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Beton für tausend Jahre

Nach einigen Monaten unseres Lebens in der kleinen Stadt hatte sich deren Gesicht für uns bereits tiefgreifend verändert. "Image" nennt man es heute ja wohl. Aus der etwas langweiligen, ziemlich nüchternen, manchmal schroffen und uns noch relativ fremden kleinen Stadt war etwas anderes geworden. Schwerlich lässt sich dieses Gefühl beschreiben, das uns zu der damaligen Zeit umtrieb, war uns doch die Vergangenheit dieses Gemeinwesens immer noch weitgehend unbekannt, eine Vergangenheit, die zu ergründen wir allerdings beschlossen hatten. Einerseits waren wir neugierig. Neugierig, welche Abgründe sich bei unserer Suche nach dem, was an dieser Stelle vor einigen Jahrzehnten geschehen war, auftun könnten. Gleichzeitig verspürten wir auch Angst. Angst vor dem, was wir in diesen Abgründen möglicherweise finden würden.

Die Nachsuche begann und beschränkte sich anfangs auf das, was problemlos zugänglich war: die noch sichtbaren Spuren im Stadtgebiet. Gleichzeitig fanden wir in unseren neuen Freunden profunde Kenner der Situation, in der sich die kleine Stadt befand, als sie gerade begonnen hatte, sich den braunen Staub vom Kleid zu schütteln. Viele dieser alten Spuren waren zwar zwischenzeitlich verwischt, aber wo sie ehemals zu finden waren, hatte sich in die Erinnerung eingeprägt.

Bereits die Ansicht des noch Vorhandenen versetzte uns in Ratlosigkeit. Die schmucke Siedlung mit den hübschen Häuschen und den gepflegten Vorgärten, umgeben von bestellten Feldern und Weiden, die in diesem Ensemble den Eindruck tiefsten Friedens erweckte - ein ehemaliges Lager für Zwangsarbeiter! Das Gebäude, in dem sich jetzt ein nettes kleines Restaurant befand - gehörte früher zu einer Bombenfüllstelle! Das Lager der kleinen Maschinenfabrik zu einer TNT-Anlage. Und so ging es weiter: Autowerkstatt - Säurelager, Strumpffabrik - TNT-Kühlhaus....

Nach diesen ersten Erkundungsgängen fiel es uns schwer zu realisieren, dass wir, wohin wir in der kleinen Stadt auch schauten, überall Bauwerke erblickten, deren ursprünglicher Grundsinn darin bestand, Instrumente zu produzieren, die ausschließlich der massiven Zerstörung und der Vernichtung von Menschenleben dienten. Gebäude, die, jedes für sich und in ihrer Gesamtheit, als größtes Produktionspotential Europas wesentlich dazu beitrugen, den Anspruch eines Diktators auf die Macht über die gesamte Welt zu manifestieren.

Und wir stellten uns schließlich auch die Frage, wie die Bürger das Vermächtnis, dass ihnen ihre Stadt hinterlassen hatte, im täglichen Leben handhabten, welche Wege sie gefunden hatten, die tägliche Konfrontation zu akzeptieren. Wie gingen sie mit diesem Wissen um? Wussten sie eigentlich um die Dinge? Wollten sie überhaupt wissen?

Ungefähr um diese Zeit passierte es uns, dass wir durch die kleine Stadt wandeln konnten, wann und wo immer wir wollten - und immer nur Beton erblickten. Beton für tausend Jahre. Eine gedankliche Fixierung hatte sich unserer bemächtigt. Das, was einmal gewesen war, verstellte uns den Blick auf die Gegenwart. Allerdings machte es uns die kleine Stadt auch nicht leicht, ragten doch an jeder Ecke Zeugen einer gewesenen Zeit steinern und stahlbewehrt dem Betrachter entgegen. Gleichzeitig wuchs in uns die Erkenntnis, dass das Betrachten dieser Zeitzeugen, das Philosophieren über den Umgang mit der Vergangenheit nicht alles sein konnte, dass wir es damit nicht bewenden lassen durften. In den Zustand seligen Unwissens zurückfallen konnten wir nicht mehr - dazu hatten wir uns mit der Thematik bereits zu intensiv auseinander gesetzt. Um die Geschichte der kleinen Stadt zur Zeit der Munitionsfabriken und ihre Metamorphose zu ihrer heutigen Gestalt quasi von einer höheren, abgeklärten Warte aus betrachten zu können, dazu fehlte uns noch das Detailwissen. Genau betrachtet, blieb uns eigentlich kein anderer Ausweg.

Ist der Drang, den Dingen auf den Grund gehen zu wollen, nun eine menschliche Eigenart oder nur ein persönlicher Charakterzug? Wir wissen es nicht. Jedenfalls versuchten wir zunächst, einiges Wissenswerte von Zeitzeugen zu erfahren, von Leuten, die damals dabei waren.

Allein, hierbei stießen wir schnell auf Schwierigkeiten. Viele wussten zweifellos etwas, aber nichts Genaues. Viele hatten etwas gehört, was der Nachbar ihnen irgendwann einmal erzählt habe oder der Großvater oder der Bruder, aber genau daran erinnern - nein, also wirklich nicht. Und dann waren da diejenigen, die Genaueres wussten - und die schwiegen. Lasst die Sache doch ruhen, das waren keine schönen Zeiten, wer interessiert sich denn heute noch dafür, wurde uns ein ums andere Mal gesagt. Da wurde uns zum ersten Mal bewusst, was die Kombination der beiden Begriffe "tot" und "schweigen" im eigentlichen Wortsinn bedeutet.

Auf dieser Basis kamen wir also wohl nicht so recht weiter. Aber da gab es ja auch noch andere Quellen, die möglicherweise genutzt werden konnten. Literarische Quellen, denn eigentlich sollte doch über die größten Sprengstoffwerke Europas irgendwann einmal irgendetwas geschrieben worden sein.

Also begaben wir uns wieder auf die Suche - und fanden die Geschwister Barbara....

Die Geschwister Barbara

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