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Deutsche Ostkolonisation und kultureller Wandel

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Die Verzweigung des Piastengeschlechts und das Auseinanderdriften der Teilherzogtümer zwingen dazu, seit der Mitte des 12. Jahrhunderts nur noch von polnischen Teilgebieten zu sprechen, kaum mehr von einem polnischen Staat. Dennoch wird man größere Einheiten erkennen können, wenn man innerhalb der polnischen Teilgebiete eine gewisse Differenz zwischen Schlesien einerseits sowie Groß- und Kleinpolen andererseits berücksichtigt; Pommern und der Deutschordensstaat in Preußen sind ohnehin separat zu behandeln. Was die Situation in Groß- und Kleinpolen von derjenigen in Schlesien unterschied, war die Ausgangsbasis für das – überall gleiche – Anliegen einer Landesentwicklung: In Schlesien siedelte die Mehrheit der slawischen Bevölkerung auf den fruchtbaren Böden, wie sie etwa um Glogau, Trebnitz, Breslau, Oppeln und Leobschütz gegeben waren. Die Siedlungsgebiete (und Schlesien selbst) waren jeweils von Wald umgeben, der als natürliche Grenze diente und nach Innen hin noch zusätzlich durch ein undurchdringliches Heckenwerk (preseka) bewehrt war. Das Siedlungswerk der Einwanderer, die nicht immer, aber doch in überwiegendem Ausmaß aus den Ländern des Römisch-deutschen Reichs kamen, konzentrierte sich zu Beginn auf die Randzonen des schon besiedelten Bereichs. Hier wurde die Kolonisation gefördert, sei es in Form des Rodens der Grenzwälder, der Urbarmachung des Bodens, des Bergbaus oder in der Anlage neuer Dörfer und Städte. Förderer dieses Landesausbaus waren die schlesischen Herzöge, aber auch die Breslauer Bischöfe, dazu die Zisterzienserklöster und ein Teil des Adels. Der frühe Beginn und die Intensität der Ostkolonisation führten dazu, dass Schlesien so etwas wie ein Paradefall der »deutschen Ostsiedlung« wurde. Davon abgesetzt vollzog sich die Kolonisation in Groß- und Kleinpolen. Auch wenn die politische Absicht, die Wirtschaftskraft der eigenen Länder zu stärken, dasselbe Motiv für den Landesausbau war wie in Schlesien, boten diese polnischen Landschaften doch ein anderes Bild. Die Bevölkerung hier war zahlreicher, und so verlief der Prozess des Landesausbaus hier von Anfang an in engerer Kooperation zwischen Einheimischen und Zugewanderten. Die Übernahme deutschrechtlicher Formen und auswärtiger Methoden des Feldbaus erfolgte hier erst in der Folgezeit. Zwar gab es eine intensive Kolonisation auch in Groß- und Kleinpolen, gerade auch – wie in Schlesien – durch die Zisterzienserklöster, und es wurden auch zahlreiche neue Dörfer unter der Anleitung von Lokatoren gegründet. Lokatoren waren vom Grundherrn in Dienst genommene Unternehmer, die den Prozess der Urbarmachung und Verteilung von Siedelstellen einleiteten, für die Anwerbung von Siedlern zuständig waren und im späteren Dorf eine sozial herausgehobene Position einnahmen. Sieht man auf die Zahlen, war die Wanderung von Deutschen in die Gebiete Großpolens, Kleinpolens und Kujawiens aber erheblich schwächer ausgeprägt als in Schlesien.


Illustration der deutschen Ostsiedlung um 1300 aus dem Heidelberger Sachsenspiegel. Oben sieht man den Lokator (mit Hut), der eine Gründungsurkunde erhält und ein Dorf gründet. Unten wird er im fertiggestellten Dorf als Richter gezeigt.

Auf eine Formel gebracht, war (deutsche) Kolonisation im östlichen Europa ein Vorgang der Siedlungsintensivierung und des Landesausbaus, der auf Wanderungsbewegungen beruhte, und für den juristische Mechanismen entwickelt wurden, die im Zuge eines Rechtstransfers weitergegeben wurden (Stichwort »deutsches Recht« / lat. ius Teutonicum«). Wie für die östlich von Elbe und Saale liegenden deutsch-slawischen Mischregionen der sogenannten Germania Slavica, worunter Schlesien, Pommern, Preußen sowie Teile Brandenburgs und Sachsens zu verstehen sind, war auch für Groß- und Kleinpolen das deutsche Recht anfänglich sehr stark an deutsche Siedler gebunden. Da der Hauptzweck der Verleihung des deutschen Rechts aber darin bestand, über eine rechtliche Verbesserung der Lage der bewidmeten Bevölkerung sowohl neue Menschen in bevölkerungsarme Gegenden zu locken als auch die Produktivität der Gemeinschaften und damit ihr Steueraufkommen zu erhöhen, erkennt man leicht, warum das deutsche Recht von Anfang an dazu tendierte, sich vom deutschen Ethnikum zu lösen und letztlich eine Sache der Interaktion zwischen verschiedenen Staaten zu werden. Es war im Sinn der Initiatoren der Rechtsverleihung, also der Könige, der Bischöfe und Äbte sowie des Adels, ihre Herrschaftsbereiche zu »modernisieren«, d. h. die Abgabenerhebung durch Rationalisierung und Standardisierung attraktiver und damit letztlich effizienter zu gestalten – und das führte dazu, dass schon in den Anfängen auch slawische Siedler deutsches Recht verliehen bekamen. Entscheidend war die Initiative der einheimischen slawischen Eliten; wie groß deren Interesse war, zeigt das Beispiel Polen: Der letzte Piastenkönig, Kazimierz III. Wielki (»der Große«, reg. 1333–70), gründete im Durchschnitt fast in jedem Jahr seiner langen Regierungszeit eine Stadt. Zeitlich vorangegangen waren ihm in Schlesien Herzog Heinrich I. Brodaty (»der Bärtige«, reg. 1202–38) und die Breslauer Bischöfe – womit neben der königlichen Gewalt auch Adel und Kirche als Initiativkräfte angesprochen sind.

Für die Städte selbst und den Prozess der Urbanisierung war mit dem »deutschen Recht« zweierlei verbunden: Zum einen wurden neue Städte gegründet, wo noch keine oder keine mehr waren – also Stadtgründungen »aus wilder Wurzel« (a crudo radice); die Besiedlung von loca deserta ist eine immer wieder wörtlich zu nehmende Formulierung in zahlreichen Lokationsprivilegien. Zum anderen bekamen bestehende Siedlungen eine neue Rechtsform, wobei mehrere Wege möglich waren: Es konnte eine »Kolonie« von Fremden (»Gäste« / hospites, oft Kaufleute), innerhalb einer bestehenden Siedlung mit dem »deutschen Recht« ausgestattet werden, die dann zu einer Stadt ausgebaut wurde; oder es konnte eine Siedlung als Ganzes mithilfe des neuen Rechts umstrukturiert werden – wie im Falle Krakaus, wo die Lokation, d. h. die deutschrechtliche Umsetzung der Stadt von 1257 durch Herzog Bolesław von Krakau und Sandomir die bestehende Hauptstadt des Königreichs Polen mit einer neuen Rechtsform ausstattete. In allen Fällen wird deutlich, dass die Vergabe von »deutschem Recht«, ja: »deutsche Kolonisation« überhaupt, zwar einen Wandel der sozialen Ordnung bedeutete, indem sie relative Freiheit herstellte – in Form von klar(er) definierten Abgaben, Erbbesitz und eigener Rechtsprechung sowie kommunaler (städtischer wie ländlicher) Unabhängigkeit; dass es aber letztlich um ein Modell fürstlicher Herrschaft ging, ein Set von Prinzipien, das an lokale Bedürfnisse angepasst wurde. Das »deutsche Recht« als Herzstück der Ostsiedlung war ein Herrschaftsinstrument, das allen Herren gehorchte. Der polnische Herzog Heinrich I. von Breslau machte den Anfang, als er eine Kopie des Privilegs von Erzbischof Wichmann für dessen Stadt Magdeburg erbat und auf dieser Grundlage 1211 dann die Stadt Goldberg/Złotoryja in Schlesien gründete.

Was die sichtbaren Folgen der »deutschen Kolonisation« angeht, so fällt sofort ins Auge, dass es mehr Städte, mehr Dörfer, andere Stadtgrundrisse und neue Dorfformen im östlichen Europa gibt als zuvor. Landesausbau und Binnenkolonisation haben, unabhängig von der ethnischen Zusammensetzung, zu einer Siedlungsverdichtung geführt, aber auch zu einer Übernahme neuer Siedlungsformen. Beides ist bis heute erkennbar. So wird man unschwer ein »Städtenetz« ausmachen können, das aus fürstlicher Planung entsprungen ist, und das, wie im Idealfall Schlesien um 1300, eine gleichmäßige Verteilung der Orte mit Abständen von 15 bis 25 km aufweist. Das bedeutet nicht nur eine Vermehrung von Urbanität, sondern gleichzeitig auch eine Vergrößerung der marktwirtschaftlichen Potenz des flachen Landes: Denn dieses Netz an Städten und Märkten brachte für die Dörfer eine maximale Stadtferne von etwa 12 km mit sich – was hieß, dass die Bauern an einem Tag in die Stadt fahren konnten, um dort ihre Waren zu verkaufen und andere zu kaufen, und am selben Tag den Heimweg schafften. Das allein garantierte eine wesentlich intensivere Wirtschaftsbeziehung zwischen Stadt und Land, sowie eine Produktionsankurbelung für beide Seiten. Schaut man auf die Gestalt der Städte und Dörfer, fällt zunächst der Schachbrettgrundriss bei den deutschrechtlichen Stadtgründungen auf. Zwar liegt die Entstehung dieses wirtschaftlich günstigen und optisch eindringlichen Typs von Stadtgestaltung weiterhin im Dunklen, doch macht es dafür keine Mühe, Beispiele zu finden: Sowohl die schlesischen Hauptorte wie Breslau, Schweidnitz und Glogau, als auch die polnische Hauptstadt Krakau profitierten sichtlich von der Idee der sich überkreuzenden Marktstraßen und dem zentral gelegenen Marktplatz (dt. Ring, poln. rynek). Dabei scheint das regelmäßige Straßennetz in Lokationsstädten tatsächlich ein mitteleuropäisches Phänomen und damit Teil der »Ostkolonisation« gewesen zu sein.


Plan Breslaus von 1562, der die Anlage der Stadt und den zentralen Platz (rynek) erkennen lässt

Die mit der Ostsiedlung verknüpften Fortschritte in der Landwirtschaft, in der Forschung immer wieder als »agrartechnische Revolution« bezeichnet, und auch von den Zeitgenossen als melioratio terrae (»Verbesserung des Landes«) oder aedificatio terrae (»Aufbau des Landes«) im engeren Sinn wahrgenommen, beziehen sich sowohl auf die Intensivierung der bisherigen Anbau- und Verarbeitungsmethoden als auch auf die Einbeziehung neuen Landes in die wirtschaftliche Ausbeutung. Wirksam wurden neue Methoden, wie die Dreifelderwirtschaft, die Grundstückseinteilung mit dem Flächenmaß der Hufe (in verschiedenen Varianten) oder die Vergetreidung (also die einseitige Ausrichtung auf den Anbau von Getreide); aber auch neue Arbeitsinstrumente, wie Wendepflug, Pferdegespann oder langstielige Sense kommen auf. In der »kolonialen Phase« der Grundherrschaft wurde, etwa in Schlesien, von den Landes- und Grundherrn in großem Umfang Wald- und Ödland zur Urbarmachung angewiesen. Das führte dazu, dass auch Gebiete fern von den einheimischen polnischen Dörfern, besonders an den Abhängen der Sudeten, nun besiedelt wurden. Die neu zugewanderten deutschen (und bisweilen aus den romanischen Ländern kommenden) Siedler wurden dabei zwar in das bestehende grundherrschaftliche System eingegliedert – aber eben mit dem Unterschied, dass sie als persönlich freie Leute lebten, und zwar nach »deutschem Recht«.

Hinzu kommen Phänomene, die heute unsichtbar sind, den Zeitgenossen jedoch höchst sichtbar vor Augen standen, und die das Gefüge der Einwanderungsgesellschaft verändert haben. Man könnte beginnen mit den herrscherlichen Intentionen der slawischen Fürsten, Adeligen und Prälaten, die zur »deutschen Kolonisation« genauso dazugehören wie die Wanderung von Deutschen. Wir sehen Herzöge wie Heinrich von Breslau und Władysław von Oppeln im Schlesien des 13. Jahrhunderts, die sehr planmäßig die Stadtgründung in ihren Bereichen vorangetrieben haben; und wir sehen die drei Bischöfe Lorenz, Thomas I. und Thomas II. von Breslau im 13. Jahrhundert, die mit der herzoglichen Gewalt konkurrierten und gerade über den Landesausbau den Griff zur Landesherrschaft wagen konnten. Von keinem der Beteiligten besitzen wir ein intentionales Schriftstück, das uns über die Motive ihres Handelns aufklären würde; aber wir haben immerhin die Urkunden, darin besonders die Arengen (also allgemeine Begründungen von rechtsrelevanten Bestimmungen), in denen das Bestreben nach einer Vermehrung des allgemeinen Nutzens zum Vorschein kommt. Der Breslauer Bischof Thomas II. sprach das in seiner Urkunde für die (Bischofs-)Stadt Neisse/Nysa von 1290 auch explizit an; notabene im selben Jahr, in dem der Bischof die Landeshoheit für sein Bistumsland vom Herzog von Breslau erreichte. Und wir haben die Siedlungen selbst, deren Ausstattung und regionale Anordnung sehr wohl einen Plan erkennen lassen. An den Beispielen von Breslau, Krakau und Posen hat man neben urbanistischen Elementen wie Ring, regelmäßiges Straßennetz, Vorstädte, Stadtviertel und Parzellen auch soziale Organisationsformen wie Zünfte und kirchliche Stiftungen ermittelt. Insgesamt wird man von einer »offensiven Territorialkonzeption« (PETER JOHANEK) der Landesherren sprechen können, bei der zwar die Interessen von Herzog/König/Bischof einerseits und den Bürgern/Siedlern andererseits in dieselbe Richtung gingen, der Wille des Herrschers aber ausschlaggebend war.

Dass es bei der deutschrechtlichen Gründung (Lokation) einer Stadt sehr oft nicht um eine eigentliche Neugründung, sondern um die Erweiterung oder sogar nur rechtliche Andersstellung einer bestehenden Siedlung ging, lässt sich gut am Fallbeispiel der Lokation der schlesischen Stadt Brieg/Brzeg studieren. Der aus der Linie der schlesischen Piasten stammende Herzog Heinrich III. von Breslau übergibt im Jahr 1250 die schon bestehende Stadt Wysoki Brzeg (= »hohes Ufer«) an der Oder dem Schulzen Heinrich von Reichenbach zur Gründung nach deutschem Recht, genauer: nach dem Recht der (schlesischen) Stadt Neumarkt. Und er bestimmt weiterhin:

»Allen, die zu dieser Stadt kommen, um dort wohnen zu bleiben, haben wir die Verfügung über sechs Freijahre gewährt, so dass sie innerhalb dieser Frist weder zu irgendeiner Zahlung noch zur Heerfolge gezwungen werden, außer wenn ein Notstand für das ganze Land ausgerufen wird. Den Siedelunternehmern (locatoribus) steht jeder sechste Hof mit der jährlichen Steuer zu, auch jeder dritte Pfennig bei Gericht, uns dagegen nur zwei. Der Wasserlauf ist oberhalb und unterhalb eine Meile weit für alle dortigen Einwohner frei zum Fischfang. Wir haben auch gestattet, Holz für den Häuserbau zu schlagen, wo immer es sich findet. Wir gewähren, auf dieser Seite der Oder Hasen zu jagen. Auf beiden Seiten des Flusses weisen wir der Stadt sechs große Hufen als Viehweide zu. Innerhalb der Freijahre gestatten wir allen Einwohnern, ohne Zollabgabe in unserem Lande ihren Markthandel zu betreiben. Ein Pole oder ein freier Mann gleich welcher Sprache, der dort ein Haus besitzt, muss sich deutsches Recht gefallenlassen […]. In der Stadt hat der Stadtherr [= der Herzog] zehn Fleischbänke, die er zu seinem Nutzen verwenden kann, der Richter [iudex = Erbvogt] die übrigen, und ebenso andere Bürger, denen er sie überlassen hat. Wir gestatten ihnen auch, innerhalb des erwähnten Flussabschnitts Mühlen zu bauen, soviel sie können. […] Darüber hinaus gestatten wir ihnen, einen Jahrmarkt einzurichten, entsprechend dem Willensentscheid aller. […] Alle Dörfer im Umkreis einer Meile sollen von dieser Stadt ihr Recht holen, wobei sie den Rechtsspruch verkündet. Um schwerere Gefahren zu vermeiden […], haben wir versprochen, die Stadt innerhalb von zwei Jahren zu befestigen […].«

Damit ist die Lokation der Stadt Brieg erfolgt. Spezialisten für Siedlungsunternehmungen, Lokatoren, sorgten dafür, dass die Stadtanlage praktisch umgesetzt wurde; der Landes- bzw. Stadtherr stellte sich hinter die neu angelegte Siedlung und stattete sie mit Rechten aus, die einen wirtschaftlichen Erfolg in der Zukunft versprachen. Aus einer slawischen Stadt wurde so eine deutschrechtliche Gründungsstadt, deren Gründungsurkunde in seltener Ausführlichkeit praktisch alles enthält, was man sich als (Neu-)Bürger wünschen konnte. Vom westlichen Stadtrechtsmodell her bekannt war bereits, dass ein fest umrissener Raum und seine Bewohner privilegiert wurden. Selbstverständlicher Bestandteil jeder Stadtrechtsverleihung waren die persönliche Freiheit der Bürger, die Zollfreiheit und die Gewährung begrenzter Monopole. Der tatsächliche Inhalt der Privilegien wurde indessen zwischen dem Herrn und seinen Bürgern jeweils neu ausgehandelt. Sie betrafen die Verwaltung der Stadt, das Gerichtswesen und das Wirtschaftsleben. In allen diesen Bereichen schnitt Brieg gut ab; zu erwähnen sind hier nur die Faktoren, die auch für die anderen polnischen (und ostmitteleuropäischen) Lokationsstädte kennzeichnend sind:

Verliehen wird ein festes Recht, hier das Magdeburger Stadtrecht in seiner Neumarkter Variante. Damit trat die zu diesem Recht umgesetzte Stadt in eine Stadtrechtsfamilie ein. Das bedeutet, dass die letzte gerichtliche Instanz, der Oberhof, in Magdeburg lag und ein Rechtszug (im Sinne einer Anfrage vor der Urteilsfindung) dorthin erfolgen musste. In der Praxis haben die Landesherren aber immer wieder diesen Rechtszug abgeschnitten und Oberhöfe in ihren eigenen Territorien errichtet; so Neisse für das Bistumsland Breslau oder später Krakau für Polen. Das neue Recht galt für alle Bewohner, gleich welcher Herkunft (seien es Slawen oder Deutsche). Nicht eingeschlossen waren normalerweise andere Religionsgemeinschaften wie die Juden; sie bekamen gesonderte Privilegien, beispielsweise in Form von Judenschutzbriefen, wie sie im 12. und 13. Jahrhundert in Großpolen und Schlesien ausgestellt wurden. Zweitens bezog das neue Recht auch das ländliche Umfeld mit ein. So entstanden Stadt-Land-Bezirke (sogenannte Weichbilder), die sich – im besonderen Falle Schlesiens – wie ein Netz über das ganze Land legten. Der Warenaustausch und damit die Wirtschaftskraft profitierten davon enorm. Drittens sollten die Freijahre der Stadt wirtschaftlich auf die Beine helfen. Dem dienten auch die zahlreichen Erlaubnisse für Fischfang, Jagd, Mühlenbau, Holzschlag und Jahrmarkt (Letzterer ausgestattet mit einem eigenen Marktrecht, dem ius fori). Die Markt-Wirtschaft zeigte sich auch im Stadtgrundriss als »Markt« oder »Ring«. Schließlich ist festzustellen, dass sich der Stadtherr rechtlich und administrativ teilweise aus dem Gemeinwesen zurückzog. Diese Gratwanderung zwischen Souveränität und wirtschaftlicher Prosperität war jedoch immer problematisch – konnte sie doch zur Emanzipation der Städte führen, was der Stadtherr natürlich vermeiden wollte. Eine Besonderheit Polens (und ganz Ostmitteleuropas) ist, dass die fürstliche Stadtherrschaft dank des deutschen Rechts nie so strangulierend war wie im Moskauer Reich, aber auch nie so weitgehend durchlöchert werden konnte wie etwa in Oberitalien oder in vielen Städten des Römischdeutschen Reichs.

Der durch Kolonisation erzeugte kulturelle Wandel führte in der Regel zu »gelungenen« Prozessen der ethnischen Vermischung. Dennoch sollte man sich vor einem allzu homogenen Bild hüten. Es gab auch kulturelle Abwehr, und zwar auf allen Ebenen: Die Geistlichen wehrten sich dagegen, dass Pfründen an eingewanderte Amtsbrüder gelangten; die Ritter fanden sich nur ungern damit ab, dass deutsche Konkurrenten nun bei Hof in privilegierte Stellungen kamen; die einheimische Bevölkerung der Städte registrierte mit Missvergnügen, wenn neue Bevölkerungsgruppen (wie Deutsche oder Juden) mit Sonderrechten ausgestattet wurden; und auch die städtischen Gremien wie Zünfte oder der Rat zeigten Tendenzen zur ethnischen Ausgrenzung – wenn auch jeweils sehr genau zu prüfen ist, aus welchen Motiven. Nationsbildung ereignete sich immer auch im Gegeneinander, und das betraf nicht zuletzt die kirchliche Hierarchie. Diese befürchtete nicht nur eine Einbuße bei der Postenverteilung, sondern auch eine Spaltung der kirchlichen Einheit. Gerade die Kirche als einzige Institution, die imstande war, eine gesamtpolnische Politik zu führen, stellte sich an die Spitze der Anhänger einer Vereinigung der polnischen Teilfürstentümer. Dies betraf insbesondere die Kirchenführung, vor allen anderen die Erzbischöfe von Gnesen. Unter ihnen tat sich Jakob świnka (reg. 1283–1314) als Verteidiger des Polentums und Kämpfer für die Unabhängigkeit der kirchlichen Strukturen in der Gnesener Provinz hervor – was ihn auch zu einem Protagonisten der Wiedervereinigung Polens machte. Der Antagonismus gegen die Fremden verursachte Maßnahmen, welche die Förderung der polnischen Sprache in der Kirche bezweckten; damit sind wohl auch die ältesten erhaltenen Texte von Predigten und Kirchenliedern in polnischer Sprache verbunden (darunter die ersten Strophen des Gesanges Bogurodzica, dt. »Gottesgebärerin«). Doch gibt es auch Kehrseiten dieser Entwicklung, wofür die Politik des Gnesener Erzbischofs świnka steht.

Das Römisch-deutsche Reich hatte seit dem 10. Jahrhundert für die polnische Kirche als Vorbild gedient, es gab kulturellen Austausch und einen Transfer von Priestern. Über eine lange Zeitstrekke hinweg war dies kaum hinterfragt worden. Die Situation veränderte sich jedoch grundlegend, als im 13. Jahrhundert eine massive Immigration von Deutschen nach Polen einsetzte. Deren Anteil machte sich nicht nur in der Landwirtschaft und den städtischen Berufen oder an den adeligen Höfen bemerkbar, sondern auch im (polnischen) Klerus. Streit kam auf, wer die begehrten kirchlichen Ämter und Pfründen besetzen sollte – und dieser Streit wurde zum Konflikt zwischen den recht verschiedenen Bevölkerungsgruppen der Deutschen und der Polen. Nimmt man die Perspektive eines »national« gesonnenen Kirchenfürsten ein, dann mussten die Germanisierung Schlesiens und die unübersehbare Präsenz des deutschen Einflusses auch in den anderen polnischen Landesteilen wie eine Bedrohung aussehen.

Genau diese Sicht verkörperte der Gnesener Erzbischof świnka. Er ist einer der Hauptprotagonisten in einem ab diesem Zeitpunkt fassbaren Diskurs um die Bewertung der deutschen Immigration und der Folgen eines kulturellen Wandels in Polen. Seine Antwort war eine explizite Fremdenfeindlichkeit, die nach dem Zeugnis des zeitgenössischen Chronisten Peter von Zittau so weit ging, dass er alle Deutschen pauschal nur noch als »Hundsköpfe« abzuwerten pflegte. Doch sollte man sich von solchen Entgleisungen, wenn sie denn stimmen, nicht irreführen lassen: Mindestens dieselbe Energie wie zur Verunglimpfung der Fremden legte der Kirchenfürst bei der Förderung des Eigenen zu tage. Die Provinzialstatuten, die in seiner Amtszeit für das Erzbistum Gnesen erlassen wurden (1285), spiegeln das. Es sind Anweisungen für das Verhalten des Klerus in seinem Sprengel, und die waren geleitet von dem Bedürfnis, »die polnische Sprache zu schützen und zu fördern« (ad conservacionem et promocionem lingwe Polonice). In der Praxis hieß das, dass die Priester in ihren Gemeinden regelmäßig die zentralen Teile des Glaubensbekenntnisses, des Vaterunsers und des Ave Maria in polnischer Sprache vermitteln sollten. Das Sündenbekenntnis sollte ebenfalls auf Polnisch geleistet werden, und die Einstellung von Lehrern und Seelsorgern sollte davon abhängig gemacht werden, dass diese Berufsgruppen die polnische Sprache beherrschten. Es ging dem Gnesener Erzbischof mit diesen klaren Anweisungen, die übrigens sein Nachfolger auf der Provinzialsynode von 1326 bestätigte, um den Stellenwert des Polnischen und die Seelsorge in der Sprache der Einheimischen. Man vergleiche die Situation in Schlesien, wo Synodalstatuten von 1406 und 1446 das Vaterunser, das Ave Maria und das Glaubensbekenntnis in deutscher und polnischer Sprache festhielten – also einen expliziten Beitrag zur Zweisprachigkeit und zur Gleichberechtigung der sprachlichen Kontexte leisteten.

Im Fall świnkas war es damit aber nicht getan. Seine Auseinandersetzung mit dem Krakauer Bischof Jan Muskata (1295–1320) zeigt, dass der Diskurs über die Förderung der autochthonen Kultur hinausging und eine Polarisierung stattgefunden hatte. So, wie man świnka zuschrieb, die Deutschen gezielt zu beleidigen, so konfrontierte man den aus Breslau stammenden Muskata mit dem Vorwurf, er würde ganz bewusst nur Deutsche in kirchliche Ämter kommen lassen, ja wolle sogar den Herzog von Krakau und das polnische Volk aus seinem Land vertreiben, um den Besitz an Ausländer weitergeben zu können. Muskata wurde 1308 seines Amtes förmlich enthoben – was zwar nicht beweist, dass die Anschuldigungen korrekt waren, aber einen Fingerzeig auf die gespannte Atmosphäre gibt, in der sich dieser Diskurs um die Bewertung von Immigration und kulturellem Wandel abspielte. Kein Zufall ist, dass sich der Konflikt gerade auf dem Feld der Sprache entspann: Erst seit Beginn des 13. Jahrhunderts begegnet in den Quellen der Begriff der lingua Polonica, und die Verschriftlichung der polnischen Sprache stieg markant an. Man wird die Genese eines polnischen Nationalbewusstseins im 13. Jahrhundert nicht verkennen können – was zu höchst unterschiedlichen Reaktionen führen konnte. Eine waren jedenfalls Verse eines Mönchs der niederschlesischen Zisterzienserabtei Leubus/Lubiąż aus dem 14. Jahrhundert, in denen er sich über kulturelle Mängel bei den Polen mokierte.

Der weiße Adler

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