrei! Er riss den kleinen Schulz soggleich von seinem ledergepolsterten Kranführersitz, durch die offenstehende Türe der Kranführerkanzel hinaus ins Freie. Der kleine Schulz fiel! Der Erdboden raste auf ihn zu, in einer eigentümlichen Klarheit erkannte er unter sich roten Sand und wunderte sich, normalerweise nahmen sie doch zum Bauen immer gelben Sand, jetzt war er unten, fast, gleich, jetzt… zog ihn etwas zur Seite, oben, am Arm, vorsichtig, aber bestimmt, ein Gesicht, jenes der Großmutter, an seiner Seite, zwei andere Gesichter nahe vor ihm, unbekannte Gesichter, der kleine Schulz war wieder da, war wieder auf der Erde und hielt immer noch den Maschendraht umklammert, während zwei Bauarbeiter schon die Schweißdrahtverspannung lösten, um die Baustahlmatten beiseite zu schieben, damit der ungeduldig hupende, große, dreiachsige Zementmischer hindurch fahren konnte.

Da die beiden Bauarbeiter ziemlich unfreundliche Gesichter machten und der Fahrer des Zementmischers schon wieder hupte, nahm die Großmutter den kleinen Schulz an der Hand und gemeinsam zogen sie von dannen. Sie hatten jetzt die Beamtenlaufbahn erreicht, jenen Abschnitt der Hauptstraße, an dem sie, der Form des mächtigen Weinbergs folgend, kopfsteingepflastert talwärts und der südlichen Vorstadt entgegen führte.

Ganz eng drückte sich die Straße an die steile, fast senkrecht aufsteigende Bergwand, als wolle sie an und unter diesem Massiv Schutz suchen. Und doch war sie regelrecht eingekesselt, die Straße, denn an ihrer anderen Seite wurde sie von einer hohen Mauer begrenzt, die den dort verlaufenden breiten, etwas höher gelegenen Fußweg von der Fahrbahn abtrennte. Zu allem Überfluss nutzte auch die Straßenbahn, bimmelnd und zweigleisig, diesen passgleichen Verkehrsweg, sodass es ein regelrechtes Getöse war, was dem mit der Situation vertrauten Fußgänger da von der Beamtenlaufbahn her entgegen schallte.

Den kleinen Schulz verband mit der Beamtenlaufbahn immer eine Art Hassliebe. Zum Einen liebte er den vielfältigen Verkehr, der brummend, heulend, jaulend und geruchsintensiv zu seiner erhöhten Fußgängerwarte hinauf brandete. Hören konnte er ihn und riechen, sehen konnte er den Verkehr jedoch nicht, denn die trennende Mauer war nicht nur hoch, sondern auch sehr breit (mindesten einen halben kleinen Schulz breit). Und da auch die Großmutter nicht sehr groß, sondern eigentlich eher ziemlich klein war, hätte es auch nichts geholfen, wenn sie den kleinen Schulz hochgehoben hätte.

Doch hatte der Erbauer der Mauer offensichtlich ein Herz für kleine Jungen gehabt. Denn ein Stück weiter unten, wo schon das Ende von Hang und Abhang und Mauer zu sehen war, hatte er die Mauerkrone auf einem ganz kurzen Stück ein wenig tiefer gesetzt. Tief genug jedenfalls, auf das der kleine Schulz bäuchlings auf der Mauer liegend und von der Großmutter an den Beinen festgehalten, über den jenseitigen Mauerrand in die Tiefe spähen konnte. Hinab auf die dahinratternden Straßenbahnen, auf die ungeduldig drängelnden Personenwagen und die unter großer Last mühsam bergauf schleichenden Lastwagen. Ein bestimmter Lastwagentyp hatte es dem kleinen Schulz dabei ganz besonders angetan, der luftgekühlt heulend seinen Ärger über den steilen Berg förmlich aus sich heraus zu brüllen schien.

Doch die Beamtenlaufbahn wirkte auf den kleinen Schulz noch auf andere Weise. Denn wenn sein Blick, während er an der Hand von Oma Schulz den Weg hinab trabte, unwillkürlich rechts haften blieb, dort, wo der spannende Verkehr zu hören, aber für ihn nicht zu sehen war, wich der Eindruck der steilen, schroffen, braunen, eher dunkelbraunen, eigentlich schwarzen Felswand nicht von ihm. Sie strahlte eine unheimliche Gefahr aus, diese Wand, geheimnisvolle, aber immer verschlossene kleine Türen (die man jedoch nur sehen konnte, wenn man mit der Straßenbahn oder mit dem Auto unterwegs war), führten in ihr Inneres, und dem kleinen Schulz lief jedes Mal mindestens ein Schauer über den Rücken, wenn die Felswand ein wenig Zeit gehabt hatte, auf ihn zu wirken.

Oma und Enkel gingen weiter, hatten Mauer, Felswand und Beamtenlaufbahn nun hinter sich, die Straße und der Weg wurden flacher. Die große Kreuzung nahte, die große Kreuzung am Fuß des Berges, an der alles durcheinander fuhr, zum Schluss jedoch auf geheimnisvolle Weise jeder in die Richtung gelangte, in die er gewollt hatte. Dem kleinen Schulz blieb die Sache ein Rätsel. Schließlich quietschte es oft genug von der Kreuzung her, manchmal auch gefolgt von einem dumpfen Knall. Da habe es mal wieder gekracht, meinten dann Vater oder Mutter Schulz. Der kleine Schulz hatte eine undeutliche Vorstellung davon, was „gekracht“ bedeuten könnte, richtig ausmalen konnte er es sich nicht.

Und deshalb beobachtete er jedes Mal, wenn er an der großen Kreuzung vorbei kam, aufmerksam den Verkehr, damit er es bloß nicht verpasse, wenn es mal wieder krachen sollte.

Oma und Enkel bogen scharf nach links ab und konnten das Haus, in dem die Schulzens wohnten, nun bereits sehen. Die Nebenstraße hinab, vorbei an der Polsterei, die Seitenstraße überquert, die Vortreppe hinauf, Oma Schulz klingelte ihr bekanntes Klingelzeichen, der Türsummer schnarrte, hinein, hinauf durchs Treppenhaus, durch die Wohnungstüre, Mutter Schulz in der Küche.

„Gerade rechtzeitig zum Mittagessen“, meinte sie. Ob die Großmutter mitessen möge, wollte sie wissen. Oma Schulz lehnte dankend ab. Sie habe selbst noch einen Rest von gestern übrig, der dringend gegessen werden müsse. Außerdem wolle sie am Nachmittag einige Briefe schreiben und noch zur Post bringen. Also dann, vielen Dank, guten Weg, bis bald. Und schon war sie zur Tür hinaus.

„Und – war’s schön in der Stadt?“ wollte Mutter Schulz wissen.

„Och – ja…“ antwortete der kleine Schulz.

„Und wo seid ihr gewesen?“ wollte die Mutter weiter wissen.

„Auf dem Markt…bei den Enten…“ meinte der kleine Schulz.

„Und – gab’s was Neues?“

„Nö…“ sagte der kleine Schulz.

Südstadtkind

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