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Vorwort

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Seit 30 Jahren bin ich als Nervenarzt im Krankenhaus tätig. Ich habe mich stets bemüht, das Wohl von Patienten als oberste Richtschnur meines ärztlichen Handelns zu sehen. Ich weiß, dass die allermeisten Ärzte dies ebenso sehen. Ich halte dies für eine selbstverständliche Pflicht des Arztes, aber auch für eine sehr hohe Verantwortung. Denn Patienten sind darauf angewiesen, ihrem Arzt vertrauen zu können. Ihnen fehlt das medizinische Wissen und die medizinische Erfahrung, um über die richtige Behandlung zum richtigen Zeitpunkt entscheiden zu können und die Chancen und Gefahren einer Behandlung abschätzen zu können. Aufklärung der Patienten hierüber vor einer Behandlung, die unbedingt notwendig ist, kann diese Fragen nur streifen, aber nicht in ihrer Dimension und Vielschichtigkeit so umfassend darlegen, dass sie die Patienten in die Lage versetzt, eine wirklich eigenverantwortliche, umfassend informierte und selbstsichere Entscheidung zu treffen. Zudem befinden sich Patienten, insbesondere dann, wenn sie ernsthaft krank sind, in einer Art Ausnahmezustand. Ihr Befinden und Denken wird beherrscht von gesundheitlichen Beschwerden als Ausdruck der Krankheit und auch von der Sorge um die weitere Entwicklung der Krankheit und die Frage der Genesung. Ernsthafte Erkrankungen gehen insofern mit Angst einher. Angst ist ein schlechter Ratgeber und behindert die Fähigkeit zur Entscheidung. Deshalb tragen Ärzte eine sehr große Verantwortung für ihre Empfehlungen und Entscheidungen im Umgang mit der Krankheit, besser im Umgang mit dem Patienten.

Sie können aber auch nur nach bestem Wissen und Gewissen empfehlen und entscheiden. Ihre Empfehlungen und Entscheidungen hängen ab vom Umfang ihrer ärztlichen Fähigkeiten, die wiederum abhängig sind vom aktuellen Stand medizinischen Wissens, von den Empfehlungen anderer Ärzte und medizinischer Wissenschaftler, vom Ergebnis wissenschaftlicher Studien, von den eigenen ärztlichen Erfahrungen und der Art, wie diese gesammelt wurden. Es sind dabei manchmal auch Faktoren im Spiel, die sich noch an anderen Interessen als ausschließlich dem Patientenwohl orientieren; wie wirtschaftliche Interessen, Prestige oder Zukunftserwartungen für medizinische Entwicklungen.

Nun habe ich in meinem Berufsleben beobachten können, wie sich Medizin und Behandlungsmaßnahmen von Krankheiten wandeln. Eine Behandlung einer Krankheit, die vor zwanzig Jahren noch als notwendige Behandlungsmaßnahme galt, spielt heute keine Rolle mehr. Andere Behandlungsmaßnahmen gelten als notwendig. Zudem gibt es oft sehr unterschiedliche Behandlungsmöglichkeiten zu ein und derselben Krankheit. Eine Krankheit zum Beispiel, die man operieren kann, aber ebenso gut mit Medikamenten oder Physiotherapie behandeln kann. Darüber hinaus macht man als Arzt immer wieder die Erfahrung, dass auch ohne eine Behandlung Heilung eintreten kann. Es kann sich dabei um Krankheiten handeln, für die nach aktuellem Wissensstand eine bestimmte Behandlung als notwendig und unabdingbar gilt, die aber doch nicht zum Einsatz kommt, zum Beispiel weil der Patient sie ablehnt. Wir wissen zudem, dass es Medikamente gibt, die als sogenannte Scheinmedikamente gelten (Placebos), aber trotzdem wirksam sind, weil mit der Gabe eines solchen Medikaments allein die Erwartung verabreicht wird, dass sie helfen.

Woran liegt das? Die Medizin ist keine exakte Wissenschaft. Die Einflussfaktoren sind zu vielfältig. Sie funktioniert nicht allein nach Naturgesetzen. Deshalb tritt nicht regelmäßig das ein, was man vorher sagt oder erwartet, sondern allenfalls mit einer gewissen statistischen Wahrscheinlichkeit. Der einzelne betroffene Kranke ist aber kein mathematisch statistischer Faktor, sondern ein Mensch mit dem individuellen und nicht statistischen Wunsch nach Hilfe und Genesung.

Wir Ärzte sind in der heutigen Biomedizin fokussiert auf die Körperlichkeit des Patienten und damit auf Untersuchungs- und Behandlungsansätze, die sich auf den Körper richten. Selbst als seelisch geltende Krankheiten wie Depressionen oder Angsterkrankungen werden ja mit Medikamenten behandelt, die Stoffwechselvorgänge im Gehirn beeinflussen sollen und damit körperliche Vorgänge beeinflussen. Als Biomediziner glauben wir deshalb, dass die allermeisten Krankheitsvorgänge eine körperliche Ursache haben und mit Einflussnahme auf den Körper behandelt werden können und müssen - sei es durch Operation, durch Medikamente oder durch Zerstörung krankhaften Gewebes mit Röntgenstrahlen oder Zellgiften. Die vergangenen Jahrzehnte haben uns Ärzte in dieser Anschauung bestärkt, denn die auf die körperliche Beeinflussung gerichteten Behandlungsmethoden haben sich derart verfeinert, dass heute Krankheiten als behandelbar gelten, die vor hundert oder selbst vor zwanzig Jahren als noch nicht wirksam behandelbar galten. Ein Beispiel hierfür ist die Tuberkulose oder auch die Multiple Sklerose.

Ich bin in meiner Laufbahn als Arzt, trotz unbestreitbarer Erfolge biomedizinischer Verfahren, immer mehr zu der Überzeugung gelangt, dass Krankheiten eben kein ausschließlich biologischer, d.h. körperlich materialistischer Vorgang sind. Die Vielzahl gesundheitlicher Störungen und unterschiedlicher Verläufe bei ein und derselben Krankheit, das unterschiedliche Ansprechen auf bestimmte Behandlungsmethoden, die Abhängigkeit von Schwere und Verlauf der Krankheiten von psychischen Faktoren oder den Bedingungen im sozialen Umfeld, auch das Bild, das Ärzte und Patienten von einer Krankheit haben und nicht zuletzt wirtschaftliche Interessen und Interpretation wissenschaftlicher Erkenntnisse haben nach meiner Überzeugung einen viel größeren Einfluss auf Krankheitsentstehung, Behandlungsmöglichkeit und Krankheitsverlauf, als dies heute in der Biomedizin angenommen wird. Dabei sind die körperlich sicht- oder messbaren Äußerungsformen von Krankheit, zum Beispiel durch körperliche Untersuchungsverfahren, Laboruntersuchungen oder Röntgenuntersuchungen feststellbar, nichts anderes als die letztlich im Krankheitsverlauf sich entwickelnden körperlichen Folgeerscheinungen.

Ich möchte in dem vorliegenden Buch darüber sprechen, dass Krankheiten auch einen seelischen Ursprung haben, man kann auch sagen einen geistigen oder psychischen Ursprung. Ich möchte aber auch besprechen, dass Krankheiten in der Art ihrer Wahrnehmung, ihrer Beschwerden, die sie verursachen, ihren Behandlungs- und Beeinflussungsmöglichkeiten und in ihrem Verlauf wesentlich von seelischen Einflüssen abhängen. Selbst einem Beinbruch geht ja eine Bedingung voraus, die zum Beinbruch führt, d.h. der Mensch, der sich das Bein bricht, setzt sich einer Situation aus oder wird einer solchen Situation ausgesetzt, die zum Beinbruch führt. Diese Situationen sind Bedingungen, die nicht biologisch oder körperlich erklärbar sind, sondern mit einer seelischen oder geistig psychischen Dimension besser vereinbar sind.

Was in diesem Buch genauer unter seelischer Dimension zu verstehen ist, soll noch dargestellt werden. Auch die Vielfalt der seelischen Bedingungen für Krankheit, wie ich sie verstehe, wird Inhalt dieses Buches sein.

Auch wenn derzeit die biomedizinische Sichtweise auf Krankheit als fortschrittlich und wirksam gilt und zudem zunehmende Verbreitung in der Welt findet, befürchte ich, dass diese Sichtweise zunehmend an ihre Grenzen stößt und nur noch bescheidene Fortschritte erwarten lässt. Außerdem sehe ich viele Hinweise darauf, dass die heutige biomedizinische Sichtweise auch erhebliche Probleme verursacht und nicht nur Behandlungserfolge, sondern auch Behandlungsmisserfolge zu verzeichnen hat. Auch dies soll in diesem Buch näher erörtert werden.

Schließlich muss das vornehme Ziel jedes kritischen Blicks auf bestehende Verhältnisse und Sichtweisen sein, nach Besserem zu suchen. In der Hilfe und Behandlung kranker Menschen bedeutet dies nicht ein Ersetzen einer Methode durch eine andere, sondern über einen anderen Blick auf die Zusammenhänge und Hintergründe die Sichtweise und Wahrnehmung zu verändern. Denn dies ist Voraussetzung dafür, dass neue oder andere Behandlungsmethoden überhaupt erst eine Wirksamkeit entfalten können.

Denn gerade Krankheiten sind so sehr abhängig von einem Wechselspiel zwischen unseren eigenen Wahrnehmungen, der Wahrnehmung anderer, der geschichtlichen Entwicklung, unserem Bild von Krankheit, unserer Stellung in der Gesellschaft und der Art des Umgangs der Gesellschaft mit Krankheit, unseren ganz persönlichen Lebensbedingungen und der Art der Kommunikation und des Austauschs mit unserer Umwelt, aber auch von unserem Körperbild und unserer Körperlichkeit. Es besteht also eine Abhängigkeit von unserem Weltbild und das unserer Umgebung. Insofern ist nicht nur unser Bild von einer Krankheit, sondern auch die Krankheit selbst mit allen ihren Konsequenzen wandelbar durch Veränderung seelischer bzw. auch geistig psychischer Bedingungen.

Das vorliegende Buch wird sich mit diesen Fragen auseinandersetzen. Es verfolgt nicht das Ziel, Verunsicherung zu stiften. Denn nicht nur wer ärztlich handelt, sondern auch wer eine kritische Diskussion darüber führt, trägt eine hohe Verantwortung für das Wohlergehen von Patienten. Ganz bewusst sollen hier keine Behauptungen und Lehrsätze formuliert werden, sondern das hier Dargelegte als Hypothesen, d.h. Möglichkeiten einer Sichtweise formuliert werden. Es soll in erster Linie dem Nachdenken darüber dienen, was sich in der Hilfe und Behandlung kranker Menschen verbessern lässt.

Der Wert von Hypothesen und Möglichkeiten bemisst sich letztlich an ihren praktischen Konsequenzen und der Frage, ob diese erkennbar zu einer Verbesserung beitragen.

Die Aussicht auf wirksamere Behandlungsmethoden wird sich nur in einem längeren Prozess gesellschaftlicher Diskussion und Wechselwirkung entwickeln. Das vorliegende Buch soll hierzu einen bescheidenen Anstoß geben.

Die seelische Dimension von Krankheiten

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