Читать книгу Sammelband 3 Thriller: Neue Morde und alte Leichen - Thomas West - Страница 10
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Die Türen öffneten sich zischend. Menschen drängten aus dem Waggon auf den Bahnsteig. Ricky drückte sich gegen die Leute, die hinter ihm darauf, warteten endlich einsteigen zu können. Er war müde, sehr müde.
Der harte Deckel einer Aktentasche streifte sein Kinn. Ein korpulenter Grauhaariger schob sich so nahe an Ricky vorbei, dass er ihm auf die Füße trat. Dann endlich war der Eingang in den Waggon frei.
Wie ein Mann setzte sich die wartende Menge in Bewegung. Einige Jugendliche stießen Ricky zur Seite. Sie drängten sich an ihm vorbei. Und von hinten schob die Menge ihn in den Wagen.
Ricky überließ sich der Bewegung der Masse. Er wurde in den Mittelteil des Waggons geschoben. Sich selbst mit Ellbogen und Körpereinsatz zu einem freien Platz durchzuarbeiten, kam ihm nicht in den Sinn. Nie kam ihm Derartiges in den Sinn.
Ricky hatte in seinem siebzehnjährigen Leben gelernt, seine Strategien seinen Möglichkeiten anzupassen. Und seine Möglichkeiten hielt er für begrenzt. Jedenfalls seine körperlichen Möglichkeiten: Er war klein und schmächtig.
Zweiundneunzig Pfund brachte er auf die Waage, bei bescheidenen einhundertsechsundsechzig Zentimetern. Das war, weiß Gott, nicht viel für einen Siebzehnjährigen.
Er hielt sich an einer Haltestange im Mittelteil des Waggons fest. Die morgendliche Menschenflut verteilte sich auf die freien Plätze und den Raum zwischen den Sitzreihen. Kein Sitzplatz blieb unbesetzt. Ricky hatte es nicht anders erwartet.
„Hi, Thompson!‟, rief ein Stimme von der Seite. „Hast du auch brav deine Milch getrunken heute morgen?‟ Gelächter quittierte den blöden Spruch.
Ricky brauchte nicht hinzusehen. Die Stimme würde er unter Tausenden erkennen. Heute Nacht in einem schlechten Traum hatte er sie zuletzt gehört.
Der Zug fuhr an. Im dunklen Fensterglas erkannte er Lester Pirelli, umgeben von seinen Vasallen. Fünf Jungens aus Rickys Highschoolklasse. Unter allen Feinden, die New York City gegen ihn aufbot, die Sturmspitze. Sie beschlagnahmten drei Sitze.
„Hey, Thompson, Mann!‟ rief Lester Pirelli. „Wie ist das bei euch da oben in Wyoming – grüßt man da alte Bekannte nicht, wenn man sie morgens im Bus trifft?‟
Ricky schluckte. Der Teufel soll dich holen!
Er drehte sich halb zur Seite, so dass er die Jungen hinter sich sehen konnte. Alle trugen sie graue oder schwarze Windjacken mit Längsstreifen an den Ärmelnähten. Wollmützen oder Skaterhüte bedeckten ihre kurzgeschorenen Schädel.
Einer stammte unverkennbar von chinesischen Vorfahren ab. In der Pirelli-Gang nannten sie ihn „Mao‟. Er hieß Kirk Chung. Ein anderer hatte dunkle Hautfarbe. Alle nannten ihn Joseph.
Pirelli feixte Ricky aus höhnischen Augen an. Eine Menge Sommersprossen überzogen sein stupsnasiges Gesicht. Ein Streichholz klemmte zwischen seinen Zähnen. Die anderen vier lauerten auf Rickys Reaktion.
Ihr kennt mich nicht, dachte er und sagte leise: „Hi.‟
„Na, klappt doch schon ganz prima, Kurzer‟, rief Pirelli. „Wir kriegen dich noch hin, wirst sehen.‟ Die anderen lachten.
„War aber ein kurzer Gruß‟, tönte einer von Pirellis Vasallen. Ein Junge mit schwarzem Flaum um das Kinn. Er hieß Amoz Levington. „Ein bisschen höflicher – los, Zwerg!‟
Ricky wünschte sich den Tod in solchen Augenblicken. „Hi.‟ Er zwang sich zu einem Lächeln. „Wie geht’s so?‟ Die Burschen lachten und applaudierten.
Vor zwei Jahren war Rickys Familie aus Sheridan, Wyoming, nach New York City gezogen. In die East Village. Schon in Sheridan war Ricky ein Einzelgänger gewesen, aber man hatte ihn wenigstens in Ruhe gelassen. Mit dem Umzug nach New York City vor zwei Jahren hatte für Ricky ein Leidensweg begonnen.
Lester Pirelli unterhielt seinen Fan-Club mit obszönen Witzen. So laut, dass man es im halben Waggon hören konnte. Häufig flocht er Worte wie winzig, kurz oder Zwerg ein, sprach von winzigen Hirnen, kurzen Schwänzen und so weiter, und so weiter.
Die anderen vier fanden es witzig. Sie fanden alles witzig, was der Sommersprossige von sich gab. Sie lachten.
Ricky biss die Zähne zusammen. Ihr kennt mich nicht! Seine Faust verkrampfte sich um die Haltestange. Sein Spiegelbild in der dunklen Scheibe hatte schmale Lippen und Augen.
Zwei Stationen weit musste er fahren. Gleich nach der ersten stellte er sich vor der Tür auf. Wenn die U-Bahn an der First Avenue hielt, wollte er unter den ersten sein, die aussteigen konnten. Nicht auch noch den Weg von der Haltestelle bis zur Highschool Pirellis Spott ausgesetzt sein.
„Keine Angst, Kurzer, wir bleiben in deiner Nähe.‟ Lester Pirelli stand plötzlich neben ihm. Er war zwei Köpfe größer als Ricky. „Sonst verläufst du dich noch in dieser großen Stadt.‟ Sein Anhang umringte Ricky.
Mit hochgezogenen Schultern und einem heißen Knoten im Bauch ließ Ricky ihre Sprüche über sich ergehen.
Die Bahn hielt. Zischen, Türen, die sich öffneten, dann hinaus auf den Bahnsteig, hinein in die Menge der Wartenden. Die Pirelli-Gang wich nicht von Rickys Seite.
Ricky war auf jede Gemeinheit gefasst. Aber hinten hatte er keine Augen. Jemand hakte ihm plötzlich den rechten Fuß weg. Er stolperte und schlug lang hin. Die Pirelli-Gang brach in schallendes Gelächter aus.
„Hey, Kurzer!‟ Pirelli schlug sich auf die Schenkel vor Vergnügen. „Noch ein bisschen unsicher auf den Beinen heute Morgen! Oder suchst du dein Hirn?‟
Ricky blickte hoch. Der befriedigte Ausdruck in dem schwarzen Gesicht verriet ihm den Jungen, der ihm das Bein gestellt hatte. Er hieß Joseph.
Du weißt ja nicht, wen du vor dir hast ... du weißt es ja nicht ... Er rappelte sich hoch und kämpfte mit den Tränen.
Bald ließen sie die Treppe vom Bahnsteig zur Straße hinter sich. „Heiße Schuhe hast du da, Kurzer.‟ Pirelli schielte neidisch auf Rickys Nike-Sportschuhe. „Wenn sie nicht so klein wären, dürftest du sie mir schenken.‟
Noch zwei Blöcke bis zur 12th Straße, dachte Ricky, noch zwei Häuserblöcke.
„Macht dir nichts draus ...‟ So kräftig schlug Lester dem Kleineren auf die Schulter, dass Ricky ins Stolpern kam. „Is’ nich’ schlimm, wirklich nicht, Kurzer. Du zahlst mir einfach eine Ablöse.‟ Die anderen stießen sich an und feixten. „Sagen wir, fünfzehn Dollar. Zusätzlich zum Schutzgeld. Alles klar?‟
Ricky nickte hastig. Ihr wisst ja nicht, wen ihr vor euch habt ... ihr habt ja keine Ahnung ... Seine Blicke krochen an den Fugen der Bürgersteigplatten entlang.
„Wann kriegen wir überhaupt das Schutzgeld? Der Oktober ist auch schon wieder sieben Tage alt!‟
„Am nächsten Wochenende krieg ich Taschengeld‟, sagte Ricky. Von den fünfundzwanzig Dollar Taschengeld drückte er Monat für Monat elf Dollar an Pirelli und seine Gang ab – drei Dollar für Pirelli und je zwei Dollar an jeden der vier anderen.
Manchmal musste er auch eine Runde Hot Dogs ausgeben, und von Zeit zu Zeit verbrachte er Stunden vor dem Computer, um die Songs aus dem Internet herunter zu laden und auf CDs zu brennen, die Lester Pirelli in Auftrag gab. Oder Pirelli wollte irgendwelche Software, die Ricky dann auftreiben musste.
Noch ein Häuserblock, nur noch ein Häuserblock, und dann hundert Meter bis zur Schule.
Wenn er nicht spurte, verstärkten sie den Druck auf ihn – hingen ihm irgendwelche Verstöße gegen die Schulordnung an, schwärzten ihn bei den Lehrern an, schikanierten ihn vor versammelten Klasse oder verprügelten ihn.
„Okay, nächsten Montag also.‟ Wieder landete ein Schlag auf Rickys Schulter. Diesmal traf Lester Pirellis geballte Faust. Tränen stiegen Ricky in die Augen. „Werden dich hin und wieder dran erinnern.‟
Ihr habt ja keine Ahnung, mit wem ihr euch einlasst, keine Ahnung habt ihr!
Dann endlich die Kreuzung zur 12th Straße. Von weitem sah Ricky Schüler in Gruppen vor dem Schulhof stehen. Der Schulbus fuhr vorbei. Pirelli und seine Vasallen winkten einigen Mädchen im Bus.
„Man sieht sich, Thompson!‟ Ein vorläufig letzter Schlag. Lester Pirelli und die anderen vier spurteten zur Bushaltestelle, wo der Bus stoppte. Pirellis Freundin stieg dort aus.
Ricky wischte sich ein paar Tränen aus den Augen. Wut brannte in seinen Gedärmen, ungeheure Wut. „Schwein ... verfluchter Hund ... der Teufel soll dich holen!‟ Er fluchte in sich hinein, während er sich dem Schulgelände näherte. „Euch alle soll der Teufel holen!‟
Am Eingang des Schulgeländes, zwischen all den Gruppen von plappernden und lachenden Jungen und Mädchen, stand ein unglaublich fetter Bursche und mampfte Bagels aus einer Tüte.
Er trug eine Schildkappe aus Leder, die er sich tief in die Stirn gezogen hatte. Er plauderte mit niemandem, er lachte mit niemandem – er stand allein und schien sich für weiter nichts als für seine Bagels zu interessieren.
Jack O′Neill, seit vier Monaten Rickys einziger Lichtblick.
Ricky beschleunigte seinen Schritt. Er winkte, als er sicher sein konnte, dass Jack ihn wahrgenommen hatte. Jack deutete ein Nicken an und biss von seinem Bagel ab.
Ein Bagel mit Frischkäse. Jack O′Neill verdrückte jeden Morgen drei davon. Gleich nach dem Frühstück auf dem Weg zur Schule. Inzwischen kannte Ricky die Gewohnheiten seines einzigen Verbündeten.
„Alles klar?‟ Ricky blieb vor dem viel größeren und mehr als doppelt so schweren Burschen stehen. Der brummte irgendetwas Zustimmendes.
„Und selbst?‟ Jack war ein Jahr älter als Ricky. Er machte die Zehnte zum zweiten Mal. Auch jetzt behielt er gerade so den Anschluss.
Nicht weil er zu dumm war – o nein: Jack O′Neill war ein Genie. Jedenfalls in Rickys Augen. Nur verbrachte er ganze Tage vor dem PC und mit seinem Hobby. Doch das wusste niemand. Nur Ricky wusste es. „Und selbst?‟, wiederholte Jack.
„Alles Roger.‟ Rickys Stimme klang gepresst. Er wandte den Kopf zur Bushaltestelle. Dort stand Lester Pirelli in der Schar seiner Anhänger und schwang Reden. Eine Menge Mädchen waren dabei. „Nur Pirelli, dieses Stück Scheiße ...‟
Jack stopfte sich den Rest seines Bagels zwischen die Zähne. Wieder ein Nicken. Doch diesmal sah er Ricky an dabei. Seine braunen Augen hatten etwas Starres. Bei aller Gleichgültigkeit, die in ihnen lag, schienen sie dennoch zu lachen. Er sah Ricky an, als wollte er sagen: Auch Pirelli – nur Geduld – auch Pirelli bekommt sein Fett noch ab.
Seite an Seite liefen sie zum Schulportal. „Wann machen wir weiter?‟, wollte Jack wissen.
„Heute Nachmittag.‟
„Okay. Um fünf bin ich bei dir.‟