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1. Ordnung

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Frankfurt am Main, August 1985

Das Kopfsteinpflaster hatte den Wurzeln der stoischen Alleebäume wenig entgegenzusetzen. Da keiner der zumeist älteren Anwohner schnell fuhr, störte es niemanden, dass sich die Straße im Laufe der Jahrzehnte in eine wahre Buckelpiste verwandelt hatte. Günter Grobring, der an der Ecke zur Friedrichstraße wohnte, freute sich sogar, wenn ein Auto vor seinem Haus aufsetzte, Funken flogen und ein Auspuff sein Leben aushauchte. Nur gerecht, fand Grobring, der jetzt im Sommer die Tage meistens am Fenster seiner kleinen Dachwohnung verbrachte. Er legte Wert auf Ruhe. Eine eingerollte Decke auf der Fensterbank diente ihm als Unterlage für die Ellenbogen. Er beobachtete, vergaß die Zeit und rauchte Kette.

Einmal hatte er Anzeige erstatten wollen. Ein Fremdparker, vor seinem Haus. Am Kennzeichen hatte er mit dem Fernglas einen Kölner erkannt. Als die Polizei ihn höflich informierte, dass es ganz in Ordnung sei, dort zu parken, war er enttäuscht gewesen. Der Beamte wollte partout seinen Namen nicht nennen, redete von einem Taifun, sagte etwas mit Ö. Grobring hatte es nicht verstanden und seitdem nicht mehr angerufen.

Der Transporter, der jetzt vorbeifuhr, war nicht schnell, aber vielleicht gab es trotzdem eine Chance. Grobring wartete gespannt. Es krachte nicht. Enttäuscht schob er den Unterkiefer vor und blies den Rauch aus.

Auf dem Beifahrersitz des Transporters saß Eva Siebeling. Sie hatte die ersten zwei Wochen der Sommerferien mit Gleichaltrigen aus ganz Europa in einem Freiwilligen-Camp in der Nähe von Paris verbracht und ihr Französisch für das bevorstehende Abitur aufpoliert. Unter der Leitung eines bekannten Archäologen hatten sie große Teile einer antiken Mühle freigelegt. Sie war müde gewesen nach der Rückkehr, erfüllt von Eindrücken, Gefühlen, Geschmäckern und Wortfetzen in unzähligen Sprachen. Volle vier Stunden hatte sie ihre Eltern zugetextet. Julius hatte sich rechtzeitig verzogen. Wenn seine ältere Schwester von einem ihrer Sozialtrips zurückkam, neigte sie zu Missionierungsversuchen.

Eva sah verstohlen rüber zu Magnus. Als Kind hatte ihr Cousin mit seiner Mutter ein paar Wochen bei ihrer Familie gewohnt. Nach der Flucht aus Ostdeutschland waren die beiden obdachlos gewesen, Siebelings hatten ein großes Haus. Seit damals hatte sie ihn nicht oft getroffen, das letzte Mal vor drei Jahren. Seitdem hatte sich viel verändert. Noch bis heute Morgen hätte Eva geschworen, dass Stephane aus Aix en Provence der schönste Mann der Welt war.

Magnus spielte Gitarre, so viel wusste sie. Der Rockstar-Look stand ihm gut – seine langen Haare fielen ihm immer wieder ins Gesicht, an der Hand trug er einen Totenkopfring, am Handgelenk ein Lederarmband. Nur die Segelschuhe fand Eva völlig ungeeignet für eine Haushaltsauflösung, sie passten auch gar nicht zu ihm.

Er hatte den größten Transporter gemietet, den er mit seinem Führerschein fahren durfte. „Koffer mit Hebebühne“, hatte er erklärt. Eva vermutete, das sei eine Art Statussymbol, mit dem ihr Cousin seinem Kumpel Maik imponieren konnte, der ihnen in Magnus’ Auto zusammen mit ihrem Bruder und ihrer Freundin Silke folgte.

Sie schaukelten heftig auf und ab, obwohl Magnus jetzt selbst für seine Verhältnisse langsam fuhr. Als Musiker musste er unbedingt cool wirken. Nichts schlimmer als ein hektischer Rocker. Eva sollte denken, dass er ganz selbstverständlich mit dem großen Transporter rangierte. Glücklicherweise war ihr entgangen, dass er vor einigen Minuten mit dem Außenspiegel fast eine Hausecke gestreift hatte. Ihren langen Rock fand er völlig unpassend für eine Haushaltsauflösung. Immerhin war sie keins von diesen albernen Trend-Girlies, die einander alles nachmachten – Lila ist die Farbe der Saison, also tragen wir alle plötzlich Lila -, grauenhaft. Eva war hübsch, irgendwie öko. Eigentlich fand er das ganz gut – Engagement, eine Meinung, nicht so viel Gezicke um Schuhe und Lippenstift. Er selbst konzentrierte sich aber lieber auf die Musik und auf seine Band. Sein Gott war The Edge, aber Paco de Lucia lehrte ihn, dass er auf der Gitarre noch immer ein Anfänger war.

Magnus’ Kumpel Maik mochte Hardrock. Nicht die Musik, aber den Effekt. Böse gucken, den Kopf schütteln, schon blieben ihm die Leute vom Leib. Er stand auf Kriegsfuß mit sich, besonders wenn seine Eltern in der Nähe waren. Das war nicht oft der Fall, meistens arbeiteten sie und rieben sich auf für den albernen Protzpalast, in dem sie wohnten. Maik hasste das sterile Haus. Sein Vater hatte eine Fleischfabrik geerbt. Auch seine Mutter arbeitete in der Firma und lebte ihre Lust am Herumkommandieren aus. Bei den Mitarbeitern waren die Eltern nicht sehr beliebt. Einmal hatte sein Vater ihm ein Praktikum verordnet, von wegen Ernst des Lebens. Am Ende der Schicht hatten sie nach der Dusche noch zusammengesessen – zehn Mann, und Maiks Vater hatte ein Sixpack auf den Tisch gestellt. Während er sich feiern ließ für die großzügige Geste, wäre der Sohn des Chefs am liebsten im Boden versunken. Magnus war die einzige echte Bezugsperson in Maiks Leben. Sie waren gemeinsam aufs Internat gekommen und teilten das Zimmer. Streit gab es fast nie, Magnus musste man einfach gernhaben. Jemand hatte viel Zeit und Liebe in ihn investiert. Seine Mutter Victoria hatte Maik schon gemocht, bevor er sie das erste Mal gesehen hatte, der Stiefvater war auch in Ordnung, Magnus war echt zu beneiden.

Silke gefiel Maik gut. Natürlich fand sie ihn blöd. Er hatte Metallica so laut aufgedreht, dass sie ihn einfach blöd finden musste. Das war schon okay, mit Ablehnung konnte er umgehen. So eine stand auf schmierige Typen und Popmusik von Duran Duran, auch wenn sie wirklich geil aussah. Am Hals und an den Beinen schwitzte sie, dabei hatte sie kaum etwas an. Die abgeschnittene Jeans war nicht viel mehr als ein breiter Gürtel. Das Testosteron kochte in Maiks Adern. Immer wieder nahm er sich vor, mit Karate oder Boxen anzufangen, um die Energie irgendwo loszuwerden.

Der Kleine auf dem Rücksitz hatte solche Probleme wohl nicht. Maik konnte nicht anders, er musste Julius ein bisschen provozieren.

„Gefällt euch die Musik?“ brüllte er.

„Welche Musik?“ rief Julius.

Silke verzog nur verächtlich das Gesicht.

Maik war zufrieden. Sie sollten ruhig wissen, dass er nicht auf ihre Sympathie angewiesen war.

„Was hörst du denn so?“, fragte er nach hinten, nachdem er die Musik etwas leiser gedreht hatte.

Julius roch den Braten sofort. Er hatte nicht die geringste Lust, sich von dem Bauernlümmel aufziehen zu lassen.

„Bach.“

„Wie, Bach?“

„Bach. Klassik“, erwiderte Julius.

Silke schüttelte unmerklich den Kopf.

Ungewollt sorgte sie so dafür, dass Julius und Maik sich zum ersten Mal fast einig waren. Maik hielt sie für arrogant, Julius hielt sie für blöd.

Magnus wurde langsamer, dann hielt er vor einer Einfahrt. Maik parkte den Benz an der Straße. Alle stiegen aus.

„Ganz schön dunkel hier. Irgendwie cool“, fand Maik und klopfte Magnus auf die Schulter.

Julius fragte sich, was hier cool war. Das sind die großen Bäume, die Aura des alten Geldes. Klar, dass ein Erbsenhirn wie du das bedrohlich findet. Kein Geschmack, keine Ahnung – Maik war schon ein erbärmlicher Vogel. Julius urteilte schnell und hart. Besonders die Arbeiterschaft war ihm suspekt. Er selbst hatte im Leben noch keinen Finger krumm gemacht und vermied Arbeit, wo immer möglich. Er träumte von einem Leben als Bohemien, seit er den Begriff irgendwo im Zusammenhang mit Oscar Wilde gelesen hatte.

„Das ist es also“, stellte Magnus fest.

Eva kramte den großen Schlüsselbund hervor, den sie von ihrer Großmutter bekommen hatte. Das Eisentor war mit einer alten Kette verschlossen, das anscheinend nagelneue Vorhängeschloss ließ sich problemlos öffnen. Eva fasste die Kette mit spitzen Fingern an. Als sie sah, dass Maik und Magnus sie skeptisch beobachteten, packte sie erst recht der Ehrgeiz. Sie griff richtig zu und hatte sofort schwarze Hände. Zu spät sah sie, dass Magnus schon Handschuhe angezogen hatte. Mit schuldbewusstem Grinsen nahm er ihr die Kette ab.

„Echte Gentlemen“, stellte Eva fest.

Zusammen mit Maik schob sie die Torflügel auf. Magnus setzte sich wieder ans Steuer des Transporters und ließ den Motor an. Langsam rollte er hinter Eva her, die die kurze Auffahrt bis zum Haus zu Fuß hinaufging. Julius und Silke folgten ihr, Maik fuhr den Mercedes hinein.

Vogelgezwitscher war zu hören.

„Ganz schön schön hier“, sagte Maik.

Julius fragte sich, ob der Blödmann wirklich so etwas wie ein ästhetisches Empfinden hatte. Ihm selbst gefiel das Haus wirklich. Er bedauerte den Verkauf. Das hier war genau das Ambiente, das einem jungen Feingeist wie ihm angemessen war, auch wenn alle Klischees eines Spukschlosses erfüllt waren. Er schlenderte in den weitläufigen Garten, der sich nach rechts am Haus vorbei erstreckte. Schon als Kind hatte er von südfranzösischen Sommerfesten um den Steintisch unter der großen Eiche geträumt, die in der Mitte der großen Rasenfläche stand. Zu dumm, dass seine Eltern keine Lust hatten, das Anwesen zu bewohnen.

Eva schloss die Haustür auf und ging vor in die Eingangshalle. Maik, Silke und Magnus folgten ihr. Möbel füllten den Raum. Mit ihrer Verpackung aus Luftpolsterfolie sahen sie aus wie überdimensionale Bauklötze. Evas Eltern hatten eine Weile auf Maria einreden müssen, bevor sie eingewilligt hatte, die teilweise wertvollen Stücke als Gesamtposten an eine Antiquitätenhandlung zu verkaufen. Die Kommoden und Schränke waren zu groß für zeitgenössische Behausungen. Alles sollte in den nächsten Tagen abgeholt werden. Evas Großmutter würde nach dem Krankenhaus in ein Altersheim ziehen. Maria Bornwart hatte selbst gemerkt, wie es bergab ging. Sie war gerade sechzig geworden, da fielen ihr die einfachsten Dinge nicht mehr ein. Irgendwann war sogar der Name ihres Sohnes weg. Ein Schock für Evas Vater, von der eigenen Mutter nicht erkannt zu werden.

„Ziemlich …“, Silke sah entschuldigend zu Eva, „pompöser Kasten“.

Eva nickte. „Ich habe mich hier noch nie wohlgefühlt. Wir haben mal Geburtstag gefeiert, da war ich noch klein. Unten war die Toilette kaputt, dann habe ich mich oben verlaufen und den Weg zurück nicht mehr gefunden. Ich muss geschrien haben wie am Spieß.“

„Weil du so dringend musstest?“, spöttelte Maik.

„Weil ich Angst hatte, du …“

Maik hob fragend die Augenbrauen.

„Ich was?“

Trottel, dachte Eva. „Nichts.“ An alle gewandt fuhr sie fort: „Wo rote Punkte draufkleben, das kommt auf den Sperrmüll. Grüner Punkt heißt einpacken, blauer Punkt wird von dem Antiquitätentyp abgeholt.“

Julius kam und sah sich ebenfalls in der Halle um.

„Ich war lange nicht hier, stelle ich fest.“

„Zuletzt … die Hochzeit von Tante Gertrud. Weiß ich noch genau, du hattest diesen schicken blauen Samtanzug an, das sah so süß aus.“

Julius verzog das Gesicht. „Das peinliche Foto, stimmt. Danke, dass du mich daran erinnerst, Schwesterherz.“

Julius liebte seine große Schwester. Für ihn stellte sie die perfekte Kombination aus Intelligenz und Schönheit dar. Wenn sie nicht seine Schwester wäre, wenn er sich für Mädchen interessieren würde … Er mochte nicht, wie Maik sie ansah. Julius würde keine Sekunde zögern, Eva vor diesem Typen zu verteidigen. Mutig würde er sich auf Maik stürzen. Und ihn ins Ohr kneifen.

Eva hielt eine Liste vor sich. Hundert Mark sollte jeder bekommen, wenn alles erledigt war. Oma ließ sich nicht lumpen. Bald hatte sie genug Geld zusammen für die Reise nach Nepal, für die sie schon seit Längerem sparte.

„Jemand müsste im ersten Stock den Schrank zerlegen, wer hat Lust?“

Maik meldete sich sofort.

„Zerlegen klingt gut. Mach ich. Wo ist das Werkzeug?“

Na, da bin ich aber überrascht, dachte Julius.

„In der Garage. Hier durch die Küche, dann da vorne links“ erklärte Eva.

Maik marschierte los.

„Weg da, Gitarrengott.“

Magnus wich zur Seite.

„Die Manschetten brauchst du ja nicht mehr aufzuknöpfen“, murmelte Julius in Anspielung auf Maiks ärmelloses Holzfällerhemd.

Magnus grinste.

„Maik ist ein netter Kerl. Echt.“

Julius ertappte sich dabei, Magnus gut aussehend zu finden.

„Wie war das noch mal? Deine Oma ist die Schwester von meinem Opa?“

„Das darfst du mich nicht fragen. Eva?“

Eva sah von ihrer Liste auf.

„Umgekehrt, unsere Oma Maria ist die Schwester von deinem …“, sie zeigte auf Magnus, „… Opa Gustav, glaube ich. Wir stammen alle ab von Wilhelm Bornwart. Na, danke schön.“

Die Bedeutung des Namens war Eva erst kürzlich bewusst geworden. In einem Zeitungsartikel hatte sie von Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie gelesen. Der Name ihres Urgroßvaters war mehrfach vorgekommen. Endlich begriff sie, warum in der Familie immer ausgewichen wurde, wenn es um die Herkunft ging. Ihr Vater war als Anlageberater auf eine lupenreine Reputation angewiesen.

„Auf jeden Fall verwandt“, fügte sie an und konnte einen kleinen Seufzer nicht ganz verbergen.

Incest is a game the whole family can play, dachte Julius, aber ich verstehe dich.

„Was soll ich machen, hast du was auf deiner Liste? Denk daran, ich bin noch ein Kind!“

„Ich weiß, immer wenn es dir in den Kram passt, Schlaumeier. Du könntest im Wohnzimmer das Porzellan verpacken. Zeitungen haben wir dabei, Kartons stehen schon da.“

„Mach ich.“ Julius verschwand.

„Wo ist Silke?“ Eva sah sich um. „Silke?“

Sie bekam Antwort von oben. Ihre Freundin hatte beschlossen, sich umzusehen. Eva fand, das könnten sie und Magnus auch tun. Sie bedeutete ihm, mitzukommen.

Während Magnus über die Bedeutung dessen grübelte, was Eva über Wilhelm Bornwart gesagt hatte, begutachtete er auf der Treppe unauffällig ihren Po.

Eva hatte ihn lauter in Erinnerung. Früher war er eine echte Nervensäge gewesen. Seht mal hier, schaut, was ich kann – Eva und die anderen Kinder hatten nicht viel zu melden gehabt. Jetzt hatte sie zum ersten Mal Lust, ihn kennenzulernen. Wenn er ihr auf den Hintern guckte, war das eine Frechheit, aber immerhin ein Anfang.

Maik kam hinter ihnen die Treppe herauf und klapperte mit dem Werkzeug.

„So, wo steht die Kiste? Ich mache alles platt!“ Er nahm zwei Stufen auf einmal, überholte sie und konnte es kaum erwarten, zu seinem Einsatzort zu kommen. Als er dann davorstand, überragte der gewaltige Schrank Maik um fast einen Meter. Eingeschüchtert nahm er sich vor, seine große Klappe besser unter Kontrolle zu halten.

Silke fand das Schlafzimmer ganz spannend. Die alte Schachtel musste Geld wie Heu haben, so viel war klar. Die geilsten Fummel gab es hier, quietschbunte Kleidchen, Schuhe mit Plateausohlen, die sie an die Discobräute aus den Formel-Eins-Videos erinnerten, und Sonnenbrillen, die sie am liebsten gleich eingesteckt hätte. Ging natürlich nicht – was sollte Eva denken? Sie war ja lieb, aber sie machte sich auch entschieden zu viele Gedanken über alles. Offensichtlich fand sie ihren Cousin ganz geil. Aber nein, was sollten die Leute denken?

Silke war egal, was die Leute dachten. Wenn Eva nicht mit ihrem Cousin in die Kiste wollte, würde sie eben ihr Glück versuchen.

Eva war erstaunt, dass ihre Freundin sich offenbar wie zu Hause fühlte. Silke war ein echtes Goldstück, immer da, wenn man sie brauchte. Sie kannten sich ewig, das war schön. Aber seit Silke Brüste bekommen und gelernt hatte, wie sie ihre Rundungen einsetzen konnte, war Eva oft genervt. Kaum waren Jungs in der Nähe, drehte ihre Freundin durch.

„Geile Fummel, die deine Oma hier hängen hat.“ Offenbar unterzog sie Marias Garderobe einer eingehenden Prüfung und fand einige Teile als Urahnen aktueller Trends hochinteressant.

„Kann ich das mal anziehen?“, fragte sie und hielt etwas hoch, das für Magnus irgendwie nach Sechzigerjahre aussah.

„Gern.“ Eva wünschte, Silke würde ihre Modebegeisterung zügeln und sich auf das Wesentliche konzentrieren. Hundert Mark wollten verdient sein. „Wenn du magst, kannst du ja dann alles einpacken, was an Klamotten da ist.“ Sie wandte sich zu Magnus und wurde rot. „Hast du Lust, mit mir in die Bibliothek zu kommen?“

Silke kam hinter der Schranktür hervor, die sie als Sichtschutz genutzt hatte. Sie war praktisch nackt, nur ein orangefarbener Hauch von Nichts bedeckte ihre Kurven. Eva war genervt, Silke begeistert, Magnus sprachlos. Wie beabsichtigt hatte Silke nun seine Aufmerksamkeit. Eva ging hinaus. Magnus merkte es erst nach einem kurzen Moment des Staunens.

„Komme“, rief er schließlich und nickte Silke anerkennend zu, bevor er seiner Cousine nachlief.

Silke lächelte zufrieden und übte noch ein paar Posen vor den verspiegelten Schranktüren, bevor sie wieder ihre Shorts anzog und den ersten Umzugskarton aufstellte.

Sei nicht albern. Eva sagte es sich immer wieder vor, als sie in die Bibliothek kam. Der Raum war buchstäblich von oben bis unten voller Bücher. Maßgefertigte Regale bedeckten alle vier Wände. Ein Tisch in der Mitte des Raumes bog sich ebenfalls unter Büchern. Ein Fenster an der gegenüberliegenden Seite des Raumes war das einzige Loch in der Bücherfront. Dicker Teppich dämpfte die Schritte. Früher, als sie mit dem Lesen angefangen und alles verschlungen hatte, was ihr in die Finger kam, wäre sie hier gerne auf Entdeckungsreise gegangen. Ihre ohnehin lebhafte Fantasie brannte wie Zunder, wenn sie durch spannende Geschichten befeuert wurde. Hier musste es Hunderte davon geben. Leider waren die Besuche bei ihrer Großmutter selten gewesen.

Sie brauchte Kartons. Im Türrahmen prallte sie gegen ihren Cousin.

„Ups“, sagte sie.

Magnus wich zurück und packte Eva instinktiv an den Schultern.

„Entschuldige, ich …“

„Ja, du warst kurz abgelenkt.“ Eva lächelte wissend, dann beeilte sie sich, an Magnus vorbeizukommen. Sie wurde wieder rot – gerade hatte er sie zum ersten Mal angefasst.

„Ich komme sofort. Kannst dich ja schon mal umschauen. Das ist ein Stück Arbeit da drinnen.“

„Mein schöner Plan“, jammerte sie, als sie mit vier noch zusammengefalteten Kartons zurückkam. „Ich hatte alles genau aufgeschrieben, wer wann was macht. Jetzt wurschteln wir hier einfach so herum.“

„Keine Sorge“, beruhigte Magnus sie. „Das wird schon, wir sind erst zehn Minuten hier. Ich bin sicher, heute Mittag wirst du mit uns zufrieden sein.“ Er nahm ihr die Kartons ab, klappte einen auf, begann ohne Umschweife, die ersten Bücher aus dem Regal zu nehmen, und sah sie an. „Los, Cousinchen, komm in die Hufe.“

Eva wurde schon wieder rot, dachte: Das muss unbedingt aufhören, und machte es ihm nach.

Julius brauchte weniger als eine halbe Stunde für das Porzellan. Er ging nach oben, um seine Schwester nach einem neuen Auftrag zu fragen. Doch dann änderte er sein Vorhaben. Jetzt war die Zeit, dem Haus noch alle Geheimnisse zu entreißen. Er nahm die Treppe in den zweiten Stock. Lieblos war das Wort, nach dem er gesucht hatte. Das Haus wirkte lieblos, überhaupt nicht einladend. Herrschaftlich hin oder her, aber ein bisschen Nippes hier und da – etwas mehr Kitsch hätte der Bude eigentlich gutgetan. Es roch nach Staub, Tapete und altem Teppich. Er öffnete eine Tür nach der anderen und entdeckte einen leeren Raum nach dem anderen. Außer Spinnweben gab es hier nichts, schon gar keine Geheimnisse. Erst das letzte Zimmer am Ende des Flures versprühte mit seiner Holzvertäfelung einen Hauch von altenglischem Billard-Altherrensalon-Charme. Ein Schreibtisch stand darin, zu groß, um aus den letzten Jahrzehnten zu stammen. Wer dahinter saß, konnte unmöglich die ganze Tischplatte mit den Armen erreichen, er musste schon mit einem Croupier-Schieber die Papiere hin- und herbewegen. Vor dem einzigen Fenster hingen bodenlange grüne Vorhänge, die speckig aussahen wie das Gesäß einer Lieblings-Cordhose.

Julius ging an der Wand entlang und strich mit der Hand über die Vertäfelung. In Edgar-Wallace-Filmen verbarg eine solche Vertäfelung üblicherweise einen Geheimgang. Natürlich war das blanker Unsinn, Julius amüsierte sich über sich selbst. Gerade als er sich abwenden wollte, knackte eine der Holzkassetten unter seiner Hand und gab leicht nach.

Sein Herz schlug schneller. Das Brett knarrte, wenn er leicht dagegendrückte. Er klopfte darauf, es klang hohl im Vergleich zur Nachbartafel. Anscheinend wurde das Holz an einer Seite von unsichtbaren Scharnieren gehalten, an der anderen Seite von einem Verschlussmechanismus. Julius drückte fester, aber außer einem Knarren erreichte er nichts. Die Neugier packte ihn, dem alten Edgar Wallace würde er schon helfen. Von sich selbst überrascht trat er entschlossen gegen die Vertäfelung. Das Haus sollte ja verkauft werden, im Notfall müsste er leider das Umzugsunternehmen anschwärzen – ein Unfall beim Einpacken oder etwas in der Art.

Magnus nahm mit beiden Händen einen Stapel Bücher und gab sie Eva, die die Kartons befüllte. Drei standen bereits fertig in der Mitte des Raumes. Die Regalreihen hatten sich merklich gelichtet. Schweigend arbeiteten sie Hand in Hand. Ab und an trafen sich ihre Blicke. Magnus fragte Eva nach ihrem Lieblingsbuch, um die arbeitsame Stille zu durchbrechen. Er kannte weder Jane Austen noch die Werke von Thomas Mann, die sie aufzählte. Er fand Asterix gut.

„Kann mir mal ein starker Mann helfen?“ Silke stand in der Tür. Sie wollte mit dem Projekt Magnus weiterkommen und ging der Sache unverblümt nach. „Ich hoffe, ich störe nicht. Kann ich ihn mir mal ausleihen?“

„Meinen Cousin soll ich dir leihen? Wofür brauchst du ihn denn? Er arbeitet sehr langsam.“

„Macht nichts, dafür sieht er gut aus“, erwiderte Silke.

„Hallo, ich stehe hier. Ich kann direkt angesprochen werden.“ Magnus gefiel der Zuspruch.

„Ich habe jetzt beide Schränke leer, ein paar Kartons müssten schon mal runter, sonst habe ich keinen Platz mehr. Hilfst du mir?“ Sie verschränkte die Hände vor dem Schoß, stellte die Füße leicht nach innen, um besonders hilflos auszusehen und gab Magnus einen honigsüßen Augenaufschlag.

Es war alles so klar. Eva fand es reichlich blöd. Wo blieb das Geheimnis, wo die Spannung, das Warten, langsame Annäherung, Kennenlernen, erste Missverständnisse, vielleicht sogar ein Streit, dann Versöhnung, der erste Kuss, all das? Silke ging es wirklich nur darum, ihn schnell ins Bett zu kriegen. Sie schämte sich ein bisschen, so über ihre Freundin zu denken.

„Kommst du hier ein paar Minuten ohne mich klar?“, fragte Magnus.

„Ich kann es mir nur schwer vorstellen, aber ich versuche es.“

Magnus folgte Silke und verglich. Ihre kurze Hose ließ keine Fragen offen. Auch bei ihr war alles in bester Ordnung, und mit ihr war er nicht verwandt. Nichts sprach gegen ein näheres Kennenlernen. Silke war anscheinend aufgeschlossen und duftete fruchtig. Er war in Geberlaune.

Vom Ende des Flurs war ein lautes Krachen zu hören.

„Alles in Ordnung bei dir, Maik?“, rief Magnus.

„Alles unter Kontrolle!“ Den Geräuschen nach kam Maik mit seinem Zerstörungsauftrag gut voran.

„Hier“, sagte Silke in dem Ton, in dem ein Kind seiner Mutter verschüttete Milch präsentieren würde. Alles stand voll mit gefüllten Kartons. Sie waren so leicht, dass er zwei auf einmal tragen konnte. Während sie weiter packte, machte er sich auf den Weg nach unten. Als er die Tour ein paarmal gelaufen war und wieder schwitzend bei Silke im Zimmer stand, reichte sie ihm eine Wasserflasche.

„Sehr beeindruckend. Du bist keine zehn Minuten hier und alles ist weg.“

„Ich bin ja nicht zum Spaß hier.“

„Schade“, stellte Silke fest und klimperte mit den geschminkten Wimpern.

Julius fand ein Fach. Leider war nichts Geheimes darin, aber seine Neugier war geweckt. Er klopfte alle Kassetten der Vertäfelung ab. Dann wandte er sich dem Schreibtisch zu, zog alle Schubladen auf, fühlte mit der Hand hinein – vergeblich. Das Zimmer gab nichts mehr her. Im Flur sah er eine Luke in der Decke. An einer Öse konnte da ein Haken eingesteckt werden, vermutlich um eine Klapptreppe herunterzuziehen. Der Speicher … Das musste sofort überprüft werden. Wo war der Haken? Julius ging einer Ahnung folgend in das Zimmer, das direkt unter der Luke vom Flur abging und das er vorhin für leer gehalten hatte. Bei genauem Hinsehen stand in der Ecke genau der Holzstiel mit Haken, den er brauchte. Julius schnappte sich den Stiel, hängte ihn ein und zog.

Maik war fertig. Schweißgebadet stand er vor einem Haufen Bretter. In einer Ecke hatte er den Stapel alter Zeitungen und die Tücher platziert, die er in der Schublade gefunden hatte. Die Pistole, die auch darin gelegen hatte, steckte hinten in seinem Gürtel, das zusätzliche Magazin in der Hosentasche. Unter seinem Hemd konnte man davon nichts sehen. Hoffte er. Erst einmal zuvor hatte er eine echte Waffe in der Hand gehabt, einen Revolver seines Vaters. Der ging aber sehr restriktiv damit um. Diese Knarre hier vermisste sicher niemand. Er wollte seine Beute so schnell wie möglich in Sicherheit bringen. Magnus und die anderen mussten nichts davon wissen. Es war ja so eine Art Diebstahl, aber wer brauchte das Ding? Magnus hätte damit bestimmt nichts am Hut, Eva und Julius auch nicht, von Oma Bornwart ganz zu schweigen. Er schlenderte nach unten, ließ Pistole und Magazin in seinen Rucksack gleiten und holte ein Salamibrötchen und Cola heraus. Seine Mutter hatte wie immer ordentlich Butter und Wurst dreilagig draufgetan. Gierig biss er hinein, kippte Cola nach und sah zufrieden schmatzend hinaus in den Garten. Maik, the man. Ein richtiger Kerl brauchte nun mal eine Waffe.

Langsam stieg Julius hinauf. Erleichtert sah er einen Lichtschalter oben am Geländer, der die Finsternis über ihm in ein drückend warmes Halbdunkel verwandelte. Julius sah Regale und Schachteln, einen Fernseher mit fast runder Bildröhre, einen Kinderwagen, Kartons mit Töpfen und Tellern. Besen und ein Teppichklopfer lehnten an einer Kommode. Alles war von einer dicken Staubschicht bedeckt. Er machte ein paar vorsichtige knarrende Schritte auf eine Kommode zu. Bücher lagen darauf. Mein Kampf – erst als er den Namen des Autors las, konnte er das Buch einordnen. Daneben lag Rassenkunde des deutschen Volkes und ein Dolch, auf dessen Scheide ein SS-Emblem zu sehen war. Julius zog eine Schublade auf. Er warf nur einen kurzen Blick hinein, sah braunen Stoff und eine rote Armbinde, rannte zur Luke und rief seine Schwester. Sie antwortete nicht, also stieg er hinunter, lief ins Treppenhaus und rief erneut.

„Eva?“

„Ja?“

„Kommst du mal?“

„Muss ich?“

„Ja.“

„Was ist denn?“

„Da ist … ich habe was gefunden. Komm halt.“

Das Zeug noch in seinem Besitz zu haben, war bestimmt illegal. Es musste verschwinden. Was sollten die Leute von der Umzugsfirma denken?

Alle waren neugierig, was Julius entdeckt hatte. Das gefiel ihm überhaupt nicht, schließlich war der Ruf der Familie in Gefahr. Aber es war zu spät.

„Auf dem Speicher, da hinten rauf. Keine Ahnung, ob das … Kostüme sind oder was.“

Eva ging voraus. Drei braune Hemden kamen zum Vorschein, eine Schublade tiefer eine Uniform mit SS-Abzeichen am Kragenspiegel. Sie war sorgfältig in Plastikfolie verpackt.

„Geil“, fand Maik.

Eva sah ihn missbilligend an.

„Was ist daran denn bitte geil? Ekelhaft ist das.“

„Es muss vor allem weg“, stellte Magnus fest.

„Wieso? Das nehm ich mit, wenn ihr wollt“, schlug Maik vor.

Julius schüttelte ungläubig den Kopf.

„Ihr nehmt gar nichts mit. Das packen wir ein und …“ Eva war selten sprachlos, aber jetzt fiel ihr nicht ein, was sie machen sollten.

„Und was?“ Maik konnte Evas Widerwillen nicht verstehen.

„Lass mal“, sagte Magnus. „Ich schlage vor, wir sehen zu, dass wir das Zeug loswerden.“

Eva war offenbar nicht einverstanden.

„Ihr seid mir echt ein paar Schafsköpfe. Wir müssen uns erinnern.“

Maik merkte, wie ihm noch wärmer wurde.

„Ach du Schreck, geht das wieder los. Ich muss mich an gar nichts erinnern, ich habe keinem auch nur ein Haar gekrümmt. Und Nazi bin ich schon gleich dreimal nicht. Punk, wenn überhaupt. Das ist ja wohl das Gegenteil.“

„Das sagt ja auch keiner“, erwiderte Eva.

„Was sagt keiner?“

„Dass du Nazi bist. Hat doch mit dem Erinnern nichts zu tun.“

„Hat es doch. Heißt doch immer: Die Deutschen bla bla bla, Nazi-Schweine. Irgendwann muss mal Schluss sein. Jeden Tag kommt die Scheiße auf dem Dritten, ewig tun die so, als ob ich irgendeine Verantwortung hätte für irgendwas. Ich war damals noch nicht mal geboren.“

Maik war sauer.

Eva auch.

Julius schlenderte auf dem Speicher herum. Er kannte die dunkle Seite seiner Schwester. Sie liebte endlose, hitzige Diskussionen, die auch gerne mal in einem wüsten Streit ausarteten.

Magnus und Silke standen nur ratlos dabei.

„Hast du auch. Es geht darum, dass es jederzeit wieder passieren kann.“

„Hier? Nie! Glaubst du ernsthaft, hier würde auch nur ein Hund hinter dem Ofen vorkommen, wenn einer ruft: Gewehre raus, auf nach Frankreich?“

„Ja, eben.“

„Hä? Was heißt ja eben?“

„Das heißt, dass nur wegen der ständigen Erinnerung, die dir so auf den Wecker geht, hier niemand einem Idioten glauben würde, der sagt, alle Probleme wären ganz einfach zu lösen, wenn wir nur die Franzosen, die Polen oder die … weiß nicht, die Dänen angreifen.“

Eva kam erst langsam in Fahrt, aber Maik schien schon überzeugt.

„Aha. Das heißt, ich muss mir den Kram angucken, bis ich schwarz werde, damit alles ruhig bleibt?“

„Wenn du es so sagen willst, ja. Mach halt den Fernseher aus.“

„Ich habe Freunde aus Frankreich. Und aus Russland. Unser Zimmernachbar ist Inder. Also was soll das?“ Maik sah zu Magnus. „Sag ihr, dass ich kein Nazi bin.“

Magnus fand das Thema nicht spannend und zuckte mit den Schultern.

„Sagt sie ja, glaube ich, auch nicht.“

„Aha. Also, was machen wir jetzt damit?“ Maik sah Eva an.

„Ich überlege noch.“

„Der Ofen. Oma hat doch so ein Riesending im Keller. Rein damit“, schlug Julius vor. Er stand abseits und musterte eine staubige Anrichte.

„Meinst du wirklich?“ fragte Eva. „Was ist mit … einem Museum, oder …“

Alle sahen sie an und warteten, was noch kommen würde.

„Ach, ihr macht mich nervös. Was weiß denn ich? Macht damit, was ihr wollt.“ Sie ging zur Luke und stieg die Treppe runter.

Maik sah Magnus an.

„War ich zu … zu irgendwas?“

„Frag nicht mich. Ich spiele Gitarre.“

„Das ist ja ganz großartig. Die Antwort merke ich mir“, versetzte Julius.

Maik folgte Eva.

Magnus sah zu Julius.

„Nicht so frech, mein Lieber. Du bist immerhin der Kleinste hier.“

„Der Kleinste, aber auch der Klügste.“

„Also, Klugscheißer, was machen wir dann?“

„Verbrennen. Weg damit. Das ist eine Schande für die Familie.“

„Und deine Schwester?“

„Die wird sich schon wieder beruhigen. Sie hat übrigens ganz recht, das weißt du ja sicher.“

Maik fand Eva im ersten Stock. Sie starrte angestrengt auf ihre Liste, als er zu ihr kam.

„Du?“

„Was?“

„Ich … es tut … eigentlich tut es mir nicht leid. Ich glaube, du hast … wie soll ich sagen …“ Maik trat von einem Fuß auf den anderen. „Also, du hast auch irgendwie recht.“ Dann fügte er noch ein entschiedenes „So!“ an, drehte sich um und ging wieder nach oben.

Eva hob den Kopf und sah ihm hinterher. Bevor sie wusste, was sie davon halten sollte, kam Silke hereinstolziert.

„Lass dich nicht ärgern von dem Asi – was jetzt, meine Süße?“

„Wir holen ein paar Sachen vom Speicher und dann … meinetwegen, gehen wir in den Keller.“

Der Keller war ein modriges Gewölbe. Sie schlichen langsam an teilweise noch bestückten Weinregalen vorbei von einem Raum in den nächsten.

„Vorsicht“, flüsterte Magnus und zeigte auf einen Glasdeckel, auf den Silke nicht treten sollte.

„Warum flüstert ihr denn?“, fragte Julius laut von hinten und beide fuhren erschreckt zusammen.

„Mein Gott, ihr wollt meine Vorbilder sein? Dass ich nicht lache.“ Er überholte und ging durch den offenen Durchgang am anderen Ende des Raumes. Seine Großmutter hatte ihn einmal mitgenommen, um einen Stapel alter Zeitungen zu verbrennen. Tatsächlich, da stand der Ofen. Magnus inspizierte ihn. Die Klappe war klein, aber Hemden und Bücher würden da schon durchpassen.

Eva und Maik suchten den Speicher ab, fanden aber keine weiteren zweifelhaften Objekte. Lediglich ein verschlossener Koffer weckte Evas Interesse. In ihr Entsetzen hatte sich mittlerweile auch Neugier gemischt. Sie würde zu Hause versuchen, ihn zu öffnen.

Kurze Zeit später standen alle zusammen im Keller und verfütterten Bücher und Kleider an den Ofen. Nach wenigen Minuten war der Spuk vorbei.

Am Nachmittag bestellten sie Pizza. Wie ausgehungerte Löwen fielen sie über den Inhalt der Pappschachteln her. Nur Silke stocherte lustlos in der remouladenartigen Pampe, die ein Thunfischsalat sein sollte.

Magnus stellte anerkennend fest, dass seine zierliche Cousine ihre Diavolo als Erste verschlungen hatte. Maik bot ihr das letzte Stück seiner Quattro Stagioni an. Eva lehnte dankend ab.

„Iss du mal, damit du groß und stark wirst.“

Julius versuchte, Maiks Gedanken zu erraten. Bin ich schon. Das denkst du doch, das ist doch deine Antwort.

„Bin ich schon“, erwiderte Maik mit vollem Mund.

Alle sahen Julius verständnislos an, als er laut loslachte.

Maik hielt sein Pizzastück Silke hin. Sie zögerte kurz, dann nahm sie es.

Den Rest des Tages verbrachten sie damit, den Transporter zu beladen. Als der letzte Karton auf der Hebebühne stand, war es kurz vor acht. Maik öffnete mit lautem Zischen eine Bierdose und leerte sie fast in einem Zug.

Eva sah ihm zu.

„Ganz schön nett von deinem Freund, uns zu helfen“, sagte sie zu Magnus, der mittlerweile sein Hemd ausgezogen hatte. Darunter trug er ein weißes Doppelripp-Unterhemd. „Von dir übrigens auch. Ein bisschen Motoröl fehlt noch, dann darfst du an meiner Wand hängen.“

„Wie?“ Er sah Eva verständnislos an.

„Ach nichts. Schön, dass wir fertig geworden sind.“

„Allerdings. Fertig“, stöhnte Magnus.

„Alter, das kommt schon ziemlich nahe!“, rief Maik von der Hebebühne herunter und stellte sich in Rednerpose.

„Nahe was? Wem?“, fragte Silke.

„Einem perfekten Moment. Findet Maik“, erläuterte Magnus.

„Was macht so einen Moment aus?“, wollte Eva wissen.

„Ich glaube, was fertigbekommen, nette Leute, gutes Wetter und Bier. Was will man mehr – richtig, Maik?“

„Ja, kommt hin.“ Maik spannte seinen Bizeps an, um zu prüfen, ob er gewachsen war.

„Was will man mehr? Bildung?“, fragte Julius leise.

Silke kicherte.

„Das habe ich gehört“, rief Maik. „Du bist selber doof, nur damit du es weißt.“

„Ja, okay.“ Julius ging zum Haus zurück.

„Vielen Dank euch allen“, sagte Eva und umarmte Silke. Dann wandte sie sich zu Magnus. Eine Schrecksekunde, dann verwarfen sie zugleich den Gedanken an eine Umarmung. Sie gab ihm die Hand. Es fühlte sich total albern an. Maik machte es ihr leicht und hielt ihr auch die Hand entgegen.

„Ganz schon förmlich, deine Familie“, frotzelte er Magnus.

„Stimmt gar nicht“, sagte Eva und sah Maik böse an.

Er hielt ihrem Blick stand und zog die Augenbrauen zusammen.

„Willst du mich hypnotisieren?“, fragte sie.

„Ich dachte nur gerade“, sagte Maik, „dass wir … also, es ist doch noch früh, oder?“

„Wenn ihr wollt, kommt ihr mit zu uns. Ich gebe ein Bier aus“, schlug Eva vor.

„Cool“, sagte Silke und zog sich ihre Jeans zurecht.

„Yup“, meinte Magnus. „Cool.“

Julius schlenderte noch einmal über das Anwesen. Er fühlte sich großartig. Alle Muskeln schmerzten wohlig. Vielleicht würde er künftig ausgedehnte Spaziergänge in Betracht ziehen, um dieses Gefühl wieder zu bekommen. Sport kam keinesfalls infrage. Für heute war es auch genug.

Er verabschiedete sich im Geiste von dem Haus und ging zu den anderen, die berieten, wie der Tag zu Ende gehen sollte. Anscheinend lagen Testosteron, Östrogen und das Glückshormon aus den Bananen in der Luft. Maik, Magnus, Silke – das war alles so klar.

Er selbst hatte keinerlei solche Anwandlungen. Manchmal fragte er sich, warum er sich so unsäglich langweilte mit seinen Klassenkameraden, bei denen es ums Gewinnen ging, ums Durchsetzen, ums Schneller-, Stärker-, Größer-Sein, beim Fußball, beim Trinken, beim Rauchen, immer musste gezeigt werden, wer der tollste Hecht war. Dabei fanden die Mädchen das total bescheuert, versicherte ihm zumindest seine beste Freundin Carolina.

„Also schön, dann nichts wie los.“ Magnus stieg ein und freute sich darauf, wenigstens ein paar Minuten mit Eva allein zu sein.

Maik ging vor zum Benz.

„Bitte … nichts von dem, was du Musik nennst“, flehte Julius.

„Du hast ja gemerkt, dass ich ungebildet bin. Ich muss doch deinem Klischee entsprechen.“ Maik lachte dreckig, Julius stöhnte und Silke schlug die Hände vors Gesicht, als Maik die Metallica-Kassette in den Player schob.

Als sie später in Evas Zimmer auf dem Boden saßen, hatte Julius sich schon ins Bett verabschiedet.

„Sag mal, ist dein Bruder …“ Maik merkte, wie ihn der Mut verließ, denn Eva sah nicht so aus, als ob sie seine Frage positiv aufnehmen würde.

„Also, ich …“

„Was denn?“ Eva hob die Augenbrauen.

„Ach nichts.“

„Du hattest doch den ganzen Tag Gelegenheit, ihn selbst zu fragen.“

Maik wurde rot. Mit Eva war wirklich nicht gut Kirschen essen.

„Wusstest du, dass deine Oma Nazi ist?“, wollte Silke wissen.

„Darüber haben wir nie gesprochen. Sie ist nicht … kann sie ja schlecht einfach so fragen. Oder doch, warum eigentlich nicht?“

„Genau, dann frag sie doch auch gleich …“ Maik entging nur knapp dem Fettnäpfchen – der Frage, wozu Oma denn die Knarre brauchte.

„Was?“ wollte Eva wissen.

„Nichts“, versuchte Maik, seine Frage vergessen zu machen. Er überlegte fieberhaft, dann kam ihm der rettende Gedanke. „Na, bei welchem Panzerhersteller sie ihre Möbel gekauft hat. An dem Schrank hab ich mir fast die Zähne ausgebissen.“

„Warum kaust du auch drauf rum? Hättest ja das Brecheisen nehmen können“, bemerkte Magnus.

Eva wünschte sich plötzlich, Magnus bei den Schultern zu packen und ihn kräftig zu schütteln. Silkes Knie blieb immer in Kontakt mit seiner Hüfte. Außerdem beunruhigten sie Maiks Blicke. Er hatte offenbar kein Interesse an Silke. Mit seiner Militärjacke und den Bundeswehrstiefeln sah er nicht gerade vertrauenswürdig aus. Um ihn abzulenken, schlug sie vor, den Koffer zu öffnen.

„Kein Problem“, verkündete Maik, er brauche nur eine Haarnadel. Eva gab sie ihm und er machte sich daran, in den Schlössern herumzustochern.

„Wie lange habt ihr noch Ferien?“, wollte Silke von Magnus wissen.

„Diese Woche und dann noch die nächste. Ende des Monats geht es zurück in die Schweiz.“

„Macht ihr nächstes Jahr auch Abitur?“

Magnus nickte.

„Leider“, brummte Maik, der noch immer am Schloss zugange war.

„Wieso leider?“, fragte Eva.

„Schule ist gar nicht so schlecht. Wenn es vorbei ist, muss ich vermutlich in die Firma einsteigen. Vielen Dank.“

„Wo ist die Firma?“, fragte Silke, um irgendetwas zu sagen.

„Steinbach“, murmelte Maik konzentriert.

„Und, Internat? Wie ist das so?“ Für Silke war es unvorstellbar, in einer Schule zu wohnen.

„Ganz okay eigentlich. Sind halt viele Durchgeknallte da mit superreichen Eltern, das nervt manchmal. Maik und ich, wir haben, glaube ich, Glück gehabt, oder? Maik, sag Ja.“

Maik tat es.

„Was denn für Superreiche? Kennt man die?“ Silke war fasziniert.

„Managersöhne von Ikea und Müller Milch, eine Tochter von Mugabe haben wir da, eine Enkelin von de Gaulle, eine Verwandte von Bismarck …“

„Ich meine jemanden, den man so kennt“, unterbrach Silke Magnus.

„Die kennt man doch.“ Magnus warf Eva einen fragenden Blick zu. „Also, berühmte Prinzen oder so was haben wir, glaube ich, derzeit nicht im Angebot. Oder, Maik?“

„Nein, keine Prinzen.“ Maik verlor das Interesse an dem Koffer. „Ein uraltes Ding, so was war kein Bestandteil meiner Verbrecher-Ausbildung.“

Magnus versuchte sein Glück. Es dauerte keine Minute. Mit einem hörbaren Klack schnappte das erste Schloss auf. Das zweite war zäher. Magnus bohrte fast zehn Minuten darin herum, dann gab auch er es auf.

Nach einer Stunde taten Bier und Müdigkeit ihre Wirkung. Die Jungs machten sich auf den Heimweg.

„Sehen wir euch noch mal?“, wollte Silke wissen. „Vielleicht morgen?“

„Keine schlechte Idee“, log Magnus, denn jetzt wollte er erst einmal ins Bett und am liebsten zwei Tage durchschlafen. Der Gedanke, morgen wieder Kartons zu wuchten, schmeckte ihm gar nicht. Aber das war auch eine Gelegenheit, Eva wiederzusehen.

„Ich rufe an, wenn wir wach sind. Okay, Eva?“

Sie nickte.

„Vielen Dank noch mal, ihr beiden.“ Sie brachte Magnus und Maik zur Haustür und sah dem Wagen einen Moment nach. Dann bereitete sie das Gästezimmer für Silke vor, die inzwischen den Fernseher eingeschaltet hatte. Formel Eins verpasste sie nie. Eva setzte sich zu ihr, steckte die verbogene Haarnadel in das noch verriegelte Schloss des Koffers und bewegte sie hin und her.

„Die Frisur ist doch total bescheuert.“ Silke mochte Tina Turner nicht, die auf Platz eins war.

„Mir egal, ehrlich gesagt. Besser als das ewige Gedudel von … ups.“

Eva erschrak, als es plötzlich Klack machte.

Das Mädchen mit dem weißen Schal

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