Читать книгу K.L.A.R. - Taschenbuch Dann bleib ich eben sitzen! - Thorsten Steffens - Страница 6
Оглавление2. SECHZEHN
Nachdem wir Benjamin Blümchens Abenteuer als Bademeister inzwischen drei Mal gehört haben, schaltet meine Tante kurz vor Köln endlich das Radio ein.
„Einslive“, sagt sie. „Die sitzen sogar hier in Köln! Ist doch aufregend, oder?“
Nö!
Ihr Versuch, meine Begeisterung für diese Stadt zu wecken, ist vergebens.
„Holst du jetzt mal das Navi raus?“
Ich krame das Navi aus dem völlig überfüllten Handschuhfach und stecke das Kabel in den Zigarettenanzünder.
„Adresse?“, frage ich.
Meine Tante sieht mich entgeistert an.
„Wie? Du weißt nicht mal deine neue Adresse?“
„Nö!“, sage ich. Als ob es meine Idee gewesen wäre umzuziehen! Vor ein paar Monaten hat meine Mutter Kati und mir beim Abendessen gesagt, dass wir im Februar nach Köln ziehen werden. Wegen des Jobs müsste das sein. Diskussion beendet!
Ich schaue meine Tante erwartungsvoll an: „Und? Wie lautet die Adresse nun?“
„Ja, was weiß ich? Ich zieh nicht nach Köln.“ Wir lachen beide. Typisch Tante Karin. Die ist manchmal genauso verpeilt wie ich. Wenn nicht sogar noch schlimmer. Deshalb denke ich mir oft, wenn die ihr Leben auf die Reihe kriegt, dann werde ich das ja wohl auch schaffen!
Ich nehme mein Handy und rufe meine Mutter an.
„Raderberger Straße“, sagt sie.
Aha. Das ist also meine neue Adresse.
Nach guten 20 Minuten sind wir endlich da. Mein neues Zuhause ist in einer Nebenstraße. Ein riesiges Mehrfamilienhaus mit Betonbalkonen. Direkt vor dem Haus steht der Umzugswagen.
„Geht schon mal vor“, sagt meine Tante, die so schnell keinen Parkplatz gefunden hat. „Und vergiss die hier nicht!“ Tante Karin hält uns die Benjamin-Blümchen-Kassette hin.
Und dann murmelt sie leise: „Bevor wir die noch ein viertes Mal hören müssen.“
Aber ich glaube, Kati hat es nicht gehört.
Ich lächle meiner Tante kurz zu, ehe ich die Wagentür schließe.
Kati läuft über die Straße, ohne nach links oder rechts zu schauen. Mist! Zum Glück kam gerade kein Auto, aber ich hätte besser aufpassen müssen. Ich laufe ihr hinterher und nehme sie an die Hand.
Vor der Haustür bleiben wir kurz stehen.
„Wow, so viele!“, sagt Kati mit einem Blick auf die vielen Klingeln und die Namensschilder daneben. Sie streckt den Arm aus und will mit der flachen Hand auf alle gleichzeitig drücken. Ich kann sie in letzter Sekunde noch davon abhalten.
Es sind tatsächlich viele Klingeln. In Münster haben wir in einem Haus mit zwei anderen Familien gewohnt. Hier befinden sich bestimmt 15 oder 16 Klingeln neben dem Eingang.
„Da seid ihr ja!“, begrüßt uns meine Mutter in der neuen Wohnung.
Hier herrscht noch das totale Chaos!
Überall stehen Kisten, Tüten und einzelne Möbelteile, die noch aufgebaut werden müssen.
„Na, los! Ich zeige euch alles!“
Meine Mutter geht direkt in das erste Zimmer links neben der Eingangstür.
„Das hier ist Tims neues Zimmer“, sagt sie stolz in meine Richtung.
Ich muss zugeben, es ist wirklich ziemlich groß. Viel größer als mein altes Zimmer in Münster. Trotzdem bin ich nicht begeistert, dass wir hierherziehen mussten.
„Das ist eigentlich das Elternschlafzimmer, aber ich brauche ja nicht so viel Platz“, sagt sie. Danach zeigt sie Kati ihr Zimmer, das winzig klein ist. Ein langer, schmaler Raum, in dem außer einem Schrank und einem Bett kaum etwas anderes hineinpasst.
Aber Kati freut sich.
„Kann ich meine Einhorn-Posters aufhängen hier?“, fragt sie und fasst mit ihrer Hand an die rechte Wand.
Kati und ihre Einhörner! Die mag sie fast so sehr wie Benjamin Blümchen.
„Aber sicher!“, sagt meine Mutter und scheint ein wenig erleichtert, dass meine Schwester nicht protestiert, weil ihr Zimmer so klein ist. Dann sieht meine Mutter mich erwartungsvoll an: „Und?“
„Und was?“, frage ich, aber ich weiß schon längst, welche Frage als Nächstes kommt. „Wie sieht dein Zeugnis aus?“
In den letzten Wochen gab es ja kaum ein anderes Thema. Selbst hier und jetzt!
Wir sind mitten im Umzugsstress, überall stehen Kartons und Möbelstücke, aber für meine Mutter gibt es wieder mal nur eine Sache, die sie interessiert: Mein Zeugnis.
„Wie soll’s schon aussehen? Weiß mit schwarzer Schrift“, versuche ich zu scherzen und zucke mit den Schultern.
„Zeig es mir bitte!“
Ich krame das Zeugnis aus meinem Rucksack heraus.
Meine Mutter reißt es mir hastig aus der Hand. „Oh je! Aber … Tim! Das ist ja noch viel schlimmer, als ich dachte! Zwei Fünfen!
Und dann auch noch in Mathe! Was machst du denn den ganzen Tag in der Schule? Schlafen?“
„So schlimm ist es nun auch nicht“, versuche ich, sie zu beruhigen.
„Damit wärst du doch sitzengeblieben!“
Sie sieht mich an. So, als ob ich dazu was sagen soll.
Ich sehe sie ebenfalls an, sage aber nichts. „Oder nicht?“, fragt sie mich. „Wärst du damit versetzt worden?“
Ich schüttle den Kopf.
„Das kann doch nicht wahr sein! Schon wieder? Du bist doch letztes Jahr schon sitzengeblieben! Was soll denn aus dir werden?“
Wir stehen mitten im Flur. Einer der Möbelpacker, der gerade im Wohnzimmer eine Kiste abgestellt hat, ergreift schnell die Flucht und rast an uns vorbei in Richtung Treppenhaus. Ich sehe ganz kurz, wie riesig das Wohnzimmer hier ist.
„Kannst du mir bitte antworten?“
Ich seufze genervt. „Ja, keine Ahnung!
Als ob ich absichtlich sitzengeblieben wäre!“ „Du musst dich einfach mal etwas mehr anstrengen! So schwer kann das doch nicht sein. Hausaufgaben machen, für Tests und Klassenarbeiten lernen. Das sagen wir dir doch schon seit Jahren! Wann geht das denn endlich in deinen Kopf hinein?“
Meine Mutter spielt wieder denselben Text ab, den sie mir immer vorspielt. So, als ob sie einfach nur auf einen Knopf drückt und die Ansage geht von vorne los.
Ich kann inzwischen schon mitsprechen – von wegen mehr anstrengen, mehr Hausaufgaben, mehr lernen, erwachsen werden.
Kati hört auf, in ihren Kisten zu wühlen. Und sie hat aufgehört zu lächeln. Dabei lächelt sie eigentlich fast immer. Außer wenn wir uns streiten. Das mag sie nicht. Aber wer tut das schon?
„Wie soll es denn jetzt weitergehen? Du bist 16 Jahre alt. Wann willst du denn deinen Abschluss machen? Und vor allem, was für einen? Und dann? Hast du dir jetzt endlich einmal Gedanken gemacht, was du nach der Schule beruflich machen möchtest?“
Ich seufze wieder laut. Stimmt, so geht die Ansage weiter: Du bist schon 16, Schulabschluss, Beruf! Bla, bla, bla.
Andauernd fragt sie mich, was ich später einmal machen möchte. Aber ich weiß nicht. Ich weiß es einfach nicht! Ich weiß nur, was ich nicht werden möchte – Schüler!
Ich meine, ich kenne einige, die wissen ganz genau, was sie später einmal machen wollen: Touri zum Beispiel will Kfz-Mechatroniker werden und später mal seine eigene Werkstatt haben; oder Lennart, der weiß genau, dass er Abi machen will und danach BWL studiert. So was macht mir eine Scheißangst! Dass die das alle so genau wissen.
„Du bist 16 Jahre alt, Tim. 16!“, betont meine Mutter wieder. „Irgendwann musst du doch mal erwachsen werden!
Verantwortung übernehmen! Einen Plan für deine Zukunft haben. Als ich so alt war wie du, war ich schon in der Ausbildung!“
Meine Tante betritt die Wohnung: „Och nö, ihr streitet euch schon wieder? Keine fünf Minuten kann man euch alleine lassen!“
„Ich mache mir doch nur Sorgen!“, rechtfertigt sich meine Mutter, während meine Tante zu Kati geht und sie in den Arm nimmt.
Mir reicht es!
Ich sehe aus den Augenwinkeln Katis trauriges Gesicht, das sonst nie traurig ist. Trotzdem drehe ich mich um und verlasse die Wohnung. „Wo willst du hin?“, ruft meine Mutter mir nach. Weg! Einfach nur weg.