Читать книгу Ahrenshooper Spinnenweg - Tilman Thiemig - Страница 8
3. Rhodera hypogea
ОглавлениеD’Artagnan und die Musketiere. Diese Bezeichnung für das Altmännerquartett um Robert Aaron Zimmermann stammte von Richard Sonntag, der dem hochbetagten Anwalt aus Kanada nun seit über einem Jahr zur Seite stand. Eigentlich hatte Zimmermann den angegrauten Taxiunternehmer lediglich für die Dauer seiner Mission in Ahrenshoop als Chauffeur engagiert. Doch inzwischen war er zum vertrauten Gefährten geworden, der ihm nicht nur bei den turbulenten Ereignissen und tragischen Verwicklungen rund um die komplexe wie komplizierte Testamentsangelegenheit treue Dienste geleistet hatte, die Zimmermann vor gut 14 Monaten nach Deutschland geführt hatte. Er war ihm zum Freund geworden. Ans Herz gewachsen.
Das galt auch für Johannes Clauert und Bernhard Gutzeit. Der etwas wunderliche Pfarrer aus Wismar und der kauzige Bestatter a.D. aus Prerow waren Zimmermann im vergangenen Herbst »zugelaufen«, wie es Sonntag gerne schmunzelnd zu formulieren pflegte. Beide Herren weit über 80 und dennoch immer noch ein Stückchen jünger als Zimmermann, der die Gesellschaft dieser neuen Vertrauten überaus schätzte. Zumal er in jenen kalten wie beängstigenden Novemberwochen die tiefe Einsamkeit der beiden Männer gespürt, erkannt hatte. Der verwitwete Clauert lebte in seinem recht chaotisch anmutenden Haus inmitten von abertausenden Büchern, Gemälden, Mineralien, Präparaten und anderen Objekten seiner Sammelleidenschaft wie Hieronymus im Gehäuse. Weniger wohlwollende Zeitgenossen wie zum Beispiel die Mitarbeiter offizieller Behörden bezeichneten ihn zumeist als verwahrlosten Sonderling.
Gutzeit hingegen war von seinem Sohn, dem Juniorchef des gleichnamigen Bestattungshauses, diskret wie entschlossen aufs Altenteil abgeschoben worden. Aufs Abstellgleis in Form eines klitzekleinen Zimmers in einem Heim, das sich euphemistisch als Seniorenresidenz titulierte.
Angesichts dieser Situationen hatte sich Zimmermann entschlossen, den beiden Käuzen ein neues Nest zu bieten. Und zwar in der Pension Kuhfuß in Born, wo er selbst seit seiner Ankunft an der Ostsee logierte, sich mitunter gar zu Hause fühlte. Lore Bradhering, seine Wirtin, hatte zunächst schlucken müssen. Die Perspektive, dass ihr liebevoll eingerichtetes und geführtes Haus nun zum »Männerwohnheim und Obdachlosenasyl« würde, erschien ihr etwas suspekt, zumal Johannes Clauert ein starker Kettenraucher war. Allerdings hatte sie Gefallen an Herrn Gutzeit gefunden. Nicht so viel wie an Robert Zimmermann, das nicht. Doch immerhin reichte ihre Sympathie für den rüstigen Bestatter, um sich breitschlagen zu lassen und einzuwilligen.
Johannes Clauert hatte ebenfalls etwas zögerlich reagiert. So ganz und vollständig mochte er sich nicht von seiner Wismarer Wissenstrutzburg trennen. Zudem wusste er um Lore Bradherings Aversion gegenüber dem Rauchen an sich, seiner Sucht im speziellen. Dennoch war er in den letzten Monaten häufiger Gast im Kuhfuß gewesen und fühlte sich dort zunehmend wohl.
Bernhard Gutzeit hingegen war sofort Feuer und Flamme gewesen. Hatte Zimmermann umarmt und stand schon am nächsten Morgen mit Sack und Pack vor der Pensionstür. Wobei sein Besitz außer zwei bescheidenen Koffern nur noch aus einigen Kisten und Kartons bestand, die seine »Kunstwerke« beherbergten; die Früchte seiner Leidenschaft und künstlerischen Passion: Bernhard Gutzeit schnitzte Särge. Im Streichholzschachtelformat. Und das äußerst artifiziell. Mit Schnörkeln und Arabesken, Mustern und erhabenen Motiven auf der Oberseite. Das Holz dafür erhielt er von den Roloffs, deren Prerower Tischlerei für ihre schönen Darßer Türen bekannt war. Mit denen Gutzeits »Erdmöbel« wiederum eine gewisse Ähnlichkeit aufwiesen. Als Zimmermann die Arbeiten zuerst gesehen hatte, war ihm jedoch eher Queequeg eingefallen, der »gute Wilde« aus Hermann Melvilles ›Moby Dick‹.
Aber Bernhard Gutzeit schuf seine kleinen Särge nicht für die eigene letzte Reise. Nein, in ihnen barg er seine bösen Wünsche und schlechten Gedanken, die er insbesondere gegenüber seinem Sohn Bernd hegte. »Da drin sind die gut aufgehoben. Trocken und sicher. Und ich komm nicht auf dumme Ideen.« So hatte er es Zimmermann erklärt, dem diese kluge und weise Kompensationstechnik beeindruckte.
Als Zimmermann ihn und die anderen Freunde nun vorm Hotel Pod Rózami sitzend erblickte, hatte er auch wieder ein kleines Holzstück in Arbeit, dem er sich mit großem Geschick und kleinem Messerchen widmete. Clauert und Sonntag studierten hingegen die Speisekarte des Rosengartens.
»Was gibt es denn Feines? Haben sie hier Bigos?« Zimmermann klopfte schlapp auf die rotweiß karierte Tischdecke und nahm Platz. Das polnische Leibgericht hatte es ihm angetan und war seine Standardbestellung bei den diversen Besuchen der verschiedenen Gasthäuser und Restaurants auf ihren Streifzügen durch Polen geworden. Er würde es auch jetzt bestellen. Obgleich er nur wenig Appetit verspürte.
»Schau selbst, mein guter Zimmermann.« Johannes Clauert reichte ihm die Karte. Im Dunstkreis der Herren um Zimmermann galt es als ungeschriebenes Gesetz, sich zu duzen, jedoch mit Nachnamen anzusprechen. »Lies, wenn du es verstehst. Prüfe, wenn es gefällig ist«, fügte der Hirte im Ruhestand hinzu. Geheimnisvoll, doch augenzwinkernd. Lies, wenn du es verstehst. Prüfe, wenn es gefällig ist – dieser mysteriöse Sinnspruch aus der Heiligen-Geist-Kirche in Wismar hatte eine wichtige Rolle bei jenem mörderischen Rätsel gespielt, das es für Zimmermann und sein Team im letzten Jahr zu lösen gegolten hatte.
Doch das war Vergangenheit. Ebenso wie der Täter. Die letzten Monate waren voller Frieden und Freude gewesen. Sogar eine Hochzeit war gefeiert worden, der Partikel-Hof, das neue Museum am Ahrenshooper Schifferberg, nahm mehr und mehr Gestalt an und die Exkursionen der Musketiere hatten überwiegend touristischen Charakter, auch wenn es sich ihr D’Artagnan selbst bei der aktuellen Tour nicht verkneifen konnte, einen Abstecher nach Kraków zu machen. Die vage Hoffnung, dort irgendwo irgendeine weitere Spur von Antoni Libuda, Maler und Mörder, Fremdarbeiter und Fälscher aus Zielonki zu finden, ließ ihn immer noch nicht ganz los.
Der Vorschlag, das einstige Hirschberg und speziell den Stadtteil Bad Warmbrunn – heute Jelenia Góra und Cieplice Śląskie-Zdrój – zu besuchen, war von Richard Sonntag gekommen. Als Referenz gegenüber Hans-Emil Oberländer, einem weiteren Maler der zweiten Ahrenshooper Künstlergeneration und Ehemann von Doris Oberländer, die unter anderem die Ahrenshooper Kirche ausgestaltet hatte. Oberländer, kurz zuvor noch im Alter von 59 Jahren zum Kriegsdienst eingezogen, war Ende Dezember 1944 in einem schlesischen Lazarett in Warmbrunn verstorben und Sonntag empfand es angemessen, ihm durch ihren Besuch die Ehre zu erweisen.
Zimmermann hatte die Anregung begrüßt, zumal er auch mit dem Riesengebirge Kindheitserinnerungen verband. Schneekoppe und Mädelsteine. Märchenbauden und Rübezahl, der launische Berggeist, vor dem es ihm damals arg gegraust hatte. Dass ihm hier in Gestalt von Olaf Hegerdorp ein ganz anderes Gespenst aus der Vergangenheit begegnen würde, hatte er wahrlich nicht gedacht.
Er war sich noch unschlüssig, ob er seinen Freunden von seinen Beobachtungen erzählen sollte. Kurz überlegte er, Clauert um eine Sobieski zu bitten, die jener in Polen bevorzugt rauchte. Verwarf dies aber und griff stattdessen zum jüngsten Werk Gutzeits, das jener gerade vollendet und auf den Tisch gelegt hatte. Nachdenklich betrachtete er die filigrane Schnitzerei, strich über die Oberfläche, die eine Windmühle schmückte. Nickte Respekt.
»Das soll die aus Ahrenshoop sein. Die hat ja der Oberländer auch gemalt, wie Sonntag erzählte.« Gutzeit sonnte sich in der vermeintlichen Anerkennung, die Zimmermanns Blick für ihn ausdrückte. »Wie eine Tür«, bemerkte dieser. »Nur ohne Klinke«, fiel Clauert ein. »Die letzte Tür braucht keine Klinke. Und kein Schlüsselloch. Da möchte keiner durchlinsen.« Seine tiefsinnigen Ausführungen wurden von Zimmermanns Smartphone unterbrochen.
Zimmermann fand es überraschend schnell, meldete sich knapp und angespannt. Lauschte. Verfinsterte seine Miene. Antwortete kurz angebunden. »Ja.« – – – »Gut, beziehungsweise nicht gut.« – – – »Verstanden. Ja. Wir werden es versuchen.« – – – »Doch, sicher. Und wenn es nur wegen der guten Lore ist.« – – – »Ja, tschüss. Bis bald.« Dann kappte er die Verbindung. Steckte das Gerät in die Innentasche seines Leinenjacketts. Sah noch faltenreicher aus als jenes edle Gewand. Wandte sich schließlich an die Ritter seiner Tafelrunde. »Das war Hakala-Holappa. Hans von Wustrow ist tot.«