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Prolog

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Frankfurt am Main, Januar 1945

Nach zwölf Jahren war das tausendjährige Reich am Ende. Aber er war es nicht. Wilhelm Bornwart hatte keineswegs die Absicht, dem Führer in den Untergang zu folgen. Er packte zusammen, was er tragen konnte. Den Butler hatte er nie ersetzt, die anderen Dienstboten hatten sich in den letzten Wochen davongemacht. Treuloses Gesindel. Er musste selbst Hand anlegen.

Die Beschwerden seiner Zwangsarbeiter hatten Bornwart nie gekümmert. Von seinen Eltern hatte er neben dem Vermögen auch das sichere Gespür für Prioritäten geerbt. Nur so hatte er das Familienimperium ausbauen und die Verbindungen knüpfen können, die ihm jetzt helfen würden. Seine guten Freunde – sie alle konnte er motivieren mit den Informationen, die er gerade zusammenstellte. Bornwart schmunzelte. Bis vor Kurzem hatten die Amerikaner an eine deutsche Bombe geglaubt. Hier habe ich sie! Wenn das hochgeht, zerspringen nicht nur in Frankfurt die Scheiben.

Er verschloss den Koffer und schob den Schlüssel in die Tasche seiner Weste. Sie spannte bedenklich über seinem enormen Bauch. Helene war ein verlogenes Stück, aber kochen konnte sie. Erleichtert wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Das Wichtigste war nun getan. In Zürich würde er eine Weile kürzertreten.

„Rudolf, was machst du hier?“, rief er verwundert, als er sich umdrehte und den Mann sah, der für ihn oft das gemacht hatte, was Unwissende als Drecksarbeit bezeichneten, spezielle Aufträge, die Diskretion und Skrupellosigkeit erforderten. Rudolf hatte beides vorzuweisen. Er fackelte nicht lange und tat, was zu tun war. Leider nahm er den Rassen-Unfug zu ernst, das war schlecht fürs Geschäft. Man durfte keinen Profit ausschlagen, nur weil den germanischen Göttern ein Furz quer saß. In Bornwarts neuem Leben war kein Platz für die alten Methoden, daher konnte er Rudolf jetzt nicht mehr gebrauchen.

„Wollte mal sehen, ob Sie vorankommen mit dem Zusammenpacken. Ich bereite dann alles vor.“

Rudolf wirkte gelassen. Seine vollständige Emotionslosigkeit hatte Bornwart oft bewundert.

„Was willst du vorbereiten? Sieh zu, dass du wegkommst. Es gibt nichts mehr zu tun für dich.“

„Das ist aber schade. Ich hatte so gehofft, dass wir gemeinsam reisen würden. Sicher werden Sie mich wieder brauchen.“

Rudolf amüsierte sich. Auch wenn er Bornwart gelegentlich zur Hand ging, verdiente er mehr Geld damit, ihm zu schaden. Die meisten Zwischenfälle in den Bornwart-Werken gingen auf seine Rechnung. Sabotage wurde gut bezahlt und sein neuer Auftraggeber war sehr großzügig.

„Rudolf, es ist gut. Du hast dein Geld, also sieh zu …“

Bornwart griff den Koffer, ging an Rudolf vorbei durch die Tür und durchquerte den Flur.

„Wissen Sie, was ich nie verstanden habe?“, rief Rudolf ihm nach.

„Nein.“ Bornwart hielt nicht an.

„Warum man Skrupel hat … solche Marotten, da käme ich ja zu nichts, verstehen Sie, Bornwart? Sie verstehen das doch, ich meine, in den Rücken zu schießen …“

Bornwart stutzte.

Er hatte die Treppe fast erreicht, als Rudolfs erster Schuss ihn traf. Die zweite Kugel schlug höher ein, als er schon nach vorn taumelte. Kopfüber fiel er hinunter. Erst platzte die Weste auf, dann seine Stirn, als sie zum ersten Mal auf die Marmorstufen prallte. Rudolf eilte zum Geländer der Galerie. Er machte sich einen Spaß daraus, Bornwart fünf weitere Male zu treffen.

Die große Standuhr unten in der Halle schlug einmal zur halben Stunde, dann war das Haus still. Das heftig schlagende Herz im zweiten Stock konnte Rudolf nicht hören. Er hielt einen Moment inne, atmete tief durch und ließ die Erregung abklingen.

Er warf die Walther PP zur Seite, zog ein zweites Magazin aus der Manteltasche, ließ es fallen, streifte die Handschuhe ab und ging langsam die Treppe hinunter. Spielerisch wich er den Blutflecken aus. Rudolf ahnte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. In einer unzugänglichen Region seines Verstandes regte sich das, was andere vermutlich als Gewissen bezeichneten. Er hatte oft versucht, diesem merkwürdigen Gefühl nachzuspüren, das ihn ganz unvermittelt traf, wenn er seiner Arbeit nachging. Ohne Erfolg. Auch heute war es nur ein Moment. Leichten Herzens stieg er über Bornwart hinweg und ging gemächlichen Schrittes hinaus. Die schwere Haustür ließ er offen, wie vereinbart.

Zurück blieb ein vermeintlich leeres Haus, der Leichnam des Industriellen Wilhelm Bornwart, der im nächsten Jahr fünfundsechzig geworden wäre, und, kurz vor dem Treppenaustritt im ersten Stock an der Stelle, wo ihn die erste Kugel getroffen hatte, ein brauner Koffer.

Das Mädchen mit dem weißen Schal

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