Читать книгу Ahrenshooper Spinnenweg - Tilman Thiemig - Страница 15

10. Araneus stella

Оглавление

Eine gute halbe Stunde später näherten sich Kempowski und Elisabeth Müller-Paul dem Friedhof der Peter-Pauls-Kirche. Zimmermann hatte darauf verzichtet, sie nach Zingst zu begleiten. Mit neuen Leichen wollte er so wenig wie möglich zu tun haben. Ihm reichte die Leiche im Keller seiner Erinnerung. Stattdessen hatte er angeboten, dass Sonntag und er in Ahrenshoop aufräumen würden, die Spuren des Sorbets entsorgen und auch Klarschiff auf der Terrasse machen.

So waren die Bibliothekarin und ihr Mann unverzüglich aufgebrochen, um sich selbst vor Ort ein Bild zu machen. Der Anruf von Herrn Arlt hatte Elisabeth zutiefst erschüttert. Nicht nur, dass es sie empörte, die Grabstelle der von ihr so geschätzten Heimatdichterin dergestalt entweiht zu wissen. Ihr lagen auch die Arlts am Herzen, die sich als geistige Nachlassverwalter mit Leidenschaft und Liebe um das Werk Müller-Grählerts kümmerten.

»Mist. Pass doch auf, du Hornochse!« Kempowski fluchte. Hupte. Sehnte sich nach einer Zigarette. Wandte sich dann an sein geliebtes Elseken. »Nur Idioten unterwegs. Und kein Parkplatz in Sicht. Ein Auftrieb hier wie beim Hafenfest.« Er hatte recht. Die ohnehin engen Straßen des Seebades waren mit Autos verstopft, die sich alle im Schritttempo scheinbar nur einem Ziel zu nähern schienen – dem Friedhof. Hinzu kamen die obligaten Schwärme von Radfahrern sowie jede Menge Fußgänger. Die Nachricht vom Leichenfund auf dem Grab der Poetin hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen und Touristen wie Eingeborene mobilisiert. Allerdings hatte die Polizei das Areal der Begierde weiträumig abgesperrt und etliche Uniformierte eingesetzt, um den Massen der Schaulustigen Einhalt zu gebieten.

Das erkannte auch Kempowski, der zudem Sorge um seinen Wagen hatte – einen wunderschönen Wartburg in Cabrioausführung und Zweifarbenlack. »Weißt du was? Bevor mir hier noch einer eine Schramme oder Beule verpasst, schlage ich vor, du rufst deinen Herrn Arlt an, wir holen ihn an seinem Standort ab und suchen uns ein etwas friedlicheres Plätzchen, wo er uns alles in aller Ruhe erzählen kann. Am besten, du zwängelst dich schon mal nach hinten auf die Rückbank.«

»Ich muss mich nicht zwängeln, mein lieber Kemp.« Elisabeth klang beleidigt. Betonte das »Ich« mit Nachdruck. Nutzte dann jedoch einen weiteren Augenblick des Stoppens, um flink die Sitzposition zu wechseln. »Aber dein Vorschlag ist gut. Halt, da vorne steht er ja schon. Huhu, hallo, Herr Arlt, hier sind wir!«

Der so angerufene ältere Herr wirkte zunächst etwas verwirrt. Schaute sich suchend um und erkannte dann doch Elisabeth Müller-Paul. Zögerlichen Schrittes näherte er sich dem noch immer stehenden Wartburg und kletterte ins Wageninnere.

»Vielen lieben Dank, Frau Müller-Paul, dass Sie gleich gekommen sind. Auch an Sie, Herr Kempowski. Das ist ja alles so fürchterlich schrecklich, wissen Sie …«

»Entschuldigen Sie bitte, aber wenn Sie sich noch ein bisschen gedulden möchten. Ich muss mich hier höllisch konzentrieren, damit es keine weiteren Toten gibt.« Kempowski hatte zu einem waghalsigen Wendemanöver angesetzt. Steuerte unter abermaligem Fluchen und Hupen sein Gefährt in entgegengesetzte Richtung. Fort von Friedhof und Unruheherd.

Nach einigen weiteren Kehren und Haken lichtete sich das Gewusel. Und vorm hübschen Café Rosengarten in der Strandstraße warteten dann tatsächlich ein freier Parkplatz sowie ein ebensolcher Tisch mit drei Stühlen auf sie. Was außergewöhnlich war. Doch der Brennpunkt des allgemeinen Interesses lag nun aktuell anderenorts. Wenige Minuten später saßen sie. Bereits mit der ersten Bestellung versorgt. Drei stillen Wassern. Das Beste bei so viel Tumult.

»So, nun lieber Herr Arlt, erzählen Sie doch bitte ganz in Ruhe, was genau passiert ist. Möchten Sie nicht doch einen Espresso, vielleicht einen Irish Coffee, ein Stückchen Kuchen? Sie sehen blass aus. Brauchen Sie etwas Süßes? Wegen der Unterzuckerung?« Elisabeth reichte ihm die Karte. Schaute ihn besorgt an.

»Nein danke, mir ist jeder Appetit vergangen.« Arlt nippte an seinem Wasser. »Aber, das werden Sie gleich verstehen. Also, die Martha, nicht unsere, nein, die Martha Ahlfänger, eine Schulfreundin von meiner Gattin, hat schon allein aufgrund des Vornamens eine besonders innige Beziehung zum »lütten Sparling«, wie wir die Dichterin gerne unter uns nennen. Lütten Sparling, so hat sie sich ja auch selbst bezeichnet, bescheiden wir sie war, die Gute. Aber, zurück. Die Martha kümmert sich daher seit Jahren, Jahrzehnten liebevoll um die Grabstätte, pflanzt, gießt, schneidet alte Blüten ab, harkt die Wege. Ist auch wirklich immer tadellos in Schuss.« Er nahm einen weiteren Schluck.

»Das macht sie meistens immer schon in aller Frühe. Aller Herrgottsfrühe, der Friedhof wird ja nicht abgeschlossen und die Martha kann nicht mehr so gut und lange schlafen. Und gerade so zu dieser Jahreszeit ist das ein herrlicher Ort. Oft nimmt sie auch noch ein Büchlein mit, liest dem »lütten Sparling« etwas vor …«

»Sicherlich sehr idyllisch, doch … Stört es Sie, wenn ich rauche?« Kempowski hatte sich eigentlich zurückhalten wollen. Aus Rücksicht auf den arg angeschlagenen Herren. Doch dessen Weitschweifigkeit ließ ihm keine andere Wahl. Er griff zu Etui und Feuerzeug.

»So, nur zu, nur zu. Haben Sie vielleicht auch eine für mich? Habe zwar vor über dreißig Jahren aufgehört, aber …« Mit etwas zittrigen Fingern nahm er die angebotene Zigarette, benötigte drei Versuche, bis sie brannte, inhalierte ungeübt, musste hüsteln.

»Danke sehr. Wo war ich stehengeblieben? Genau, bei Martha. Heute am frühen Morgen. Schon als sie durch die kleine Tür schritt, spürte sie, dass etwas nicht stimmt. Allerdings sieht sie nicht mehr so gut. Konnte daher zunächst nur erahnen, dass da etwas auf der Grabstelle steht. Irgendetwas Großes, Weißes, nicht der normale Müll, der da doch mal so landet wie alte Papiertaschentücher, Getränkedosen und so. Als sie dann nähergekommen war, dachte sie zunächst an einen Scherz von Kindern oder Jugendlichen. Wissen Sie, wie bei diesem Halloween-Unfug, da werden ja manchmal Gartenpforten, Laternen, sogar Autos mit Klopapier eingewickelt. Dann jedoch, ein paar Schritte weiter, hätte sie beinahe der Schlag getroffen. Doch, sehen Sie selbst. Denn Martha hat wirklich Courage bewiesen. Und Fotos gemacht. Mit ihrem Smartphone. Hat erst vor Kurzem so einen Kurs gemacht. Im Max Hünten Haus. Wurde ihr von ihrem Enkel spendiert.«

Herr Arlt nestelte nun sein eigenes Gerät hervor. Wischelte mit Zitterfingern über die Oberfläche. Die gewünschten Aufnahmen erschienen. Die verwünschten.

»Schauen Sie! Ist das nicht entsetzlich? Hat sie mir gleich geschickt. Noch bevor sie die Polizei angerufen hat.« Müller-Paul und Kempowski schauten wie gebannt auf das Display. Folgten dem Weg der Bilder. Was sie preisgaben, war wirklich entsetzlich. Entsetzlich wie grotesk. Mitten auf dem Grab, inmitten eines kleinen Rondells von platt getrampelten Stiefmütterchen in Blassblau und Schwarzgelb saß eine Person auf einem Rollator. Eigentlich und abgesehen vom Standort kein unüblicher Anblick. Gerade auf Friedhöfen.

Eigentlich, denn dieser Ruhende ruhte sich für alle Ewigkeiten aus. Und war zudem nahezu vollkommen eingehüllt. In Verbandsstoff. Es mussten etliche Meter Mullbinde sein, mit dem der Tote eingewickelt worden war. Kopf, Körper, alle Gliedmaßen eingeschlossen. Mumiengleich. Arme und Beine am Rollator fixiert. Im Bereich der Augen zeichneten sich zwei Flecken ab. Rote. Dunkelrote. Und um den Hals eine Schlinge aus gleichem Material, deren anderes Ende um das schöne Kreuz im Hintergrund geknotet war. Kurz unter den Zeilen Hier ist mine Heimat, hier bün ick tu Hus. Ein paar Bänder hatten sich gelöst. In einem Ginsterstrauch verfangen. Marthas geliebter gäler Ginster.

»Makaber. Auch noch eine?« Kempowski fand nur langsam die Sprache wieder. Zumal ihm schon beim Anblick der ersten Fotos ein Gedanke gekommen war. Den er aber fortwischen wollte. Wegpusten. Mit dem Rauch einer weiteren Zigarette.

Auch die ansonsten so redselige und wortreiche Literaturfreundin fand nur langsam aus der Sprachlosigkeit zurück. »Unglaublich, einfach unglaublich. Weiß man schon, wer der Unglückliche ist? Dürfte ja ein Mann sein, auch wenn man das Gesicht nicht sieht.«

»Ja, das ist, das war der Dr. Eibesfeld. Dr. Hanno Eibesfeld. Ein ehemaliger Arzt. Aber schon lange im Ruhestand. Hat hier um die Ecke gewohnt. Rosenberg. Rosenberg 1. Sehr schönes Haus. Ein unglaublich sympathischer Herr. Älter schon, so Mitte achtzig. Aber noch sehr rüstig. Ist, war auch ein großer Freund von unsrem »lütten Sparling«. Tragisch ist das. Unfassbar. Kann ich noch eine haben?« Arlt schien das Defizit aus dreißig Jahren Nichtrauchersein an einem Nachmittag kompensieren zu wollen. Gewann zunehmend Routine. Zog kräftig.

»War fast immer bei unseren Lesungen und Vorträgen dabei, hier im Museumshof wie bei uns in Barth. Außerdem hat er unsere Arbeit unterstützt. Finanziell. War immer sehr großzügig. Ein herber Verlust. Als Mensch wie als Mäzen …« Ein tiefer Seufzer begleitete einen weiteren Rauchkringel.

»Haben Sie vielleicht eine Ahnung, wer das gemacht hat?« Ein Raucherwölkchen von Kempowski gesellte sich zu dem des Müller-Grählert-Enthusiasten.

»Das haben mich die Beamten von der Kripo auch gefragt. Haben mich stundenlang gepiesackt. Bloß weil ich natürlich nach Marthas Anruf rübergekommen bin. Schließlich fühle ich mich ja auch verantwortlich für das hier, in gewisser Weise. Aber, ich habe keine Ahnung. Familie hatte der Hanno nicht mehr. Zumindest hat er darüber nie gesprochen. Gekümmert hat sich um ihn seine Zugehfrau. Eine sehr nette junge Dame aus Polen. Doch da war nichts anderes im Spiel, also über Einkaufen, Saubermachen, Wäsche waschen, Bügeln und so hinaus. Obwohl das die Polizisten natürlich bezweifeln. Aber die haben sogar allen Ernstes die Überlegung in den Raum gestellt, dass sich dieser Leichenfund möglicherweise »positiv« auf das Interesse an unserer Martha auswirken wird. Was ja durchaus in meinem Interesse als Verleger ihres Werkes sein könnte. Eine Unverschämtheit, solch eine infame Unterstellung. Ich behalte mir vor, das nicht auf sich beruhen zu lassen.«

»Handelt es sich bei den Beamten vielleicht um ein Vater und Sohn-Team namens Meinhard? Rico und Leon Meinhard?«

»Richtig, Herr Kempowski, genau. Die Meinhards. Unmögliche Leute. Woher wissen Sie das? Kennen Sie die beiden?«

»Kennen ist zu viel gesagt. Aber, ich habe so meine Erfahrungen mit ihnen machen dürfen. Müssen. Die verdächtigen gern auf blauen Dunst hinaus. Machen Sie sich bloß keine Sorgen. Obwohl, ich glaube nicht, dass der arme Doktor zufällig auf dem Grab der armen Dichterin drapiert wurde. Haben die Meinhards irgendeine Bemerkung fallen lassen, ob der Fundort auch der Tatort ist? Das machen die nämlich auch gerne, sich vorschnell verplappern und interne Informationen an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen.«

»Stimmt, da war was. Während ich mit dem Junior im Bus saß und der mir Löcher in den Bauch fragte; hatte natürlich überhaupt keine Ahnung, wer Martha Müller-Grählert war, dieser Kulturbanause, hat der Senior draußen mit einem recht dicken Mann in so einem weißen Anzug gesprochen. Bei offener Wagentür. So konnte ich aufschnappen, dass Hanno schon länger tot war, als er …« Arlt suchte nach Worten. Fand keine passenden. Fuhr mit kleiner Pause fort.

»… und höchstwahrscheinlich am frühen Abend getötet wurde. Erdrosselt. Und dann haben sie ihm auch noch die Augen ausgestochen.«

»Wie bei Majakowski. Und diesem Wittenborn. Damals, im Dornenhaus. Damals, vor einem guten Jahr. Kemp, mir ist unheimlich.« Elisabeth Müller-Paul fand ins Gespräch zurück. Griff nach Kempowskis Arm. Krallte sich beinahe hinein. »Geht das schon wieder los?«

Darauf wusste er keine Antwort. Er drehte sich um. Fühlte sich auf unangenehme Weise beobachtet. Konnte aber niemanden entdecken, der ihn fixierte. Stattdessen erblickte er drei neue Gäste, die sich den Weg durch die gerade erst erblühenden Rosensträucher des Gartens bahnten. Zarte Knospen harrten ihrer Entfaltung. Ihre eigene Blüte lag hingegen schon länger zurück. Die älteste der Damen machte auf halber Strecke einen Zwischenstopp. Musste kurz verschnaufen. Setzte sich umständlich wie vorsichtig auf die kleine Sitzfläche ihres Rollators. Eine kleine Gänsehaut eroberte Kempowskis Unterarme.

Ahrenshooper Spinnenweg

Подняться наверх