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Die Zeit der späten Piasten

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Es ist sicher kein Zufall, dass sich die heiße Phase der Auseinandersetzung um die Deutschen und den deutschen Einfluss zeitlich mit dem »Vereinigungskorridor« überschneidet, der zur Wiedererrichtung der Monarchie führen sollte. Polen hatte sich in der Zeit der Teilfürstentümer merklich auseinanderentwickelt; Zeichen dafür ist, dass man den Landesnamen selbst im 13. Jahrhundert auf Großpolen reduzierte. Der Raum, von dem die Staatswerdung Polens im 10. Jahrhundert ausgegangen war, wurde mit »Polen« assoziiert – eine Einengung, die angesichts der unterschiedlichen Verhältnisse in Schlesien und des Aufbaus eines eigenen Staates auf der Basis des Kulmer Lands durch den Deutschen Ritterorden nur allzu verständlich war. Die Frage, was das polnische Staatswesen dennoch zusammengehalten hat, beschäftigt die Forschung seit Langem. Hatte man in früheren Zeiten vor allem das Gewicht äußerer Bedrohung und den Anteil der polnischen Kirche an der Bewahrung eines Gesamtstaats betont, so bringt die neuere Forschung zusätzlich die ideellen Beiträge, etwa in Form der Hagiografie um den Märtyrerbischof Stanislaus von Krakau, und die ständischen Wandlungen ins Spiel. Angeführt wird, dass sich nicht nur der Episkopat für eine zentrale (politische) Gewalt einsetzte, die auch politischen Schutz versprach. Daneben sind andere Kräfte zu sehen, die in eine ähnliche Richtung tendierten. So war auch der ärmere Adel daran interessiert, dass Landesverteidigung und Richterfunktion von einer zentralen Institution wahrgenommen wurden. Dieser Teil des Adels grenzte sich als »Ritterschaft« gegen andere Schichten der Bevölkerung ab, war territorial in Verbänden organisiert und bestand auf den alten Vorrechten der Erblichkeit des Besitzes und der Steuerfreiheit. Besitzgarantie und militärischer Schutz dürften auch die Motive gewesen sein, warum eine andere wichtige Gruppe der Bevölkerung, das Patriziat der neuen Städte, eine Erneuerung der Königsmacht unterstützte. Dieses Patriziat wies einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Deutschen aus, was nicht verhinderte, dass man sich von einer Monarchie Vorteile versprach. Zusammen mit anderen Faktoren bildete gerade das Stadtbürgertum eine wirtschaftliche Basis für das neu zu errichtende Königreich Polen.

Schon seit dem 13. Jahrhundert sind Bestrebungen seitens der schlesischen Piasten zu beobachten, eine Zentralgewalt zu etablieren. Treibende Kraft wurde dann jedoch Kleinpolen, das ebenfalls stark von den Veränderungen in der Zeit von Ostsiedlung und Landesausbau geprägt war. Hier organisierte der aus dem ungarischen Exil zurückgekehrte kujawische Herzog Władysław łokietek (»Ellenlang«, reg. 1305–1333) die Vereinigung der polnischen Landesteile. Abschluss dieser Bemühungen, die nicht ohne Widerstände blieben, war die Königskrönung in Krakau im Jahr 1320. Der Papst hatte sein Einverständnis gegeben, was diesem Akt zusätzliches symbolisches Gewicht verlieh. Noch 1300 hatte sich der böhmische Herrscher Wenzel/Václav II. in der Gnesener Kathedrale zum König von Polen krönen lassen; nach dem Aussterben der Přemysliden 1306 (die mit Przemysł II., Wenzel II. und Wenzel III. drei Könige in Polen stellten) konnte Władysław łokietek seinerseits eine Expansion der Macht einleiten. Allerdings ist festzuhalten, dass mehr als die Hälfte des Herrschaftsgebiets der frühen Piasten nicht in dem erneuerten Königreich vorhanden war. Das betraf in erster Linie die schlesischen Herzogtümer, die sukzessive eine Lehnsaufreichung an die Krone Böhmen durchführten und bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts sämtlich aus dem polnischen politischen Verband ausschieden. Eine Klammer blieb lediglich die nach wie vor bestehende Eingliederung des schlesischen Bistums Breslau in den Gnesener Metropolitanverbund. Hinzu kommen Abstriche im Norden: Masowien wurde nicht Teil des neuen Königreichs Polen, genauso wenig wie Westpommern, das den Status eines Reichslehens besaß. Und um den Besitz von Ostpommern (Pommerellen) musste das neue Königreich Krieg mit dem Deutschen Orden führen.

Als Gegengewicht zu diesen Verlusten an Herrschaftsgebiet im Westen trat unter dem Nachfolger Władysław łokieteks, Kazimierz III., seit den 1340er-Jahren eine intensive Ostexpansion hinzu. Kazimierz III. erweiterte das Staatsgebiet, das er von seinem Vater übernommen hatte, auf nahezu das Dreifache. Neue Akquisitionen waren teils alte Piastenfürstentümer, wie Teile von Kujawien und Masowien, teils ganz neue Gebiete, wie das Fürstentum Halicz-Wolhynien. Aufgrund der Neuerwerbungen gerade im Südosten des Reichs, die sprachlich, konfessionell und rechtlich ganz anders gestaltet waren als die polnischen Kerngebiete, veränderte sich zum einen die Struktur des Reichs. Zum anderen bildete sich eine besondere Mentalität heraus, die mit der Ostgrenze Polens nicht nur einen gewöhnlichen territorialen Zuwachs verband, sondern auch eine Sonderstellung des Landes. Die Berührungsfläche mit dem ostslawischen Bereich, die eine Abgrenzung und Auseinandersetzung vor allem mit dem Moskauer Reich mit sich brachte, wurde zum Stimulus für eine veränderte Eigenwahrnehmung. Man sah sich an einer »Kultur- und Konfessionsgrenze«, an der »Grenze des Abendlandes«, und damit am Rand der europäischen Zivilisation. Die Auseinandersetzung damit begann in der Zeit Kazimierz’ III. und dauerte bis zum Ende der Adelsrepublik – mit Nachspielen im 20. Jahrhundert und punktuellen Reflexen bis heute. Dabei ging es in einer ambivalenten Bewegung immer um beide Richtungen: Nach Innen sollte die homogenisierende und integrierende Qualität des polnischen Staates unterstrichen werden, nach Außen die Schutzfunktion als eines Antemurale Christianitatis, einer »Vormauer des Christentums« (worauf noch einzugehen sein wird). Das war die Losung, die von den polnischen Intellektuellen seit Beginn des 15. Jahrhunderts ausgegeben wurde, und die andeuten sollte, dass das um Jahrhunderte später christianisierte Polen nun den alten Zentren Europas den Rang abgelaufen hatte und zur Avantgarde der christlichen Staatengemeinschaft mutiert war.

Um die Leistung des letzten Piasten Kazimierz’ III. würdigen zu können, hilft ein Blick auf die europäische Bühne. Man hat für diese Zeit von einer »Blüte der Staaten« gesprochen, und auch wenn solche Metaphern aufgrund ihrer hierarchisierenden Qualität skeptisch gesehen werden müssen, frappiert doch die Paralelle an äußerer und innerer Machtentfaltung in ganz Mitteleuropa im 14. Jahrhundert. Expansionspolitik war dabei nur ein Faktor unter mehreren; genauso wichtig (und in den Folgen oft anhaltender) waren gesetzgeberische und ordnungspolitische Maßnahmen. Ludwig der Große von Ungarn, Karl IV. von Böhmen, Rudolf der Stifter von Österreich, Dušan der Große von Serbien und Kazimierz der Große von Polen gehören in ein und dasselbe Paradigma. Sie alle verbindet die Stärkung der Zentrale, was die Verwaltung anging, und eine entschiedene Förderung der Wirtschaft. Hinzu kommt ein weiterer Faktor, der auch im Fall Polens weitreichende Wirkung entfaltet hat: die Übernahme ideologischer Konstrukte – sei es in Form von Rechtsvorstellungen, sei es in Form eines staatsrechtlichen Einheitsgedankens. Kazimierz III. implantierte in Polen (wie die Könige Ludwig in Ungarn und Karl in Böhmen) in gewissem Umfang das sonst in Ostmitteleuropa eher nicht gebräuchliche Lehnrecht, machte Anleihen aus dem Kaiserrecht und bediente sich der abstrakten Staatsvorstellung einer »Krone« (corona). Damit war ein ideologisches Substrat in die praktische Politik eingeführt, das die heterogenen Herrschaftsgebiete Polens unter ein Dach brachte. Symbol dieses Daches war nach wie vor die physische Krone des Herrschers – aber die Idee der Krone verlieh ihr einen Bedeutungszuwachs: Mit der Staatskonstruktion »Krone« versuchten die drei ostmitteleuropäischen Monarchen, unter ihnen der polnische König, die verbindenden Elemente anzusprechen. Dahinter steht die Idee, kulturell und wirtschaftlich divergente Gebiete durch die Betonung ihrer Zugehörigkeit zu einem übergeordneten Ganzen zu vereinen. Die »Krone« bildete eine Achse der Gemeinsamkeit, über die Stände und die Regionen hinweg. Versehen mit dem Futter der königlichen Sakralität, konnte so eine quasi-imperiale Herrschaft aufgebaut werden.

Konkret wirkte sich diese neue königliche Politik in Polen so aus, dass Lehnsbindungen etabliert wurden. Ähnlich der Politik Karls IV. in Böhmen, der die schlesischen Herzogtümer durch Lehnsverträge mit der »Krone Böhmen« verband, brachte Kazimierz III. das Herzogtum Masowien, litauische Fürstentümer und Teile des Fürstentums Halicz-Wolhynien (Wladimir, Chełm und Bełz, Podolien) unter seine »Krone Polen«. Administrative Maßnahmen mit klar zentralistischer Absicht verstärkten diese Politik: So setzte Kazimierz in den Provinzen des Reichs Starosten ein, denen die Organisation der Verwaltung unterstand. Mit dem Krakauer Groschen wurde eine Einheitswährung geschaffen (nach böhmischem Vorbild), die ebenfalls daraufhin angelegt war, Einheitlichkeit herzustellen. Demselben Zweck diente die Herausbildung einer Beamtenschaft und die Modernisierung der königlichen Kanzlei als der administrativen Schaltzentrale des Reichs. Wenn Kazimierz aber das Gros der Beamten aus seinem »Stammland« Kleinpolen rekrutierte, zeigte sich daran auch, dass die Vereinheitlichung des Reichs auf zentralistischen Vorstellungen mit einer regionalen Machtbasis beruhte. Dennoch ist das Bemühen des Monarchen zu erkennen, solche Instrumente seiner Herrschaft zu etablieren, die partikulare Interessen überstiegen. An erster Stelle ist dabei die Kodifikation der Gesetze zu nennen. Es war ein ständiges und überall anzutreffendes Problem der mittelalterlichen Rechtspraxis, dass die landrechtlichen Bestimmungen nur verstreut und ungeordnet zur Verfügung standen. Der Qualität der Rechtsprechung, auch was die Länge der Verfahren anging, war dies extrem abträglich. Maßnahmen zur Kodifikation, die neben der Zusammenstellung auch eine Abgleichung der Rechtsnormen mit sich brachte, sollten dem abhelfen. Mit den Statuta Casimiri von 1347 wollte Kazimierz ein Gesetzeswerk zur Verfügung stellen, das mit dem Entwurf der Majestas Carolina Karls IV. von 1355 verglichen werden kann. Während Karl sein Kodifikationswerk nicht durchsetzen konnte, brachte Kazimierz seine Sammlung auf den Weg – allerdings mit dem Abstrich, doch regionale Besonderheiten der alten polnischen Kernlandschaften Groß- und Kleinpolens berücksichtigen zu müssen.

Ein Bündel von Motiven stand hinter der Gründung der ersten Universität Polens 1364, gestiftet von Kazimierz dem Großen und bestätigt von Papst Urban V. Man kann die Einrichtung dieses Studium Generale ebenfalls als einen Ausfluss zentralistischer Politik sehen, als dessen (eines) Ergebnis die Heranbildung eines juristisch geschulten Hof- und Verwaltungspersonals klar vorgegeben war. Aber darin erschöpft sich dieser Akt nicht. Der polnische König orientierte sich beim Aufbau der Universität an dem Modell, das Bologna vorgegeben hatte. Damit war verbunden, dass die Studenten den Rektor wählten, und dass die Jurisprudenz eine überragende Stellung erhalten würde. In der Tat sah der Einrichtungsplan drei Lehrstühle für Kirchenrecht und noch einmal drei für Zivilrecht vor; mit dem im folgenden Jahr geplanten Ausbau um weitere zwei zivilrechtliche Lehrstühle wären es dann fünf Professoren gewesen, die sich mit dem Römischen Recht befasst hätten. Diese europaweit außergewöhnliche Konzentration von juristischer Ausbildung hätte der Universität Krakau nicht nur eine Sonderstellung in diesem Feld verschafft, sondern auch genügend Distanz zur unmittelbaren Vorgängergründung in Prag verschafft. Die dort von Karl IV. 1348 ins Leben gerufene Universität besaß einen klaren Schwerpunkt in der Theologie und orientierte sich am Modell der Universität Paris. Mit der Bestimmung, dass der Kanzler der königlichen Kanzlei die akademischen Prüfungen zu bestätigen hatte, nicht der (für gewöhnlich zuständige) Ortsbischof, setzte Kazimierz einen weiteren Akzent auf den Typus einer staatstragenden Einrichtung.

Die Voraussetzungen waren gut: Nicht nur, dass hinter der Gründung der Hochschule ein starker Herrscher stand; die Stadt Krakau selbst war als Zentrum auf einem international bedeutenden Handelsweg zwischen den deutschen Ländern und der Levante bzw. weiter in Richtung Moskau sehr wohl geeignet, den nötigen urbanen Rahmen für eine solche Einrichtung abzugeben. Krakau war die Hauptstadt des wiedervereinigten polnischen Königreichs und damit das Machtzentrum schlechthin. Hinzu kommt, dass es Kazimierz der Große geschafft hatte, mit einem Gesuch an den Papst die Problematik der zur Fahrt ins Ausland gezwungenen Scholaren aus Polen deutlich zu machen; damit war die (neben dem Kaiser) wichtigste mittelalterliche Zentralgewalt als Stütze für das neue Studium generale gewonnen. Allerdings, und das bedeutete einen gravierenden Mangel, hatte die Bestätigung durch Papst Urban V. die Errichtung einer theologischen Fakultät ausdrücklich ausgeschlossen. Mag sein, dass es dieser Prestigeverlust im Bereich der drei Höheren Fakultäten (Theologie, Recht, Medizin) war, mag sein, dass die Universitätsgründung relativ am Herrschafts- und Lebensende des Königs nicht mehr fest genug etabliert werden konnte: jedenfalls ist die erste Phase der Krakauer Universität keine Erfolgsgeschichte. Wir kennen kaum Tätigkeiten von Professoren, und an Abschlüssen sehen wir lediglich vier Bakkalare im Grundstudium der Artes Liberales. Magisterpromotionen wurde keine einzige durchgeführt, von Doktorpromotionen ganz zu schweigen. Der Unterricht erfolgte im königlichen Schloss und in der Krakauer Nebenstadt Kazimierz – was auch bedeutete, dass man über kein eigenes Gebäude verfügte. Die Universität Krakau als Bildungseinrichtung, die für ganz Ostmitteleuropa von Gewicht war, ist ein Phänomen erst aus jagiellonischer Zeit – mit dem Aufbau einer eigenen theologischen Fakultät 1397 und einer regelrechten Neugründung im Jahr 1400. Dennoch verdient festgehalten zu werden, dass die Gründung durch König Kazimierz III. seinem Staat die erste und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts einzige polnische Volluniversität beschert hat, und dass mit dem Stiftungszweck der Juristenausbildung ein grundlegendes Erfordernis für eine »moderne« Monarchie erkannt wurde.

Dem Faktor der Modernisierung diente auch die unter Kazimierz III. vorangetriebene Binnenkolonisation. Es geht um die Wirkung der deutschrechtlichen Siedlungen, die als Motoren für die Entwicklung von Wirtschaft und Handel längst evident geworden waren. Die Wiedervereinigung Polens und die Rolle Kleinpolens in diesem Prozess legten den Grundstein für die Weiterführung der Stadtgründungswelle des 13. Jahrhunderts. Damals war vor allem Schlesien der Profiteur gewesen, das inzwischen die polenweit größte Bevölkerungsdichte aufwies und zur wirtschaftlich bestentwickelten Region Polens avanciert war. Einen analogen Aufschwung erfuhr in der Regierungszeit Kazimierz’ nun Kleinpolen. In den Jahrzehnten von 1315 bis 1370 wurden 74 Städte mit deutschem Recht ausgestattet (»Lokation«), darunter allein 63 in der Zeit Kazimierz’ des Großen. Praktisch alle städtischen Siedlungen in Kleinpolen waren deutschrechtlich organisiert, d. h. sie verfügten über Privilegien gegenüber dem Umland, hatten eine städtische Verfassung mit Rat und Bürgermeister, besaßen Verteidigungsanlagen wie Stadtmauern und genossen eine mehr oder weniger große administrative Autonomie. Kleinpolen profitierte davon, dass hier der unmittelbar präsente König, nicht etwa der Adel, die Rechtsprechung und die Verwaltung dominierte. Auch die Zahl der Städte für sich genommen stieg an: Man beobachtet im 14. Jahrhundert die Herausbildung eines Städtenetzes, bei dem die Entfernung von Stadt zu Stadt etwa 30 km betrug. Kleinpolen verwandelte sich damit zu einer typischen »Kulturlandschaft« des europäischen Mittelalters – was den Gesamtbestand der Krone angeht, eher ein Ausnahmefall. Zwar begegnen auch in den anderen Teilen der Monarchie, einschließlich der Gebiete im frisch erworbenen Rotreußen, Maßnahmen der Siedlungsintensivierung und der Einsatz des deutschen Rechts (Ius Theutonicum). Doch sind die Unterschiede unübersehbar, und sie werden für die Folgezeit relevant bleiben.

Zukunftsweisend wurde die Monarchie Kazimierz’ des Großen und seines Vorgängers auch noch in einer anderen Hinsicht. Die Restauration des Königtums in Polen schuf eine der Grundlagen, auf der sich die »jagiellonische Transformation Polens« (KLAUS ZERNACK) abspielen konnte. Der machtpolitische Aufstieg des Staates zu einer europäischen Großmacht mit imperialen Zügen ist undenkbar ohne die strukturellen Wandlungen in der späten Piastenzeit. Der andere Eckstein, auf dem das spätere jagiellonische Staatswesen beruhen sollte, war die Koalition mit Litauen. Dort hatte sich im 14. Jahrhundert eine machtpolitische Revolution ereignet, als Litauen in die westlichen Gebiete der von den Mongolen eroberten Kiewer Rus’ vorstieß. Der Ostexpansion Polens korrespondierte also eine nicht weniger erfolgreiche Ostexpansion Litauens – und eine Wende in der Großregion Ostmitteleuropa bahnte sich an, als beide expandierenden Staatswesen entdeckten, dass sie durch das Vorgehen gegen gemeinsame Feinde ihre Macht steigern konnten. Das erste Exempel stellte die Pommerellen-Frage. Władysław łokietek wollte sie im Anschluss an seine Krönung 1320 lösen und verband sich zu diesem Zweck im Jahr 1324 mit Litauen. Machtpolitisch war dieser Schachzug leicht nachvollziehbar, denn Litauen war ein Gegner des Deutschordensstaats, der sich Pommerellen – das Gebiet um die Weichselmündung – einverleibt hatte. Symbolisch und ideologisch barg diese Koalition zwischen Polen und Litauen jedoch ein Risikopotenzial: war Litauen doch (noch) nicht christianisiert, galt also als »heidnisches Staatswesen« – was es in den Augen der Zeit zu einem mehr als problematischen Bundesgenossen machte.

Es kostete die polnischen Juristen der Folgezeit viel Mühe, ihre Argumentation durchzusetzen, dass Litauen, obgleich ganz oder teilweise »heidnisch«, Anspruch auf einen Respekt vor seinen Besitzungen und seiner staatlichen Unversehrtheit besaß. Diese Meinung war selbst nach der Nationentaufe Litauens 1387, im Zuge der Thronbesteigung des ersten Jagiellonen, strittig; ein knappes halbes Jahrhundert davor war die Gleichbehandlung des »heidnischen« Staatswesens Litauens mit christlichen Staatswesen hoch riskant. Dass Litauen überhaupt in das Mächtekalkül Polens mit einbezogen wurde, verdankt es der Tatsache, dass christliche Mächte gerade in diesem Teil Europas gegeneinander standen. Der »heidnische« Staat konnte sich so zum begehrten Partner für Allianzen entwickeln. Machtbasis war die Herrschaftsausweitung des litauischen Großfürsten Gediminas (Gedimin; reg. 1316–1341) in die ostslawische Sphäre. Bis zu seinem Tod im Jahr 1341 hatte das litauische Staatsgebiet das Fürstentum Halicz-Wolhynien erreicht, wo es auf das ebenfalls expandierende Polen traf. Damit etablierte sich Litauen als ernsthafter Anwärter für die Aneignung der Gebiete der Kiewer Rus’ (Russia in den Quellen). Dem Nachfolger Gedimins als Großfürst, Algirdas (Olgerd, reg. 1345–1377), sagte ein Chronist des Deutschen Ordens nach, er habe die ganze Russia als zu Litauen zugehörig gesehen. Sein Herrschaftsbereich grenzte unmittelbar an die Machtsphären Moskaus und Polens. Wenn die polnische Monarchie gegen den Deutschen Orden vorgehen wollte, musste sie sich mit Litauen verbünden, das den Deutschordensstaat ebenfalls als Hindernis für weitere Expansion wahrnahm. Die unter Kazimierz dem Großen 1366 erreichte Verständigung zwischen Polen und Litauen brachte dabei nicht nur den Deutschen Orden an der Ostsee in Bedrängnis, sondern veränderte die Machtbalancen in diesem Teil des östlichen und nordöstlichen Europas erheblich.

Der weiße Adler

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