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ОглавлениеErster Prolog: Die kleine Stadt
Von flachen Hügelketten umrahmt, teils felderbedeckt, teils waldbestanden, liegt die kleine Stadt im Mittelhessischen am Rande eines Beckens, das sich das „Amöneburger“ nennt. Die gleichnamige Festungsanlage erhebt sich beschützend, drohend und, je nach Wetterlage und Einfall des Sonnenlichts, grau, grün oder braun am Horizont über die Landschaft.
Nun lässt sich natürlich trefflich darüber streiten, ob die kleine Stadt im nördlichen Mittelhessen oder im südlichen Nordhessen ansässig ist. Letztlich ist diese Frage jedoch rein akademisch und für die kleine Stadt sowieso ohne Belang. Es ist ihr schlicht und einfach egal. Und damit können auch wir uns zufrieden geben.
Doch Halt! Nicht so schnell! Vergessen wir da nicht etwas? War diese Grenzlage nicht auch schon einmal von großer Bedeutung?
Wir müssen gedanklich einige Jahrhunderte zurückreisen. Bis ins 14.Jahrhundert, genauer gesagt, als die kleine Stadt, die damals noch nicht viel mehr als ein Flecken war, ins Visier und unter die Herrschaft der Mainzer Bischöfe geriet. Dies wiederum rief die hessischen Landgrafen auf den Plan, die gerade wieder einmal dabei waren, ihre Herrschaftsgrenzen auszudehnen. Somit war also Ärger vorprogrammiert. Unter diesen Grenzstreitigkeiten hat die kleine Stadt (die damals noch nicht viel mehr als ein Flecken war, wir sagten es ja bereits) ganz schön zu leiden gehabt. Mehr noch litten allerdings die umliegenden, noch kleineren Dörfchen. Gleich, ob es sich um Mainzer oder hessische Truppen handelte - sie plünderten, mordeten und brandschatzten. Und löschten damit viele Kleinsiedlungen aus. Oder trieben deren Bewohner dazu, Haus und Hof zu verlassen und sich in größeren Ortschaften zusammen zu schließen, die vermeintlich mehr Sicherheit boten.
Somit ist die kleine Stadt also infolge ihrer Grenzlage von Wüstungen umstanden, von denen man zwar nichts mehr sieht, aber noch ungefähr weiß, wo sie sich befanden. Steht die kleine Stadt damit allein auf weiter Flur? Mitnichten. Da sind noch eine Reihe weiterer schmucker Dörfchen, genauer gesagt fünf an der Zahl, die die kleine Stadt umsäumen, die sie sich jedoch in einem Anfall von Gefräßigkeit vor einigen Jahren einverleibt hat. Sie tragen heute ihre alt- hergebrachten Namen nur noch als Vornamen und als Nach- und Familiennamen den Namen der kleinen Stadt. Nicht alle waren damit einverstanden, doch es gab kein Pardon - ab jetzt gehören wir alle zusammen, hieß es. Und so geschah es auch.
Natürlich war dies Balsam für die Seele der kleinen Stadt im Allgemeinen und für ihre Bevölkerungsentwicklung im Besonderen. Heute leben etwas über zwanzigtausend Menschen in ihr, fleißige, hart arbeitende Menschen, denn wer geglaubt hat, hier ein landwirtschaftlich geprägtes Idyll zu finden, der wird schnell eines Besseren belehrt. Eine Bundesstraße durchläuft die Stadt, eine Fernbahnlinie durchschneidet sie. Und bald soll auch noch eine Autobahn gebaut werden.
Sie hat sich zu einem begehrten Industrie-Standort entwickelt, die kleine Stadt, eine Eigenschaft, derer sie sich überhaupt nicht schämt - ganz im Gegenteil. Sie ist stolz auf die drei mächtigen Betriebe und die Vielzahl der mittleren und kleinen Unternehmungen, die die kleine Stadt so attraktiv fanden, dass sie sich hier niederließen, um anschließend zu wachsen, zu blühen und zu gedeihen. Und wenn abends die Sonne hinter den Hügeln untergegangen ist, wenn sich die Nacht über die kleine, rund um die Uhr geschäftige Stadt legt, dann sieht man ein orangefarbenes Schimmern am Himmel über der großen Eisengießerei und manchmal weht der Wind süße Düfte in die Nase der Bürger, wenn in der Schokoladenfabrik 'mal wieder die Waffeln angebrannt sind.
Doch das sehen und riechen nur wenige der Einwohner, denn die meisten von ihnen sind um diese Uhrzeit längst zu Bett gegangen. Wer des Nachts nicht gerade die Hochöfen am Heizen, die Schokolade am Fließen und die Pressen am Pressen halten muss, der ruht sich jetzt aus für den nächsten Arbeitstag, den nächsten Morgen, an dem er wieder pünktlich in einem Büro, einer Fabrikhalle, einem Handelsgeschäft oder einer Werkstatt erscheinen muss. Arbeiter und Angestellte - sie haben der kleinen Stadt ihre Stempel aufgedrückt und damit bestimmt nicht die schlechtesten. Denn sie leben, lachen, lieben, weinen, laufen, kaufen und verzeihen in der kleinen Stadt - und prägen sie damit dauerhaft. Geben ihr Wesen und Charakter. Und sorgen ganz nebenbei dafür, dass der Stadtkämmerer immer leidlich genug Geld im Säckel hat. Damit sich die Stadt auch in der Zukunft weiter entwickeln kann. Denn sie muss zusehen, dass sie immer hübsch zurecht gemacht ist, wenn sich wieder einmal hohe Herren ankündigen, um zu schauen, ob die kleine Stadt nicht genau das Richtige wäre für ihre Fabrik oder ihren Handelsbetrieb. Da heißt es schon, sich richtig ins Zeug zu legen und sich von seiner besten Seite zu zeigen. Denn die kleine Stadt will nach oben, kein Zweifel. Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Und wer sich erst ändert, wenn sich alle anderen bereits geändert haben, der hat seine Zukunft bereits hinter sich. Sagt man.
Also auf, packen wir's an, lautet die Devise. Die Konkurrenz ist groß und schläft nicht. Auch wenn wir alle Vorteile auf unserer Seite haben. Hatten wir doch schon immer. Ha, das ist halt der Unterschied zwischen uns und anderen kleinen Städten. Hatten wir doch das Glück, dass.... Haben wir es doch nur dem Umstand zu verdanken, dass.... Hätten wir nicht das Pech gehabt, das Unglück, hätten wir es nicht dem Unheil zuzuschreiben, dass..... die Gedanken geraten in eine Sackgasse und verlieren sich. Ja, natürlich, da war etwas. Da ist etwas, was die kleine Stadt von allen anderen kleinen Städten unterscheidet. Etwas, das seit langer Zeit wie ein Gerücht an ihr hängt, das abzuschütteln ihr jedoch unmöglich ist. Tatsächlich hat sie zunächst ihre Vorteile daraus gezogen. Dann hat sie versucht, es zu dementieren. Danach, es totzuschweigen. Und schließlich hat sie sich offensiv dazu bekannt. Eben so, wie es mit den meisten Gerüchten geschieht. Und doch im Falle unserer kleinen Stadt mit einem gewichtigen Unterschied: es war kein Gerücht!
Fünf Jahre, nachdem er die Herrschaft über Deutschland per Ermächtigungsgesetze an sich gerissen hatte, entschied sich ein österreichischer Staatsbürger, die Schmach, die 1918 die Unterzeichnung der Waffenstillstandsvereinbarung im Wald von Compièngne seiner Ansicht nach über "seine" Nation gebracht hatte, zu rächen, gleichzeitig für das deutsche Volk neuen Lebensraum im Osten zu erobern und deshalb die Welt mit Krieg zu überziehen. Dafür benötigte er neben Soldaten vor allem zwei Dinge: Waffen und Munition. Während er für erstere in den Chefetagen von Thyssen, Krupp und Henschel mit offenen Armen empfangen wurde und auch die Beschaffung der Grundstoffe für letztere bei Unternehmen wie BASF und Bayer (später IG Farben) kein Problem darstellte, mangelte es an Produktionsstätten, um aus den chemischen Grundsubstanzen zündfähige Gemische zu produzieren und diese dann zu waffenfähiger Munition zu verfüllen.
Der in Gigantomanie durchaus nicht unerfahrene Österreicher entschied sich erstens für einen Neubau, der gleichzeitig die größte Munitionsfabrik Europas werden sollte und zweitens für einen Standort im Mittelhessischen, in direkter Nachbarschaft zu einer eintausend-fünfhundert-Seelen-Gemeinde gelegen und von weitläufigen, dichten Wäldern umgeben. Und so bekam die kleine Stadt, die damals noch eine 1.500-Seelen-Gemeinde war, nicht nur die größte Sprengstoff-Fabrik aller Zeiten.
Auch das Grauen hielt Einzug in der kleinen Stadt.