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9. Gnaphosa taurica

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Kempowski blickte in die glühende Holzkohle. Gedankenvoll. Es ging ihm so manches durch den Kopf. Da kam ihm eine Runde meditatives Grillen auf der Terrasse durchaus zupass. Auch wenn er eigentlich alles andere als ein Barbecue-King war und sich nicht mit Hakala-Holappa messen konnte, der ein wahrer Meister mit Zange am Rost war. Und so ein Monstergrill wie dessen Bredow würde ihm auch nicht ins Haus kommen. Wobei die hübsche Villa am Ahrenshooper Weg zum Hohen Ufer zugegebenermaßen eigentlich Elisabeth gehörte. Was ihm auch recht war, obwohl sie ja nun bereits seit gut fünf Monaten verheiratet waren.

Doch diese uralte Konstruktion aus Ziegelsteinen und Metallgestängen, die noch aus den Tagen ihrer Großtante Elfriede Paul stammte, hatte er wieder fit gemacht. Eigenhändig.

Es zischte. Fett spritzte auf. Und holte Kempowski in die Gegenwart zurück. Die Schweinemedaillons wollten gewendet werden. Außerdem musste er sich um den ausgelösten Rehrücken kümmern. Sowie um die Spieße mit Garnelen und Lachs. Es würde köstlich werden und seiner Ansicht nach perfekt zum Spargel passen, um den sich Elisabeth in der Küche kümmerte. Zimmermann und Sonntag würde es munden. Da konnte Lore Bradhering sagen, was sie wollte. Die wiederum seine Einladung kopfschüttelnd abgelehnt hatte. »Komm mir nicht mit so einem Schnickschnack. Spargel mit Grillfleisch. Das ist doch barbarisch. Zu Spargel gehören nur Salzkartoffeln und braune Butter. Höchstens noch eine Scheibe Schinken. Alles andere ist überflüssig. Nee, esst man euren neumodischen Krams alleine. Und am nächsten Sonntag kommt ihr beiden zu mir. Dann zeige ich euch mal, wie man das richtig macht.«

Richtig beleidigt hatte sie geklungen. Das Telefonat abrupt beendet. Als ob sie seine Experimentierfreude als persönlichen Angriff empfinden würde. Merkwürdig. Kempowski erschien es, als ob allesamt in der letzten Zeit dünnhäutiger geworden wären. Empfindlicher, gereizter. Das galt für Lore ebenso wie für das Team vom Partikel-Hof, wo die Spannungen zwischen Johanna Riese und Ann-Kathrin Seegers von Tag zu Tag mehr die Stimmung beeinträchtigten. Hakala-Holappa war auch nicht viel besser mit seiner geradezu manischen Besessenheit, mit der er das Schweigen Hans von Wustrows brechen wollte. Doch das hatte sich ja nun erledigt …

Dann noch Zimmermann und seine grüblerische Art. Aber er selbst konnte, musste sich ebenfalls an die eigene Nase fassen. Seitdem er wusste, dass er einen Halbbruder hatte, war er auch zumeist mit seinen Gedanken ganz woanders. Schließlich ging es ja nicht nur um einen Seitensprung seiner Mutter vor vielen Jahren, von dem sie ihm nie etwas erzählt hatte. Das war nicht das Problem. Aber zu wissen, durch Untersuchungen belegt, dass man mit einem Serienmörder verwandt ist, ihm zudem sogar äußerlich ähnelt, das beschäftigte ihn schon sehr. Was wäre, wenn ihn dann womöglich mehr mit dem Mann aus Müggenburg verbinden würde als nur die äußere Ähnlichkeit? Erst in der letzten Nacht hatte ihn diese Ungewissheit in schweißnasse Träume getrieben. Die frisch gewaschene Bettwäsche auf der Leine unterm Lindenbaum zeugte davon. Auch wenn sie scheinbar fröhlich im linden Maienwind flatterte. Erfreut beobachtet von Akeleien, Pfingstrosen, ersten Klatschmohnblüten. Ein friedliches Bild. Scheinbar. Doch trügerisches Postkartengartenidyll.

Denn hinzu kam, dass er Elisabeth noch nichts davon erzählt hatte. Aussprachen über Probleme waren nun mal nicht seine Art. Allerdings führte dies wiederum dazu, dass sein geliebtes Elseken ihm vermehrt zusetzte, seine Schweißattacken auf sein Rauchen zurückführte, seine Vorliebe für große Weine und kleine Brände. Was seine Seelennot weiter verschlimmerte.

»Kemp, wie sieht es aus, Robert hat gerade angerufen, sie werden in gut zehn Minuten da sein.«

Schon stand sie auf der Terrasse, richtete mit geschickten Griffen die Jasminblüten in kleinen Silbervasen, das gute Besteck in gleichem Material, die kunstvoll gefalteten weißen Servietten auf feinstem Tischtuch. Tauben, Schwäne und ein Pfau; Elisabeth Müller-Paul wusste um die Affinität Zimmermanns zur Vogelwelt.

»Wunderbar, mein Elseken, ich denke, in gut zwanzig Minuten wäre ich soweit. Dann passt das doch bestens und wir haben noch Zeit für einen Hugo.«

»Aber halt dich bitte zurück, ja, mein geliebter Kemp. Denk an die vergangene Nacht!« Sie versuchte neckisch mit dem Zeigefinger zu drohen. Ihr Blick zur tanzenden Wäsche sprach eine andere Sprache. Glücklicherweise verhinderte die schellende Türklingel weitere Reglementierungen. Sie enteilte.

Kehrte wenige Augenblicke später mit Zimmermann und Sonntag im Gefolge zurück. »Schau mal, mein Lieber, was die beiden Herren mitgebracht haben!«

Sie schwenkte einen riesigen Blumenstrauß vor ihrem Gesicht. »Lisianthus und Levkojen. Was für eine Pracht! Vielen …« »Besser als Jauche und Levkojen.« Zimmermann fiel ihr ins Wort und schmunzelte. Er wusste um die Freude der Bibliothekarin an literarischen Anspielungen und Verweisen. »Apropos Landidyllen. Die Herren Bernhard und Johannes lassen sich nochmals wie vielfach entschuldigen. Sie müssen zur Probe. Seitdem ihre Liebe zur Bühne erwacht ist, gibt es für die beiden nur noch eine Muse. Rund um die Uhr nahezu. Und gegen Thalias Charme sind selbst Sie machtlos, verehrte Elisabeth.«

Bernhard Gutzeit und Johannes Clauert waren tatsächlich erst vor wenigen Tagen als neue Sterne am Bühnenhimmel der Darß-Festspiele entdeckt worden. Im Borner Hafenbistro. Dort hatte Hermann Hutsch, der Intendant der Freilichtbühne, beobachtet, wie sie bei Fischbrötchen und Doppelkümmel saßen und ihre Scherze über gierige Möwen wie ungeduldige Touristen machten. Hutsch hatte auf den ersten Blick erkannt, was für komische Talente in ihnen schlummerten und sie vom Fleck weg für seine neue Inszenierung der ›Heiden von Kummerow‹ engagiert. Den pensionierten Pastor als Nachtwächter Bärensprung, einen etwas verlotterten Veteran, der nun im Armenhaus lebt. Für den Bestatter a.D. hatte Hutsch sogar eine neue Rollenidee kreiert: den tollpatschigen Totengräber Otto Diestelbruch. In beiden Fällen eine Traumbesetzung.

»Ja, das finde ich ja köstlich, dass die beiden Käuze noch einmal als Schauspieler reüssieren dürfen. Und dann noch mit Ehm Welk. Wie schön!« Müller-Paul wuselte hin und her. Derweilen sie sich weiter mit ihrem Besuch unterhielt. Suchte und fand schließlich ein passendes Gefäß fürs Bouquet im Fischlanddesign. Das natürlich hervorragend mit dem aufgedeckten Geschirr korrespondierte. Löbers typische Libellen aus dem Dornenhaus schwirrten mit Levkojen und Lisianthus einem besonderen Gaumengenuss unter freiem Himmel entgegen. Während die Hausherrin weiter schnatterte. Kempowski konzentrierte sich hingegen schweigend und verbissen auf das Finale seiner Grillperformance. Richard Sonntag assistierte ihm dabei. Sah in stiller Vorfreude dem verheißungsvollen Mahl entgegen.

Elisabeth Müller-Paul hatte derweilen mehrere Schüsseln mit Spargel sowie Saucieren aufgetischt. Sonntag ließ seinen Blick über die Speiselandschaft wandern. Suchend. Die Gastgeberin nahm ihn auf. Kam seiner Frage zuvor. »Auf Kartoffeln werden Sie verzichten müssen, mein lieber Herr Richard. Low-Carb heißt die Devise. Damit wir alle bald wieder eine Bella Figura für den Strand haben.« Ihr »alle« galt jedoch vornehmlich Kempowski, dessen Leibesmitte seine Gattin bei ihren Worten Missbilligung geschenkt hatte.

»Nun darf ich Sie aber zu Tisch bitten, meine Herren. Und zugleich um noch einen klitzekleinen Augenblick für …«

Zimmermann ahnte, was nun kam. So gut kannte er die Bibliothekarin und Büchernärrin, dass ihm klar war, dass sie es nicht bei einem einfachen »Guten Appetit!« bewenden lassen konnte.

Mindestens ein Zitat oder einige poetische Zeilen als Vorspeise mussten es sein. Er sollte recht behalten.

»… für ein, zwei Verse meiner verehrten Martha Müller-Grählert:

›Mailied

Maientied, güldne Tied,

Endlich werret ist’s sowiet!

Blaumenbläder fallen sacht,

Sünnenschien, de blänkt un lacht,

Un min Seel, so wintermeud,

De juchzt vör Freud!‹«

Sie machte eine kurze Pause. Bedeutungsvoll. Setzte dann fort.

»›Maientied, gülden Tied,

Ach, so rasch büst du avsiet!

Nächstes Johr, dat kann woll sin,

Dat ick hier denn nich mihr bün,

Blumenbläder fallen av

Denn up min Grav!‹

Schön, nicht wahr? Aber was schaut ihr denn so bedröppelt? Martha war nun einmal auch eine Freundin der melancholischen Töne. Ließ nicht nur die Ostseewellen munter an den Strand trecken, sondern auch den Herbst, den Tod, die Vergänglichkeit zu Worte kommen. Doch, ich habe auch noch etwas Heiteres auf Lager. Ohren auf:

›Asparagus

Wenn im Mai bläst Pan die Flöte,

Weil es Wonnemonat ist,

Schießt der Spargel auf vom Beete,

Das gedüngt mit Pferdemist.

Morgens kommen weiße Köpfe

Aus der grauen Erd’ heraus.

Mittags schleicht schon aus Töpfen

Wundersamer Duft ums Haus.

Ach, welch eine schöne Gabe

Hast Du, Herr uns da bestellt!

Wenn ich einen Spargel habe,

Habe ich die ganze Welt.‹

Julie Schrader, der ›Welfische Schwan‹. Allerdings ist ja ihre Autorinnenschaft inzwischen sehr umstritten. Auch so eine Geschichte. War eine ganz einfache Frau aus dem Hannöverschen. Hat als Magd, Hausdame gearbeitet. Und ist ins Wasser gegangen. Am 17. November 1939. Einen Tag später ist dann Martha Müller-Grählert gestorben. Ist das nicht sonderbar? Wie so alles zusammenhängt … Doch …«

Die drei Männer wurden langsam ungeduldig. Konnten den einladenden Aromen kaum noch widerstehen. So erlöste sie die Gastgeberin. Endlich.

»Laat jo nich lang nödigen!«

Das ließen sich die drei Hungerherren wahrlich nicht. Sie legten los. Füllten Teller. Leerten sie. Genossen Wein, Grillgut und die subterranen Leckerstangen. Still. Schweigend. Dezent schmatzend.

Derweilen Elisabeth Müller-Paul weiter plapperte. Natürlich von ihrem Lieblingsthema. Der Bücherwelt. Lobpreiste so wortreich die neue Entdeckung für das Literaturprogramm des Partikel-Hofes: Hans Jürgen von der Wense, eine schillernde wie originelle Universalgelehrtenpersönlichkeit, der zum Freundeskreis der Wustrower Künstlerin Hedwig Woermann gehört hatte. In den Zwanzigerjahren war er oftmals auf dem Fischland, durchwanderte die Halbinsel, bevorzugt in den Wintermonaten, und arbeitete eine Zeitlang vor Ort, wo ihm Woermann und ihr Künstlergatte Johann Jaenichen in der alten Fischräucherei in Barnstorf Arbeitszimmer und Unterschlupf eingerichtet hatten.

Müller-Paul war vollkommen fasziniert von diesem Paradiesvogel, der zeitlebens keinem offiziellen Beruf nachgegangen war, dafür aber als Komponist, Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftler und Übersetzer höchst exotischer Sprachen einen ganz eigenen Kosmos geschaffen hatte. Sie bezeichnete ihn als »Mystagogen«, als Priester geheimnisvoller Mysterienkulte. Gerhard Schiffers würde von der Wense zum Eröffnungsspektakel des neuen Museums einen Vortrag widmen und ihn in den folgenden Wochen in mehreren Lesungen vorstellen.

Kempowski kam nicht umhin, Elisabeths Begeisterung mit etwas gemischten Gefühlen zu registrieren. Schließlich waren sie und der Buchhändler lange Jahre ein Paar gewesen. Er zog es dennoch vor, auf bissige Kommentare zu verzichten, die ihm auf der Zunge lagen. Schiffers doch etwas unstetes Liebesleben lieferte dafür ja genug Stoff.

Stattdessen ließ er sich das letzte Spargelköpfchen auf der Zunge zergehen und hüllte sich in Schweigen wie freudige Erwartung des Desserts. Ein leichtes Erdbeer-Sorbet.

Elisabeth holte es gerade aus der Küche, als das Telefon klingelte. Festanschluss. Dennoch mit Marthas Lied von den Ostseewellen als Fanfare. Sie balancierte das Tablett mit den vorgekühlten Schälchen in der einen Hand. Nahm mit der anderen den Hörer ab. Meldete sich flötend. »Elisabeth Müller-Paul. Einen wunderschönen Maientag.« Wenige Momente später nur knallte der Nachtisch aufs Korridorparkett. Scherben klirrten. Erdbeereiskristalle kullerten über den Boden. Und Elisabeths Erschrecken bahnte sich den Weg zur Tafelrunde. Lauthals. »Was? Oh Gott, das darf doch nicht wahr sein! Eine Leiche? In Zingst? Auf dem Friedhof? Mitten auf dem Grab von Martha Müller-Grählert?«

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