Читать книгу Südstadtkind - Thomas Stange - Страница 6
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ОглавлениеVerzweifelt bemühte sich der kleine Schulz, seine wild im Kreise wirbelnden Beine unter Kontrolle zu halten. Schnell musste es gehen, schneller, so schnell es eben ging. Angesichts der verwegenen Hatz überfordert, schwankte das kleine blaue Fahrrad hin und her, mit den harten, starren, vollgummibereiften Stützrädern wechselseitig den Asphalt der Straße touchierend, beruhigende Stabilität vortäuschend, dabei immer die Gefahr bergend, Drahtesel nebst Reiter unvermittelt aushebelnd auf die Fahrbahn zu werfen.
Dennoch: Was geschah, musste sein, hatte Nikodemus doch bereits einen erheblichen Vorsprung gewonnen und drohte nun, hinter der nächsten Straßenbiegung außer Sicht zu geraten.
Eile tat also not. Der kleine Schulz strampelte, was die Pedale hergaben. Nikodemus’ Fahrrad war zwar eine Nummer kleiner, jedoch stützräderfrei und somit wesentlich schneller. Stolz hatte Nikodemus, meistens der Kürze halber „Nikki“ genannt, dem kleinen Schulz vorgeführt, wie es ging mit dem Fahrradfahren, nur mit zwei Rädern. Natürlich hatte es der kleine Schulz auch probiert. Mit Nikkis Fahrrad, denn der hatte keine Ruhe gegeben, bis sich der kleine Schulz seufzend auf das kleine stützradfreie Fahrrad setzte und zaghaft in die Pedale trat. Es folgten ein paar segelnde Schwünge, dann lag er. Das linke Knie aufgeschürft, die Wunde mit winzigen Splittkieseln durchsetzt. Am linken Ellenbogen die Haut abgewetzt (was höllisch brannte). Der kleine Schulz spürte Tränen in sich aufsteigen. Denn Schuld an allem war natürlich nur der Nikodemus, der hatte ihn überredet, ohne den wäre der kleine Schulz nie auf so eine blöde Idee gekommen. Schließlich konnte er noch nicht „ohne Stützräder“. Das hatte er nur gemacht, weil der Nikki es ihm gesagt hatte.
Doch ehe die Tränen in den Augenwinkeln des kleinen Schulz zum Vorschein kommen konnten, hatte der sich umgeblickt – und festgestellt, dass sie alleine waren. Keine Zeugen weit und breit, und schon gar keine Erwachsenen. Also lohnte sich auch das Heulen nicht. Der kleine Schulz schluckte zweimal, kroch unter dem über ihm liegenden Fahrrädchen hervor, ließ es wütend auf den Gehweg zurückfallen, blickte Nikodemus wütend-entrüstet-ent-täuscht an, konstatierte „Du bist mein Freund gewesen!“ und humpelte heim.
Bereits am Nachmittag des nächsten Tages waren sie wieder zusammen. Sie hatten sich auf der Straße getroffen, direkt vor dem Mietshaus, in dem der kleine Schulz mit seinen Eltern wohnte. Nikodemus seinerseits wohnte „schräg gegenüber“, so dass diesem Treffen weniger der Zufall als eine gewisse Zwangsläufigkeit innewohnte.
„Wollen wir zur Kastanie rüber? Vielleicht sind ein paar schon reif!“
Natürlich war es Nikodemus, der den Vorschlag machte, der großen Kastanie hinter der Kleingärtner-Kolonie auf dem „die Hofbleiche“ genannten Areal ein Stück die Straße hinunter einen Besuch abzustatten. Der kleine Schulz wäre auf so eine Idee selbst niemals gekommen.
Falsch! Der kleine Schulz wäre schon auf diese Idee gekommen und hat sie auch tatsächlich gehabt, aber er hätte sie kaum in die Tat umgesetzt. Dazu hatte er viel zuviel Respekt.
Zum Beispiel vor seiner Mutter. Denn Frau Schulz war des Haushalts bestimmender Faktor, während Vater Schulz „die Brötchen verdienen musste“, wie er es auszudrücken beliebte und sich dadurch eher selten zuhause sehen ließ. Dass er allerdings den Status einer letzten, terminalen Instanz einnahm, war nicht nur dem kleinen Schulz bewusst.
„Ich darf nicht so weit“ antwortete der kleine Schulz also wahrheitsgemäß.
„Du bist doof!“ antwortete Nikki. „Alle dürfen so weit!“
Der kleine Schulz sah sich um. Außer ihnen zweien war da niemand.
„Du lügst!“ meinte der kleine Schulz. Es war mehr eine Feststellung als eine Anschuldigung. Dass Nikodemus sich die Tatsachen manchmal etwas zurecht bog, war kein Geheimnis.
„Und du bist doof“ gab Nikki zur Antwort, bestieg sein Fahrrad und radelte in Richtung Kastanie davon.
Wäre, ja, wäre der kleine Schulz in diesem Moment ein wenig standhafter gewesen, hätte er ein paar Sekunden länger gewartet, er hätte dem Leben damit Gelegenheit gegeben, ihm eine interessante Erkenntnis zu vermitteln. Denn er wäre Zeuge geworden, wie Freund Nikki, über die Schulter schauend, seine Fahrt verlangsamt, schließlich angehalten hätte, um dann umzukehren und zum kleinen Schulz zurückzufahren.
Doch Geduld ist nun mal nicht die Sache eines Viereinhalbjährigen. Weswegen der kleine Schulz anstatt zu einer Erkenntnis vielmehr zu einem Entschluss gelangte, infolgedessen er sein Fahrrad bestieg, um vierrädrig und mit wachsender Eile Nikodemus hinterher zu radeln.
Endlich kam das Ende der langen Mauer in Sicht, die die Kleingärtner-Kolonie vom Fahrdamm abgrenzte. Dahinter bog nach links ein Weg ab, der, besagte Kastanie passierend, den sogenannten Rosenhang hinauf immer steiler ansteigend der Innenstadt entgegen strebte.
Tatsächlich hatten Vater und Mutter Schulz, lange Zeit bevor der kleine Schulz das Licht der Welt erblicken sollte, überlegt, ob das tief an der Karlsaue liegende, stets etwas feuchte Südstadtviertel nahe des Fuldaflusses das Richtige für die Aufzucht eines Kindes sei. Doch schließlich machte die Aue das Rennen und die Feuchte verlor. Und was so einen Racker nicht umbrachte, machte ihn am Ende nur härter.
Etwas von dieser Härte kam nun tatsächlich zum Vorschein, als der kleine Schulz, der während seiner rasanten Fahrt mehrmals von den Pedalen abgerutscht war und diese, sich mangels Freilauf weiterdrehend, schmerzhaft in die Fersen bekommen hatte, dessen linkes Knie, von den gestrigen Fahrradfahrversuchen immer noch verunstaltet, sich schmerzhaft bemerkbar machte, als dieser kleine Schulz auf seinen vier unglücklichen Rädern balancierend also in einem Höllentempo um die Ecke gebogen kam und direkt vor Nikodemus, fest in die Rücktrittbremse tretend, mit blockierendem Hinterrad zum Stehen kam.
Nikodemus bückte sich nach einem Ast, maß ihn mit Kennerblick, brach ihn über dem Knie in zwei Hälften, reichte die eine dem kleinen Schulz, holte mit der anderen aus und feuerte sie zielsicher in der Kastanie Gezweig. Es krachte, knackte, raschelte, zurück kam der Ast, gefolgt von einer stachelbewehrten Kastanienfrucht. Der kleine Schulz wartete, bis Nikki sie in Händen hielt, dann holte er seinerseits aus, zielte kurz und warf. Krachen, Knacken, Rascheln, zuerst der Ast, dann die Frucht, die beim Aufprall auf die Erde zerbarst und ihren Inhalt freigab. Der kleine Schulz lief los, griff sich seinen Stock, suchte die Kastanie, Krachen, Knacken, Rascheln, Nikodemus hatte bereits wieder geworfen, der Stock streifte das Ohr des kleinen Schulz, die Stachelfrucht seinen Mund. Der kleine Schulz spürte nichts außer Schrecken, leckte und schmeckte Blut, tupfte mit dem Finger über seine Lippen, sah rot und sich um. Keine Zeugen. Aber egal.
Der kleine Schulz fing an zu heulen. Mit aller Inbrunst, zu der Viereinhalbjährige fähig sind. Hatte er Schmerzen, der kleine Schulz?
Ja, aber nicht so schlimm.
War er Nikki böse, weil der nicht gewartet hatte, bis er seinen Stock und seine Kastanie gefunden hatte und wieder außer Schussweite war?
Ja, aber nicht so sehr.
Der kleine Schulz war verzweifelt, weil es immer ihn traf. Die anderen konnten Unsinn machen, soviel sie wollten; erwischt wurde immer nur er. Die anderen fuhren mit ihren Rädern mit Karacho um die Ecke beim Spielplatz. Nur er blieb mit seinen Beistellrädchen am Bordstein hängen und fiel auf die Nase. Gestern die Sache mit dem Fahrrad, heute der doofe Nikki mit der blöden Kastanie… immer war er der Dumme. So meinte er und heulte sich seine ganze Wut und Enttäuschung aus dem Leib.
Der kleine Schulz hätte wahrscheinlich noch erheblich kräftiger geheult, wenn er geahnt hätte, was ihm gleich noch bevorstehen sollte. Denn ob der ganzen Wut und der Traurigkeit und angesichts des Unglücks, nicht zu vergessen der Geräusche, mit der solcherart Gefühle zum Ausdruck gebracht werden, hatte der kleine Schulz überhört, dass Nikki etwas gesagt hatte. Er hatte es allerdings auch ziemlich leise gesagt. Eigentlich mehr geflüstert. Es waren nur zwei Worte:
„Dein Vater!“
An sich war es nichts Ungewöhnliches, dass Vater Schulz um diese Uhrzeit hier vorbei kam, denn er kam jeden Werktag um diese Zeit hier vorbei, wenn er zum Feierabend von der Fabrik mit dem Familien-Käfer heimwärts strebte und den Verkehr in der überfüllten Innenstadt meiden wollte. Da der Fahrdamm keine Möglichkeit zu schneller Fahrt bot, Vater Schulz mithin langsam unterwegs war und dadurch den Blick schweifen lassen konnte, entdeckte er seinen Sprössling folglich heulend und mit aufgeplatzter Unterlippe unter einer Kastanie sitzend, somit an einer Stelle, die aufzusuchen besagtem Sprössling strengstens untersagt worden war. Dass Freund Nikodemus ebenfalls mit von der Partie war, nahm er dabei nicht zur Kenntnis. Die Kinder anderer Leute gingen ihn nach seiner Auffassung nichts an.
Sein Sohn hingegen wurde ohne lange Umstände mit einem gebrauchten Taschentuch versehen, ver-bunden mit der Anweisung, Besagtes auf die Lippe zu pressen, das Fahrrad zu besteigen und sich umgehend nach Hause zu begeben, wo er bereits erwartet werden würde. Sprach’s, bestieg den Käfer und fuhr von dannen, gefolgt von seinem vorübergehend leiser, mit abnehmender Entfernung zum Elternhaus und der bevorstehenden Strafpredigt jedoch wieder zunehmend lauter vor sich hin schnüffelnden Sohn.
Das letzte Stück der Straße verlief schnurgeradeaus, und der kleine Schulz hatte schon längst das Eckhaus an der Heckerstraße im Blick, hinter dem jetzt auch die Einfahrt zu den Garagen auftauchte, fixiert von einem Viereinhalbjährigen, der genau weiß, das in dem Spalt, den er dort vorne zwischen den Häusern erkennen kann, gleich seine letzte Instanz ihn erwartend auftauchen wird, bereit, ihm, dem kleinen Schulz, einen passenden Empfang zu bereiten.
Innerlich machte sich der kleine Schulz gefasst auf das, was nun kommen würde. Würde er eine Ohrfeige bekommen? Nein. Zumindest nicht gleich. Der Vater verteilte keine Ohrfeigen. Ohrfeigen bekam er von Mutter Schulz. Vielleicht würde ihn der Vater anbrüllen. Das machte er manchmal. Aber ziemlich selten. Meist tat er das genaue Gegenteil. Er strafte mit Schweigen. Mit verärgertem, enttäuschten Schweigen. Und davor hatte der kleine Schulz am meisten Angst. Die Mutter würde schimpfen, sich richtig in Wut schimpfen und ihm vielleicht schließlich ein paar um die Ohren geben. Das war bedrückend und tat auch manchmal weh. Aber der kleine Schulz spürte, spürte mit seiner kindlichen Empathie, dass die Mutter das nur tat, weil sie sich anders nicht zu helfen wusste. In ein paar Stunden wäre die Sache für Mutter Schulz vorbei, und sie würde wieder mit sich reden lassen. Vater Schulz aber würde weiter schweigen.
Und so radelte der kleine Schulz weiter auf die Lücke zwischen den Häusern zu, von der er wusste, dass es die Garageneinfahrt war, radelte weiter und weiter und erwartungsgemäß seinem Vater geradewegs in die Arme, der seinen Sprössling wortlos an die rechte Hand nahm, mit der linken das Fahrrädchen griff, mit beiden über die Bleiche auf dem Hinterhof schritt, auf die grau gestrichene Kellertür zu, die er aufschloss, öffnete, hinter sich, Fahrrad und Sohn sorgfältig wieder zusperrte, das Rad vor der Lattentür des Vorratskellers deponierte, mit dem Sohn weiter wortlos an der Hand die Tür zum Treppenhaus aufschloss, hindurch ging, zuschloss, die kurze Treppe ins Erdgeschoss hinauf, vorbei an Wohnungstüren, die nächste halbe Treppe, dann Zwischenflur, halbe Treppe zum ersten Stock hinauf, wieder Wohnungstüren, halbe Treppe, Zwischenflur, noch einmal halbe Treppe zum zweiten Stock, noch einmal Wohnungstüren. Hinter einer von ihnen Mutter Schulz.
Der kleine Schulz hatte Zeit gehabt sich vorzubereiten. Erwartungsgemäß deshalb auch der Ablauf der nun folgenden Stehgreifinszenierung.
Informationsaustausch: Wo kommt ihr her? - Habe ihn aufgegriffen, dort und dort - Mit wem war er dort? - Natürlich mit dem Nikki - Verflixt, am liebsten würde ich ihn mir übers Knie legen – Schweigen.
Eine Stimme aus dem Wohnzimmer. Unerwartet! Die Stimme von Oma Schulz.
„Na warte, mein Freundchen, wir sprechen uns noch!“ Die Mutter raunt es dem kleinen Schulz zu.
Der kleine Schulz kann sein Glück kaum fassen.
Die Strafe ist vertagt. Bis auf weiteres. Für diesmal. Die Mutter wird nicht schlagen und der Vater wird nicht schweigen. Denn die Großmutter ist da!