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Leben hinter dicken Mauern

Es war ein Nachmittag in einem Mai, der bis dahin noch nicht das gehalten hatte, was man sich so gemeinhin von einem Mai verspricht. Die Sonne schien zwar, aber es war noch ziemlich kalt. Verliebte Vogelpaare bauten fleißig an ihrer Zukunft und wir, wir standen auf einer Straße in der WASAG. Wir hatten in der Gegend eine Wohnung gefunden.

Warum wir auf der Straße standen? Ach so, natürlich, das wurde ja noch gar nicht erwähnt. Wir besuchten gerade ein Straßenfest, und da steht man eben auf der Straße. Der Name legt‘s nahe.

Also nochmal: es war an einem Nachmittag in einem Mai auf einer Straße bei einem Straßenfest, als wir sie kennen lernten. Wie wir ins Gespräch kamen, weiß ich heute eigentlich gar nicht mehr so genau. Oder doch, er kam wie ich ursprünglich aus der Stadt, die ich damals immer noch als meine Heimatstadt betrachtete. In der Zwischenzeit wohnten sie allerdings bereits viele Jahre in der kleinen Stadt und fast ebenso lang in ihrem eigenen Haus im Gebiet der ehemaligen "Westfälisch-Anhaltischen-Sprengstoff-Aktiengesellschaft" (was ein Wortungetüm). Um es kurz zu machen: Am Ende luden sie uns zu sich nach Hause ein.

Das Haus lag weit zurückgesetzt in einem ziemlich großen Garten. Ein betonierter Fahrweg führte in weitem Bogen von der Straße bis vor einen schuppenartigen Vorbau, der sich über die gesamte Breite des Gebäudes hinzog, überragt von einem zweiten Stockwerk und einem flachen Dachfirst. Es ähnelte damit einer ganzen Reihe weiterer Häuser in unserem Viertel, die sich zwar alle in Details unterschieden, vom Grundaufbau her jedoch gleich zu sein schienen. Ich fragte nach.

Siedlungshäuser? Nein, alte Marinebunker, klärte er mich auf. Stimmt, davon gäbe es eine ganze Reihe hier auf dem Eck. Warum "Marine"? Weil in der WASAG Marinemunition produziert worden wäre, Minen, Torpedos und so. Und die fertigen Sprengkörper wären eben bis zu ihrer Auslieferung in diesen Bunkern gelagert worden.

In einem ehemaligen Bunker zu wohnen, in einem Relikt dunkler Zeit - die Vorstellung fiel mir schwer, waren doch in meiner Heimatstadt schon seit vielen Jahren alle Spuren des zweiten Weltkriegs und, vor allen Dingen, die Zerstörungen der Bombenangriffe restlos beseitigt worden. Und was bedeutete eigentlich "Bunker"? Mit diesem Begriff brachte ich bisher lediglich irgendwelche Räumlichkeiten tief unter der Erde in Verbindung. Wie war das also, in einem Bunker zu leben? Und wie kam man dazu? Unsere neuen Freunde begannen zu erzählen.

Bereits im Jahre 1946 war der Großvater in die kleine Stadt gekommen, wie so viele damals als Flüchtling aus dem Sudetenland. Er hatte sich mehr recht als schlecht über Wasser gehalten in diesen Jahren, die nicht mehr Krieg, aber auch noch nicht Aufbau waren. Damals bot die kleine Stadt Leuten, die bereit waren, "die Ärmel hochzukrempeln" und "'was auf die Beine zu stellen" eine Menge Möglichkeiten zur Entfaltung von Initiativen. Andererseits brauchte die kleine Stadt auch Arbeitskräfte, denn es galt, die Reste des Größenwahns tausendjähriger Machtansprüche beiseite zu räumen. Gewohnt, eigentlich mehr gehaust hatte der Großvater zu dieser Zeit in wechselnden Notunterkünften, denn noch stand den in die Region einströmenden Flüchtlingsströmen keinerlei Wohnraumangebot gegenüber.

Das änderte sich erst Mitte des Jahres 1949, als die unter alliierter Direktive stehende deutsche Verwaltung einige Mittel zum Ausbau ein paar noch halbwegs erhaltener Bunker zu menschenwürdigen Behausungen genehmigte.

Wie es der Zufall wollte, wurden auch die zwanzig Marinebunker der WASAG in die Kategorie "renovierungswürdig" eingeordnet. Schnell musste man allerdings sein, wollte man die Zuteilung eines derartigen Wohnraums erhalten. Der Großvater war schnell - und durfte einziehen.

Zu diesem Zeitpunkt befand sich das Ungetüm aus Stahlbeton allerdings praktisch noch in seinem Originalzustand. Die Wände dreiseitig bis zum Dach erdangeschüttet, die vierte Seite laderampenbewehrt, das Dach selbst waldbewachsen, ansonsten einstöckig, ein-räumig, fensterlos, wallanlagenumringt - mithin unbewohnbar. Richtung und Ziel der dadurch anstehenden Arbeiten waren somit klar definiert.

Massive Erdarbeiten machten den Anfang. Das Dach wurde von seiner Vegetation befreit. Drei bis dahin unsichtbare Außenmauern wollten freigelegt werden. Ein Teil des Ringwalls galt es abzutragen. Die Beendigung dieser Maßnahmen brachte etwas zu Tage, was bereits entfernt an ein Haus erinnerte.

Dann waren die Statiker am Zuge. Sie hatten Wände und Dach genauer in Augenschein zu nehmen und danach zu beurteilen - nicht, ob diese möglicherweise ein weiteres Stockwerk tragen könnten oder wo die Wände eingezogen werden sollten. Nein, ihre Aufgabe war es, zu beurteilen, ob Wände und Dach den Detonationen standhalten würden, den Detonationen, die zwangsläufig dann entstehen, wenn man mittels TNT Fenster in die Stahlbeton-Wände eines Gebäudes sprengt.

Während diese Arbeiten noch von Fachleuten ausgeführt werden mussten, überließ man den weiteren Innenausbau weitgehend den neuen Bewohnern selbst, im Vertrauen darauf, dass diese mit hohem Arbeitstempo bei gleichzeitig sparsamstem Mitteleinsatz zu Werke gehen würden. Denn wer zuerst fertig war, konnte auch zuerst einziehen.

Der in Verkörperung der deutschen Tugenden zäh, hart und flink arbeitende Großvater war schließlich nach gar nicht so langer Zeit nicht nur einer der ersten Bunkerbewohner, sondern auch einer der ersten offiziellen Einwohner der kleinen Stadt. Und als die Stadtverwaltung ihm nach einigen Jahren anbot, Eigentümer seiner Behausung zu werden, da griff er zu. Wurde vom Bunkerbewohner zum Bunkerbesitzer. Und vermachte wiederum einige Jahre später das gesamte Anwesen seinem Enkel, auf dessen Wohnzimmer-Couch wir gerade saßen und in der letzten halben Stunde staunend dieser Bunker-Geschichte gelauscht hatten.

Niedrige Decken, feuchte Wände, katastrophale Elektroinstallationen, im Sommer kühl, im Winter kalt - mit diesen lapidaren Worten beschrieben unsere Freunde das Leben im Bunker. Wenn man in so etwas wohne, müsse man schon besondere Fähigkeiten als Do-it-yourself-Handwerker haben, meinten sie. Und wenn man etwas ausbauen wolle, habe man meistens ziemlich schlechte Karten. So beispielsweise damals, als sie für den Jüngsten ein eigenes Zimmer einrichten wollten. Ein geeigneter Raum war schnell abgeteilt, die Zwischenwand problemlos einzuziehen gewesen. Es habe lediglich ein Fenster gefehlt. An dem habe man dann aber mit drei Leuten gleichzeitig täglich acht Stunden sechs Tage lang geschuftet. Da man die Arbeit ja nicht durch Zuhilfenahme von Sprengstoff beschleunigen konnte, hatte sich die fünfundsiebzig Zentimeter dicke Stahlbeton-Wand als nahezu unüberwindliches Hindernis erwiesen. Einer bediente den Presslufthammer, einer flexte gleichzeitig die Armierung durch und der Dritte schaffte den Abraum beiseite. Wenigstens habe man sich über eine ausreichend tiefe Fensterbank keine Sorgen machen müssen, meinten unsere Freunde.

Ein Rundgang durch das Gebäude brachte einige weitere "bunkerspezifische" Eigenheiten zum Vorschein. Durch das Einziehen einer Zwischendecke war eine Einteilung in zwei Stockwerke möglich geworden. Allerdings hatte das Gebäudemaß für eine normale Raumhöhe im Obergeschoß nicht mehr ausgereicht. Auch behinderte ein umlaufender Betonträger (ein tragendes Teil, wurden wir aufgeklärt) den freien Zutritt zum zweiten Stock. Das Vorhandensein dieses Trägers wurde dem unvoreingenommenen Besucher allerdings sehr schnell schmerzlich bewusst, führte doch der Zugang zur Toilette die steile Stiege hinauf und dann unheilverkündend auf den Träger zu.

Die Konstruktion dieses Bunkers wie auch die vieler anderer, die ebenso der Lagerung von Munition oder Explosivstoffen dienten, war so beschaffen, dass die Wände und Teile des Daches im Falle einer Detonation im Inneren nach außen klappten und so den Explosionsdruck nach oben anstatt seitlich ablenkten. Zumindest erklärten sich unsere Freunde so die Beschaffenheit ihres Hauses und sprachen von einer "Sollbruchstelle" in der Dachkonstruktion.

Eine besondere Beachtung verdiente auch die Küche, die direkt auf die ehemalige Laderampe an der Stirnseite des Bunkers gebaut worden war, sich mithin also im Prinzip außerhalb des Gebäudes befand. Auf unsere Frage, ob diese Anordnung bei allen anderen Marinebunkern gleich sei, erfuhren wir, dass sich auf den Laderampen der anderen Bunker vieles fände: Außenterrassen, Kinderzimmer, Flure, Abstellkammern, tja, und halt eben auch Küchen.

Unterkellert? Nein, unterkellert wären die Bunker allesamt nicht. Sie stünden vielmehr auf einer Art flachen Betonwanne. Was in der Wanne wäre? Erde, Schutt, irgendwas, keine Ahnung. Aber bei ihnen wäre sie wenigstens trocken, die Wanne. Im Gegensatz zu dem Nachbarn, dem es zur Schneeschmelze regelmäßig das Grundwasser von unten hoch drücke.

Das wären dann ja alles Probleme, die andere, "gewöhnliche" Hausbesitzer mitunter auch hätten, resümierten wir. Aber was man denn fühle, wenn man in einem Munitionsbunker aus dem zweiten Weltkrieg leben würde, wollten wir wissen, was man dabei empfände.

Man müsse viel mehr heizen, bekamen wir zur Antwort.

Die Geschwister Barbara

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