Читать книгу Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) - Thomas Meyer - Страница 15
14 Gibt es Regionen mit einer besonderen ALS-Häufigkeit?
ОглавлениеIn Deutschland und Europa ist von einer ähnlichen Häufigkeit auszugehen. Dennoch sind regionale Unterschiede möglich, deren Ursachen noch nicht geklärt sind. Informationen über die Größe der regionalen Unterschiede ist von »ALS-Registern« zu erwarten, die derzeit in der Region Schwaben und anderen Bundesländern aufgebaut werden. Wiederholt wurden kleinere Orte beschrieben, in denen mehrere Menschen an ALS zeitgleich erkrankt sind. Das gilt auch für Unternehmen, in denen Arbeitskollegen mit kurzem Zeitabstand an ALS erkrankt sind. Diese Konstellationen waren über Jahrzehnte der Anlass für Hypothesen von Umweltfaktoren, die eine regionale oder kollektive Häufung von ALS bedingen. Diese externen Faktoren konnten bisher nicht identifiziert werden. Auch ist bisher unklar, ob es sich bei den Berichten tatsächlich um regionale Häufungen oder vielmehr um statistische Phänomene handelt. Darunter ist zu verstehen, dass im Auftreten von Erkrankungen keine statistische »Gleichverteilung« besteht. Dieses Phänomen ist beim Würfelspiel zu beobachten – so kann eine Zahl für mehrere Durchgänge besonderes häufig oder sogar hintereinander gewürfelt wird, obwohl die Zahl auf dem Würfel nur einmal vorkommt. In gleicher Weise ist erklärbar, dass die Diagnose einer ALS mehrfach hintereinander in der gleichen Gruppe gestellt wird. Im Gegensatz zu statistischen Effekten (einer scheinbaren ALS-Häufung) ist zu vermuten, dass genetische Faktoren zu einer realen Häufung der ALS in bestimmten Regionen beitragen. So kann es in Regionen mit geringer genetischen »Durchmischung« (z. B. durch Abgeschiedenheit der Bevölkerung auf Inseln) zu einem erhöhten genetischen Risiko der ALS kommen. Die Insel Guam ist ein seltenes Beispiel für eine tatsächliche regionale Häufung der ALS. In den 1940er–1960er Jahren war eine komplexe neurologische Erkrankung mit Ähnlichkeiten zur ALS die häufigste Todesursache in einigen Dörfern der Insel Guam. Die Erkrankung war eine Kombination von ALS, Parkinson-Syndrom und Demenz. Sie wurde als Guam-ALS-Parkinson-Demenz-Komplex bezeichnet. Als Ursache der regionalen Häufung wurden ursprünglich bestimmte Toxine vermutet, die von der regionalen Bevölkerung mit der Nahrung (Produkte der Palmfarne) verzehrt werden. Der New Yorker Neurologe und Buchautor Oliver Sacks hat in einem Buch »Die Insel der Palmfarne« über die Häufung der ALS auf Guam und die damit verbundenen Hypothesen berichtet. Oliver Sacks hat durch sein Buch »Zeit des Erwachens«, (das sehr erfolgreich verfilmt wurde) eine große Bekanntheit erlangt. Die Toxin-Hypothese der ALS-Häufung auf Guam konnte bisher nicht bewiesen werden. Eine alternative Hypothese besteht darin, dass sich genetische Faktoren innerhalb der abgeschlossenen Bevölkerung auf Guam angereichert haben. Tatsächlich hat die Häufigkeit des ALS-Parkinson-Demenz-Komplex auf Guam dramatisch abgenommen. Dieser Effekt könnte sowohl mit einer genetischen Durchmischung (größere Zuwanderung auf Guam mit verändertem genetischem Hintergrund), aber auch durch veränderte Ernährungsgewohnheiten (Verminderung der Toxinbelastung) erklärt werden. Die starke Häufung der ALS-ähnlichen Erkrankung auf Guam ist ein medizin-historisches Phänomen, das in seiner Ursache bisher noch nicht vollständig aufgeklärt ist. In Deutschland und Europa sind vergleichbare regionale Häufungen nicht bekannt.