Читать книгу Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit - Tilman Wetterling - Страница 10
Fallvignette 2 (Co-Alkoholismus, abhängige Persönlichkeit, psychosoziale Probleme):
ОглавлениеDie 39-jährige Frau V. wurde nachts gegen 2 Uhr erstmals in einer psychiatrischen Klinik aufgenommen. In der Notaufnahme hatte sie unter ständigem Schluchzen angegeben, ihr alkoholkranker Lebenspartner habe sie wiederholt geschlagen, besonders heftig an diesem Abend. Bei der körperlichen Untersuchung fiel der Aufnahmeärztin multiple Hämatome, Schürfwunden und eine Platzwunde am Kopf auf. Als die Ärztin diese durch Fotoaufnahmen dokumentieren wollte, lehnte Frau V. dies vehement ab und behauptete, sie sei leicht alkoholisiert gestolpert und die Treppe heruntergefallen. Dabei habe sie sich die Prellungen zugezogen. Die Ärztin stellte eine leichte Alkoholfahne fest und bat Frau V. um eine Atemalkoholbestimmung. Das Messgerät zeigte 2,4 ‰ an. Als Frau V. dies hörte, fing sie laut an zu schreien: »Ich will nur, dass ihr alle mich in Ruhe lasst. Wenn ihr mich nicht in Ruhe lasst, bringe ich mich um!«
Sie ging nach ein paar Minuten auf den Vorschlag der Aufnahmeärztin ein, sich zumindest für eine Nacht in der psychiatrischen Klinik aufnehmen zu lassen. Auf der Station beruhige sich Frau V. so weit, dass sie bald einschlief. Bei der Visite durch den Stationsarzt am nächsten Morgen verneinte Frau V. regelmäßigen Alkoholkonsum. Nur ihr Partner sei Alkoholiker. Sie wolle sich von ihm trennen und bitte daher um ein Gespräch mit der Sozialarbeiterin. Nach diesem Gespräch erlitt Frau V. plötzlich einen generalisierten Krampfanfall.
Bei der darauffolgenden eingehenden körperlichen Untersuchung wurde in der Computertomografie eine leichte Atrophie des Großhirns und auch des Kleinhirns festgestellt. In den Laboruntersuchungen waren die Leberenzyme, v. a. aber auch das MCV mit 103 fl erhöht. Der Stationsarzt interpretierte diese Werte als Hinweis auf eine Alkoholabhängigkeit. In einem längeren Gespräch versuchte er, Frau V. von einer längeren Krankenhausbehandlung zu überzeugen. Am Ende gab Frau V. an, sie wolle sich dies noch überlegen. Eine Stunde später erschien ihr Partner mit einem Blumenstrauß auf Station. Frau V. verließ kurz darauf die Station, ohne sich zu verabschieden.
Etwa zwei Jahre später wurde Frau V. von einem Sozialarbeiter in der psychiatrischen Klinik vorgestellt. Er hatte sie unter einer Brücke schlafend in stark alkoholisiertem und verwahrlostem Zustand aufgefunden. Frau V. war bei Aufnahme deutlich unterkühlt und kaum in der Lage, ein geordnetes Gespräch zu führen. Sie wurde umgehend stationär aufgenommen. Dem Stationsarzt gelang es zunächst nicht, sie eingehend zu explorieren. Wenn männliche Pfleger ins Zimmer kamen, reagierte sie sehr schreckhaft und ablehnend. In einem längeren Gespräch mit der Oberärztin erzählte sie, dass sie nach dem letzten Klinikaufenthalt wieder zu ihrem alten Partner zurückgekehrt war. »Er hat auch seine guten Seiten«. Nach kurzer Zeit habe er wieder angefangen, sich an ihr zu vergehen. Um dies ertragen zu können, habe sie begonnen, immer mehr hochprozentigere Alkoholika zu trinken. Sie habe dann ihre Arbeit nicht mehr geschafft und sei gekündigt worden. Danach habe sie nur noch zuhause rumgesessen und gesoffen. Eines Tages sei ihr Partner in betrunkenem Zustand eine Treppe heruntergefallen und kurze Zeit danach an den Folgen eines Schädelbasisbruches gestorben.
Sie habe danach allein versucht, vom Alkohol wegzukommen. Sie habe es aber nicht geschafft. Dann habe sie ihre Wohnung wegen Mietschulden verloren und sei schließlich auf der Straße gelandet. Jetzt wisse sie überhaupt nicht mehr weiter und würde jede Hilfe dankbar annehmen.