Читать книгу Die seelische Dimension von Krankheiten - Thomas Vetter - Страница 6

Einleitung

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Wir nehmen heute Krankheiten ganz vorrangig als körperliches Phänomen wahr. Ein Beinbruch wird von uns als zerbrochener Knochen, zum Beispiel im Unterschenkel, wahrgenommen. Wir wissen, wie ein Röntgenbild hierzu ausschaut und wissen, dass die Behandlung das Ziel verfolgen muss, dass beide Knochenenden wieder zusammenwachsen. Selbst eine psychische Krankheit, wie Depression oder Schizophrenie, gilt uns als eine Art Stoffwechselerkrankung des Gehirns, die dadurch behandelt wird, dass über entsprechende Medikamente zu gering vorhandene Enzyme oder Übertragungsstoffe im Gehirn ersetzt werden oder deren Aktivität angeregt wird. Unsere allgemeine Vorstellung von Ursache, Bild und Behandlung von Krankheiten ist eine vorrangig körperliche. Wir forschen mit Laboruntersuchungen, Röntgen und körperlicher Untersuchung nach der vermeintlichen Krankheitsursache. Wir identifizieren Regionen im Körper mit Funktionsstörungen als Ursache und Ausdruck der Krankheit und wir versuchen mit entsprechenden, auf die Veränderung der Körperfunktion gerichteten Behandlungsmaßnahmen diese Krankheit zu beeinflussen.

Die seelische Dimension von Krankheiten ist uns eher nicht bewusst, egal, ob wir als Kranker betroffen sind oder als Arzt tätig sind. Als Kranker fühlen wir uns nicht wohl, wir haben Angst vor den Ergebnissen der Untersuchungen und den hieraus resultierenden Konsequenzen. Gegebenenfalls haben wir auch Hemmungen, unsere Angehörigen in Kenntnis zu setzen. Wir halten dies aber für resultierende Probleme und Begleiterscheinungen der Krankheit, die es zusätzlich zu bewältigen gilt, die aber nichts unmittelbar mit der Krankheit zu tun haben.

Was führt zu dem Bild, das wir von einer Krankheit haben, wie z.B. Beinbruch, Krebs oder Depression? Inwieweit haben unsere wissenschaftlichen Methoden in der Diagnostik und Behandlung von Krankheiten eine objektiv gesicherte Grundlage? Welche nicht krankheitsspezifischen Interessen spielen hierbei möglicherweise eine Rolle, wie z.B. das wirtschaftliche Interesse der Pharmaindustrie oder das Reputationsinteresse der Hochschulmedizin? Unser Bild von der Krankheit wird ja wesentlich von der herrschenden medizinischen Meinung, aber auch von dem Blickwinkel unserer unmittelbaren Umgebung geprägt. Hier spielen subjektive Ansichten, einseitige Interpretation von wissenschaftlichen Erkenntnissen, aber auch wirtschaftliche Interessen eine Rolle. Wie anders wäre es zu erklären, dass große Teile der Bevölkerung regelmäßig Vitaminpräparate zu sich nehmen oder Cremes zur vermeintlichen Verhinderung von Gesichtsfalten benutzen, obwohl alle wissenschaftlichen Studien die Unwirksamkeit dieser Anwendungen bestätigen? Es besteht auch das Bedürfnis, etwas für seine Gesundheit zu tun, was sich ggf. auch über trockene wissenschaftliche Erkenntnisse hinwegsetzt.

Man kann beliebige Krankheiten näher betrachten und findet überall Phänomene, die der seelischen Dimension von Krankheiten zuzuordnen sind.

Ich möchte in dem vorliegenden Buch versuchen deutlich zu machen, wie groß und vielschichtig die seelische Dimension von Krankheiten ist. Ich möchte mit dem Buch aber auch zum Nachdenken darüber anregen, dass seelische Phänomene nicht nur eine Rolle im Medizinsystem und krankheitsbegleitend spielen, sondern ganz wesentlich auch Bedeutung für Ursache, Entwicklung, Wirksamkeit von Behandlungen und für Verlauf einer Krankheit haben. Hierbei haben sie möglicherweise die entscheidende Bedeutung. Wenn das so ist, dann hätte dies auch Folgen für das bestehende Gesundheitssystem und den Umgang mit Krankheiten. Die seelischen Phänomene bei Krankheiten müssten sehr viel mehr in den Fokus von Ursachenforschung und Behandlung bei Krankheiten genommen werden. Sie dürften von Therapeuten wie von Betroffenen nicht mehr ausgeblendet werden. Im Gegenteil, der Umgang mit Krankheiten müsste grundsätzlich zuerst hier ansetzen und, daraus abgeleitet, die aktuell herrschenden Behandlungsprinzipien auswählen. Ein solches Vorgehen würde sowohl unser körperbezogenes Bild von Krankheit wie auch das aktuell etablierte Gesundheitssystem umfassend verändern.

Es gibt bereits umfangreiche Veröffentlichungen, die sich kritisch mit unserer derzeitigen Art Medizin zu betreiben, auseinandersetzen, insbesondere in den letzten Jahren. Auch namhafte Ärzte der letzten hundert Jahre haben aus geisteswissenschaftlichem Blickwinkel immer wieder auch die seelischen Dimensionen von Krankheiten angesprochen.

Aber die letzten hundert Jahre zeigen auch einen Trend hin zu immer differenzierterer Diagnostik und Behandlung, die auf den Körper und dessen innere Vorgänge gerichtet sind. Selbst die Psychiatrie als eher geisteswissenschaftlich ausgerichtetes medizinisches Fach hat sich in den letzten 50 Jahren immer mehr hin zu einem biomedizinisch orientierten Fach entwickelt, welches seinen Schwerpunkt auf stoffwechselbedingte Vorgänge und Veränderungen im Gehirn und deren Behandlung mit Psychopharmaka richtet.

Eine Änderung der Prinzipien im Umgang mit Krankheit ist von erheblichen Widerständen begleitet. Herrschende Lehrmeinungen zu verteidigen ist nicht nur eine Verteidigung von Privilegien, sondern auch eine Verteidigung von Überzeugungen. Die Infragestellung dieser Überzeugungen führt nicht automatisch zu einer Veränderung der Überzeugungen. Unsere pluralistische Gesellschaft gerät nicht durch unterschiedliche, nebeneinander existierende Überzeugungen aus den Fugen. Sie ist aber auf die Mehrheitsfähigkeit von Überzeugungen angewiesen. Dies gilt sowohl im politischen System als auch im Umgang mit Krankheit. Insofern ist eine Änderung des medizinischen Systems nur in kleinen Schritten möglich und mehrheitsfähig nur dann, wenn sich Alternativen anbieten, die überzeugend besser sind als das, was aktuell besteht. Also: Eine Hinwendung auf die seelischen Dimensionen von Krankheit im Umgang mit Kranken muss in der Konsequenz eine überzeugendere Wirksamkeit entfalten.

Das vorliegende Buch wird keine Abschaffung bisheriger Behandlungsprinzipien zugunsten neuer oder anderer Behandlungsprinzipien propagieren. Es will lediglich dafür sensibilisieren, dass die Berücksichtigung seelischer Phänomene bei Krankheitsentstehung und -behandlung Aussicht auf einen besseren Umgang mit Krankheit und für größere Erfolge in der Behandlung bietet.

Die seelische Dimension von Krankheiten

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