Читать книгу Ahrenshooper Spinnenweg - Tilman Thiemig - Страница 10
5. Hogna truculenta
ОглавлениеAbermals stand Robert Aaron Zimmermann nun auf dem Borner Friedhof am Familiengrab derer von Wustrow. Doch die Trauerfeier für Hans von Wustrow bot keinerlei Nährboden für aufkeimende Déjà-vu-Momente. War in nahezu allen Punkten das extreme Gegenteil der Beisetzung seiner Mutter, der Zimmermann vor etwas mehr als einem Jahr beigewohnt hatte.
Das begann schon damit, dass Pastor Seeberg, im Rücken gestärkt durch seinen Kirchenvorstand und sogar seinem Bischof, die Nutzung der Fischerkirche und auch der kleinen Kapelle verweigert hatte. Selbst ein weltlicher Trauerredner war nicht aufzufinden gewesen, so dass sich letztlich Johannes Clauert und Hakala-Holappa die traurige Aufgabe teilten, Worte des Abschieds zu formulieren. Immerhin hatte man Dottore Lappe, den gewichtigen Gerichtsmediziner mit der Leidenschaft für die italienische Oper gewinnen können, die musikalische Begleitung zu übernehmen. Ihm war es zu verdanken gewesen, dass zumindest bis zu einem gewissen Grade eine würdevolle Stimmung aufgekommen war. Händels ›Largo‹. Puccinis ›Nessun dorma‹. Und natürlich das unvermeidbare ›Ave Maria‹, das Lore Bradhering mit brüchiger Stimme mitgesungen hatte. Ebenso Bernhard Gutzeit. Mehr laut als schön; er wollte jedoch vorrangig seinen Sohn Bernd ärgern. Der, zum wiederum nicht geringen Ärger des Seniors, von Lore den Auftrag erhalten hatte, Hans von Wustrows letzte Reise zu betreuen. Sie hatte sich in diesem Punkt auf keinerlei Diskussion eingelassen. »Das machen wir schon immer so und Punktum. Sieh du lieber zu, dass du in deiner Bude mal Klarschiff machst. Seitdem du die entzückenden Kunstwerke von Tante Wilhelm weggeräumt und durch deine grässlichen Särge ersetzt hast, setze ich keinen Fuß mehr in diese Altmännergruft.«
Die wenigen anderen Trauergäste verzichteten darauf, in Dottore Lappes Gesang einzustimmen. Außer Zimmermann und seinen Musketieren, Hakala-Holappa und dem schmetternden Doktor standen nur noch Johanna Riese und Kempowski im lockeren Halbkreis um das Grab herum. Im sehr lockeren, lichten. Die anderen Ahrenshooper hatten sich entschuldigen lassen, Geschäftigkeiten vorgeschoben und auf die immer näherkommenden Eröffnungsfeierlichkeiten verwiesen. Dafür waren umso mehr Zaungäste erschienen, allen voran diverse Pressevertreter, ein paar Radiojournalisten sowie das Team eines privaten Fernsehsenders. Die sich aber in respektvollem Abstand hielten. Noch. Außerdem schlenderten auffällig viele Einheimische aus Born und den angrenzenden Ortschaften den Kirchweg entlang. Und das, obwohl es inzwischen zu nieseln angefangen hatte.
Zimmermann fröstelte. Von Richard Sonntags Schirm, den jener fürsorglich über den kahlen Schädel seines Chefs und Freundes hielt, tröpfelte es. In schöner Regelmäßigkeit. Stete Tropfen. Die erstaunlicherweise stets jene schmale Lücke zwischen Mantelkragen und seinem faltigen Hals fanden. Und das obwohl er mehrfach seinen Standort ein wenig verändert hatte, ein zwei Schritte nach links, dann wieder nach rechts. Und nach vorn. Sonderbar.
Ebenso sonderbar wie die Tatsache, dass ihn der Tod Hans von Wustrows noch immer nicht berührte. In keinster Weise. Er spürte nichts. Keine Betroffenheit. Keine Genugtuung. Nicht einmal Beruhigung. Das war ihm schon während des Telefonats mit Hakala-Holappa aufgefallen. Diese Unberührtheit. Sicherlich hatte er dennoch umgehend nach dem Gespräch zum Aufbruch geblasen und bereits am nächsten Morgen war die Viererbande aus Bad Warmbrunn abgereist und am späten Abend in Born eingetroffen. Wie gewohnt sicher und souverän von Richard Sonntag chauffiert.
Auch wenn Zimmermann diese vorzeitige Heimkehr seinen Gefährten gegenüber vorrangig mit der Sorge um Lore Bradhering begründet hatte, war ihm im tiefsten Inneren gewahr, dass auch dies nur vorgetäuscht war. Er wollte einzig und allein zurück auf den Darß, die Halbinsel, um Olaf Hegerdorp nachzuspüren. Obgleich er noch nicht recht wusste, wie er das bewerkstelligen, wo er anfangen sollte.
Er wusste nur, dass er es musste. Allein schon, weil ihm Hegerdorp seit ihrem vermeintlichen Wiedersehen jede Nacht in seinen Träumen begegnete. Die alles andere als schöne Träume waren.
»Träumst du, Zimmermann? Es ist vorbei. Wir wollen gehen. Besser gesagt, wir sollen.« Richard Sontag ließ den Freund für einen kurzen Moment richtig im Regen stehen. Ging zwei, drei Meter voraus. Mitsamt Schirm. Zimmermann erwachte in der Gegenwart. Tatsächlich! Die triste Zeremonie war überstanden. Lore verzichtete zudem darauf, am offenen Grab die Kondolenzen der handverlesenen Teilnehmer entgegenzunehmen. Die sich nun, eines solchen obligaten dramaturgischen Fixpunktes beraubt, etwas unsicher umschauten und ohne rechte Ordnung Richtung gähnender Grube stolperten. Dort wählten nahezu alle die kleine Schaufel und ließen Bröckchen bereits durchnässter Erde auf den Sarg niedertrommeln. Nein, für Hans von Wustrow sollte es keine roten Rosen regnen. Lediglich Bernhard Gutzeit machte eine Ausnahme und holte ein kleines Stück Holz aus der ausgebeulten Tasche seines schwarzen Anzuges. Eines seiner kleinen Kunstwerke, auf dessen Oberseite er einen kleinen Korb herausgeschnitzt hatte, wie Zimmermann später von Kempowski erfahren sollte. Gutzeit Junior missbilligte auch diese Geste seines alten Herren mit hochgezogen Augenbrauen.
Die allgemeine Unsicherheit, Verlegenheit setzte sich anschließend fort. Denn die ungastliche Pensionswirtin hatte überdies beschlossen und energisch verkündet, dass es keinen Leichenschmaus geben würde. »Keinen Kaffee und keinen Streuselkuchen. Kein Süppchen. Und erst recht keinen Doppelkümmel. Weder bei Petersson noch im Walfischhaus. Noch sonstwo. Und bei mir schon gar nicht. Das hat er nicht verdient!«
Ach ja, die »schöne Laich« in Peterssons Hof-Café, damals nach Tante Wilhelms Trauerfeier! Zimmermann dachte gerne an das gesellige Beisammensein zurück. An seine Plaudereien mit den Damen. Den alten, sehr alten. Den Scherzen. Doch Omi Marzahn war ja nun auch nicht mehr. Aber – Zimmermann war urplötzlich hellwach – wie hieß denn ihre Freundin noch mal, die sich ins Gespräch eingemischt hatte und noch recht genau über die Zeiten während des Zweiten Weltkriegs erzählen konnte? Irgendetwas Richtung Ingeborg, Hildburga, Brunhilde, oder so. Eben ein seinerzeit typischer Name für ein Mädel, das im BDM gewesen war. Und womöglich ein Auge auf so einen schmucken, ansehnlichen Hitlerjungen wie Olaf geworfen hatte. Zimmermann war sich mehr als sicher, dass der heranwachsende Hegerdorp dem damaligen Ideal eines kernigen deutschen Jungen perfekt entsprochen haben musste. Blond, groß, drahtig, durchtrainiert. In summa stattlich. Abgesehen natürlich von den beiden Ausrufezeichen auf den Innenseiten seiner Oberschenkel. Die er ihm zu verdanken hatte, ihm, dem kleinen Judenbengel.
Ja, diese nette ältere Dame war ein Ansatzpunkt. Wenn ihm bloß der Name einfallen würde. Vielleicht könnte ihm Lore auf die Sprünge helfen, womöglich einen Kontakt vermitteln? Ohne dass er zu viel von seinen Gründen für sein Interesse preisgeben müsste. Er scheute sich immer noch, selbst seinen Vertrauten und Freunden gegenüber von der unheilvollen Begegnung mit den Schatten der Vergangenheit zu erzählen. Vielleicht fürchtete er, seine Souveränität einzubüßen, seine durch weise Gelassenheit gekennzeichnete Position gegenüber der Geschichte, der deutschen ebenso wie jener seines Volkes, dem er spätestens seit dem Beschluss der »Nürnberger Rassengesetze« im September 1935 wohl doch anzugehören schien. Daher mied er seit ihrer Rückkehr auch längere Gespräche mit Kempowski ebenso wie mit Hakala-Holappa. Sowie eigentlich auch mit Lore Bradhering.
Nun hielt er dennoch suchend nach ihr Ausschau. Die Herrin des Kuhfußes hatte sich aber inzwischen bei Bernhard Gutzeit untergehakt und wandelte mit ihm über die Weiten des Friedhofes. Sicherlich wollte sie ihm, dem Experten für Sepulkralkultur, die Gräber ihrer eigentlichen Familie zeigen. Und womöglich sogar noch etwas länger mit ihrem neuen Favoriten zusammen sein. Was Zimmermann prinzipiell durchaus recht war und zupasskam.
Daher beschloss er, sich noch etwas in Geduld zu üben. Außerdem war ihm kalt. So beeilte er sich, Richard Sonntag einzuholen. Den einzigen Menschen, den er momentan um sich haben konnte. Weil Sonntag grundsätzlich keine Fragen stellte. Wenigstens keine persönlichen. Zudem stand ihm der Sinn nach wärmender Sitzheizung und einer kleinen Spritztour, an deren Zielpunkt ein heißer Grog wartete. Oder wenigstens ein Tee. Mit Rum.
Er entdeckte Sonntag in einer der vorderen Gräberreihen nahe des Eingangs. Dort war er vor einem noch recht frischen Grab stehengeblieben und unterhielt sich mit einem rundlichen, mittelalten Herrn in grüner Montur. Mutmaßlich der Friedhofsgärtner.
Zimmermanns Vermutung bestätigte sich, als er näherkam. Der Mann in Grün schimpfte wie ein Rohrspatz, wies aufgebracht und wiederholt auf ein merkwürdiges Gebilde, das mitten zwischen Kränzen, bereits angewelkten Blumensträußen und Gebinden lag. Beziehungsweise thronte. Denn es war anscheinend hochkant in das Erdreich gesteckt worden. Auffällig erschien ihm besonders, dass der nicht genauer zu erkennende Gegenstand mit rotweißem Trassierband umwickelt, verknotet war, das in mehreren Enden fast froh im Nieselwind flatterte.
»So ein Schiet! So eine Schande! Dabei ist der Wolfgang noch keine Woche unter der Erde. Seitdem finde ich jeden Morgen wieder so einen perversen Mist hier auf seinem Grab. Wenn ich den erwische, Richard, das kannste mir glauben, der kriegt so eine Abreibung von mir, dass er das in Zukunft sein lässt, diese Drecksau. Da kannste einen drauf lassen.«
Richard Sonntag nickte zustimmend. Fasste nach. »Da hast du recht, Conny, das sieht wirklich nicht schön aus. Aber um was für einen »perversen Mist« handelt es sich denn da genau?« Zimmermann hingegen hörte nur mit halbem Ohr zu.
»Na, um tote Viecher, Richard. Mal ein plattgefahrener Igel. Mal ein Flügel von ’ner Möwe. Mal ’ne gemangelte Kreuzotter. Solchen Krams eben. Eine vertrocknete Ratte war auch schon dabei. Und ein Kopf von einem Hirschkalb. Halb verwest. Mit Maden drin. Echt eklig. Allein die Augen. Obwohl ich ja ansonsten einiges abkann, so rein aus Berufsgründen. Aber dieser Wahnsinnige … Das geht überhaupt nicht. Schon gar nicht auf meinem Friedhof. Und alles in dieses Flatterband eingewickelt. Richtig fest verschnürt. Kreuz und quer verwurschtelt. Wie so eine olle Mumie. Der ist doch krank. Total krank. So einer gehört weggesperrt.«
»Sicherlich ein bedauerlicher Vorfall, ein schändlicher Frevel. Leider müssen wir jetzt weiter …« Zimmermann räusperte sich. Hoffte, dass Sonntag sein Signal verstanden hätte. Der jedoch war neugierig geworden. »Und was meinst du, was in diesem … nun ja, … Paket ist? Willst du’s nicht mal aufmachen?«
»Warum machst du das nicht selbst? Ich habe langsam die Schnauze voll von diesem Schiet. Hier!« Conny warf Sonntag zwei Arbeitshandschuhe zu. Eine große Gartenschere folgte. Gereicht. Sonntag ließ sich nicht zweimal bitten und bugsierte das mysteriöse Gebilde zunächst auf den Weg und machte sich sogleich ans Werk. Leise fluchend, da die Verschnürung wirklich sehr sorgfältig ausgeführt worden war. Sonntag fuhrwerkte wie ein Chirurg bei einer Notoperation, bis er endlich eine Öffnung eingeschnitten hatte. Aus der sogleich Fliegen ans düstere Tageslicht krabbelten. Frisch geschlüpft. Sich flugs die Flügelchen putzend, um in die Welt zu entfleuchen. Zimmermann schluckte ersten Ekel herunter.
Sonntag war jedoch jetzt in Rage gekommen. Zerrte. Schnippelte. Riss am Bandsalat. Und förderte schließlich einen Lauf hervor. Einen Hinterlauf. Rötlichgraue Haare. An denen diffuse angetrocknete Flüssigkeiten klebten. Sämig. Vermutlich Gedärm. Sowie eingesprenkelter Schottersplitter. Fast stolz hielt er das Stück Aas in die Höhe. Wedelte damit herum. »Na, wen haben wir denn da? Erkennst du ihn wieder, Zimmermann?«
»Ja, ich schätze, das …« Er bemühte sich, flach zu atmen. Wollte dem Freund nicht das fragwürdige Vergnügen verderben. Schluckte abermals. Säuerlichkeit hinunter.
»… gehört zu diesem Goldschakal, der uns im letzten Herbst schon einmal begegnet ist. Da zwischen Prerow und Wieck. Kurz hinter der Kurve. Du hast ja …«
»Zwischen Prerow und Wieck?« Conny fiel ihm ins Wort. »Komisch, dort ist auch der Wolfgang gestorben. Also der hier …« Er wies auf das frische Grab vor ihnen. »Am 12. Mai erst. Ist mit seinem Motorrad ins Schlingern geraten. Glatteis. In eben dieser beschissenen Ellenbogenkurve. Und dann über die Planke. Mitten innen Wald. Obwohl der die Strecke eigentlich in- und auswendig kannte. Außerdem war er ja auch noch Fahrlehrer. Jetzt isser trotzdem tot. Merkwürdige Geschichte. Zwischen Prerow und Wieck. Ob das irgendwie zusammenhängt?«