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ОглавлениеZweiter Prolog: Unser Weg in die kleine Stadt
Was bringt Großstadtmenschen in eine kleine Stadt? Die Suche nach Ruhe, der Wunsch nach ländlicher Idylle, die Liebe oder der Beruf. Ruhe hatten wir in den neun Semestern unseres gerade beendeten Studiums genug gehabt. Mit ländlicher Idylle hatten wir damals noch nicht viel am Hut. Eine "Liebe" war auch schon da. Also war es der Beruf.
Schon damals war die landläufige Meinung falsch, dass diejenigen, die studiert haben, auch problemlos eine Anstellung finden. Nach einem guten halben Jahr der Jobsuche hatten sich unsere beruflichen Vorstellungen von "hochbezahlten Assistenten der Unternehmensleitung mit kurzfristigen Aufstiegschancen" auf "egal was und wo, Hauptsache es bringt ein bisschen Geld" reduziert. Als dann die Nachricht eintraf, wir könnten Stabsstellen-Plätze im Vertrieb eines mittelhessischen Unternehmens besetzen, stellten wir keine Fragen mehr, sondern nahmen an und fuhren hin.
Die kleine Stadt (denn um keine andere handelte es sich natürlich) empfing uns mit allem anderen als mit offenen Armen. Im Gegenteil, sie zog sich in sich selbst zurück, machte ein abweisendes Gesicht und gab sich so gar keine Mühe, uns den Entschluss, unserer Heimatstadt den Rücken zu kehren und statt dessen sie fürderhin als unser neues Zuhause zu akzeptieren, leichter zu machen.
Da standen wir nun, mitten in der Stadtmitte, schauten uns um und waren enttäuscht. Irgendwie hatten wir Fachwerk erwartet. Kleine Städte im Mittelhessischen hatten ganz einfach Fachwerk zu haben. Das gehörte sich so. Die kleine Stadt schien anderer Ansicht. Und blieb stumm. Kein Fachwerk. Ließ die Neulinge stehen, wo sie waren. Und machen, was sie wollten. Denn Fachwerk war so ziemlich das Einzige, was sie nicht zu bieten hatte.
Schade, dass die kleine Stadt nicht schon damals zu uns gesprochen hat. Vielleicht hätten wir uns dann schon viel früher gut verstanden. Aber in solchen Sachen ist sie eigen. Sie will, dass man bereit ist, sie zu entdecken. Denn dann beginnt sie auch, von sich selbst zu erzählen. Und wer Ohren hat zum Hören, der höre ihr gut zu.
Als wir am Abend dieses ersten Arbeitstages in der uns zur Verfügung gestellten Werkswohnung saßen und den Tag Revue passieren ließen, stürmte auf uns ein wirres Kaleidoskop verschiedener Eindrücke, Gefühle und Gedanken ein. Streiflichtartig zogen Gesichter neuer Kollegen an uns vorbei, denen wir vorgestellt worden waren, deren Namen wir jedoch schon längst wieder vergessen hatten. Räume, Stimmen, Gerüche, Begriffe - fotografische Eindrücke eines übervollen Tages. Bürofluchten auf dem Weg zu dem kleinen Raum, in den man uns "für den Anfang" einquartiert hatte, der Weg in das Gebäude hinein, aus dem Gebäude hinaus, die Straße entlang zu dem Haus mit der Werkswohnung, Eisenbahnschienen, die aus der Wiese rechter Hand herauswuchsen, die Straße überquerten, auf der gegenüber liegenden Seite im Gelände verschwanden, an der nächsten Straßenecke erneut erschienen, um schließlich auf einen Stollen zuzulaufen, der in einen laubwaldbestandenen Hügel führte und von zwei massiven Stahltoren erheblicher Größe bewacht wurde. Streiflichter, sicherlich, Gedankenfetzen, natürlich, mehr nicht. Und doch setzte sich in dem Moment etwas fest.
Wochenend-Zeit - Reisezeit. Zurück ging's in die Stadt, die wir damals immer noch als unsere Heimatstadt betrachteten. Um der Familie willen. Lange Gespräche mit dem Vater. Wie sich die neue Arbeit gestalte. Wie der Umgang mit den Kollegen sei. Wie die neue kleine Stadt gefalle. Ob wir eigentlich wüssten, wo wir da gelandet wären? Im zweiten Weltkrieg Standort einer riesigen Munitionsfabrik. Hätte ihm ein Bekannter erzählt, der damals beim Reichsarbeitsdienst war und die Fabrik mit aufgebaut habe.
Aha, keine Ahnung, nie davon gehört, bisher auch noch nichts aufgefallen, 'mal ein bisschen umhören, vielleicht erfährt man Näheres.
Damit war der Samen ausgestreut.
Wir liegen hier im DAG-Gebiet. Ein Kollege war es, der dies in einem Nebensatz erwähnte. Natürlich wurde sofort nachgefragt. DAG? Dynamit-Aktien-Gesellschaft. Aha. Und auf der anderen Seite der Bahnlinie, da wäre die WASAG. Westfälisch-Anhaltische-Sprengstoff-Aktiengesellschaft. Nochmals “aha”. Hier rundherum, das wären doch alles alte Bunker. Zum dritten Mal “aha”. Ob uns das denn noch niemals aufgefallen wäre?
Unbekanntes weckt die Neugier. Besonders, wenn sich das Unbekannte auf eine nicht selbst erlebte, ritual-mystifizierte, grauenvolle Herrschaftsperiode des Schreckens bezieht, die uns nach dem Krieg Geborenen wohl für immer ungreifbar und unbegreifbar bleiben wird. Ist es eine bizarre Neugier, die sich uns auf die Suche nach Artefakten, nach Spuren dieser Vergangenheit begeben lässt, oder ist es vielmehr der Wunsch, verstehen zu wollen, die Hoffnung, im eigentlichen Wortsinn begreifen zu können, was das eigentlich bedeutete, dieses "Dritte Reich"? Dieser Begriff, der sich trotz vielfacher filmischer Dokumentationen, trotz einer Unzahl von Büchern, Kommentaren und gelehrter Meinungen einem umfassenden Verstehen dauerhaft entzieht?
Diese Frage lässt sich nicht abschließend beantworten. Jedenfalls nicht für uns. Denn damals begaben wir uns auf die Suche. Der Mensch ist eben so. Und die Saat begann aufzugehen.