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3. Sommer

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Frankfurt, August 1985

Eva konnte die Dreistigkeit ihrer Freundin kaum fassen. Das kleine Luder hatte sich einfach selbst eingeladen. Dann sollte Magnus auch Maik zum Grillen mitbringen. Julius war nicht gerade begeistert bei der Vorstellung, ihn so bald wiederzusehen.

„Musst du dieses Brot unbedingt anrufen?“

„Komm, so schlimm ist er nicht.“

„Ist er doch“, insistierte Julius. „Wenn du hören könntest, was der als Musik bezeichnet.“

„Da bist du aber auch ziemlich speziell.“

„Nicht speziell. Klassisch.“

„In deinem Alter ist das speziell.“

„Was bin ich froh, wenn ich nicht mehr der kleine Bruder bin.“

„Ich muss dich enttäuschen. Das bleibst du für immer.“

„Ach. Ach.“

„Da fällt mir ein: Habe ich dich eigentlich eingeladen?“

Julius hob eine Augenbraue. „Ich wohne hier. Natürlich hast du mich eingeladen.“

„Ich …“, betonte Eva, „… dulde dich hier. Das ist etwas ganz anderes.“

„Du duldest mich? Dass ich nicht lache, Mädchen.“

„Nenn mich nicht Mädchen. Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst …“

„Moment, das ist immer noch Wolframs und Barbaras Tisch.“

„Lass unsere Eltern aus dem Spiel! – Mein Tisch, meine Regeln.“ Eva konnte sehr streng klingen, aber Julius blieb unbeeindruckt. „Na, schön, natürlich bist du eingeladen.“

„Sage ich doch, Schwesterlein.“

„Aber nur, wenn du diese albernen Verniedlichungsformen unterlässt, verstanden?“

„Ja, ja.“ Julius trollte sich ins Wohnzimmer.

„Und du kümmerst dich um die Kohle und den Grill, ja?“

„Liebend gern“, brummte er, ließ sich auf die Couch fallen und schob noch ein leises Schwesterlein hinterher.

„Das habe ich gehört. Du bist ein Mistkäfer, nur damit du es weißt.“

Magnus war langsam unterwegs. Seine Vorbilder fuhren tief liegende, dunkelgrüne Plymouth-Cabrios aus den Siebzigern mit bollerndem Motor an frühen Sommerabenden in Richtung Key West mit einem gleichmäßigen, rhythmischen Rumpeln, wenn sie über die Dehnungsfugen im Highway rollten. Nie würde er seinem Mercedes-Coupé W114 mehr Geschwindigkeit als nötig abverlangen. Er hatte das Auto von seiner Mutter geerbt. Als Kind durfte er auf dem Klappsitz vorne in der Mitte sitzen, direkt neben Rainer, wenn der mit ihnen in den Urlaub nach Italien fuhr. Dann allerdings hatte einmal ein Carabiniere sehr böse geguckt und gesagt, so einen Sitz in der Mitte dürfe es gar nicht geben. Er hatte mit seiner Maschinenpistole so einen Eindruck auf den kleinen Magnus gemacht, dass der doch lieber hinten sitzen wollte für den Rest der Fahrt. Er hatte gar nicht gewusst, dass Rainer Italienisch sprach.

Maik sah sich regelmäßig Rallyes im Fernsehen an, fuhr einen Golf GTI und ließ kein Ampelrennen aus. Auf Magnus’ Beifahrersitz litt er still vor sich hin, träumte von scharfen Haarnadelkurven und hielt den Kopf aus dem Beifahrerfenster in die warme Luft. Er hatte Lust auf eine Zigarette. Das benommene Gefühl, das der Qualm noch verursachte, war angenehm. Seine Mutter rauchte viel. Ihr Lachen klang fast wie Husten, sie war Anfang vierzig, also uralt. Er hoffte, in seinem richtigen Leben angekommen zu sein, wenn er so alt war wie sie, denn sein jetziges Leben konnte unmöglich das sein, was für ihn vorgesehen war. Seit er denken konnte, war er auf der Durchreise. Sein Kumpel neben ihm hatte längst gefunden, was er selbst so vermisste – eine Berufung. Magnus spielte besessen, stundenlang. Man konnte spüren, dass er die Musik liebte. Er wusste, was er wollte, auch wenn er nicht darüber sprach und es vielleicht selbst noch nicht so ganz begriffen hatte. Die Mädchen hatten es auf jeden Fall kapiert, wenn sie ihm zuhörten. Was er da von einer Banklehre gefaselt hatte – Maik würde diese Scheiße notfalls aus ihm rausprügeln. Bei aller Freundschaft machte Magnus’ Ruhe ihn manchmal wahnsinnig. Immer ging es ihm gut. Erst ein einziges Mal hatte Maik erlebt, dass sein Freund sich aufgeregt hatte. Sophie de Chamelon aus der Elf war gestolpert und auf seine Gitarre getreten. Der Hals war abgebrochen. Magnus wollte sie danach nicht mehr sehen. Maik tat sie leid. Die Liaison mit Magnus hatte ihr enormen Sozialstatus verliehen, den sie sonst wegen ihrer enormen Größe nicht hatte. Sie würde bestimmt mal Model werden. Magnus würde seinen Ausraster dann sicher bereuen, aber er konnte ohnehin jede haben. Meistens behandelte er seine Mädels fair, fand Maik.

Er selbst hatte keine richtige Lust auf das Getue darum, wer mit wem geht. Beziehung war ein komisches Wort, das bei den Streits seiner Eltern oft fiel. Freundschaft mit Anfassen war besser, aber da war für ihn nichts in Sicht. Die Lust auf eine Zigarette wurde stärker.

„Ein heißer Feger, deine Cousine. Intelligent, und geil dazu. Das ist selten“, stellte er fest.

„Ja, sie ist eine ganz Nette. Ich dachte, du stehst mehr auf Silke.“

„Die machst du mal besser klar. Die wird ja schon feucht, wenn sie dich nur ansieht. Steht vermutlich auf den Typ Rockstar.“

Magnus war nie ganz sicher, ob Maik nicht neidisch war auf seine vielen Einladungen in die Mädchenzimmer. Nach ein bisschen Gitarrenspiel musste er nicht mehr viel machen. Fast war ihm das peinlich. Er hasste es, wenn sie seinetwegen traurig waren. Mehrfach hatte er sich vorgenommen, in der Schule keusch zu bleiben. Laura hatte tagelang geweint und ihn ein Schwein genannt, dabei hatte er ihr deutlich gesagt, dass er keine Beziehung wollte. Ihre Antwort war, sie sei eine erwachsene Frau und wolle nur spielen. Dann hatte sie ihn mit Mund und Händen so heiß gemacht, dass sein Verstand ausgesetzt hatte. Eine Woche später hatte er Lust gehabt, mit Wiebke essen zu gehen. Sie war jung, aber vielseitig interessiert. Sie spielte im Schultheater. Das gefiel Magnus, Laura aber nicht. Nach ihrer Szene musste er beim Vertrauenslehrer antanzen und erklären, was er mit ihr angestellt habe. Ähnlich spielte es sich mit Verena ab.

Immerhin war er seither mit Wiebke befreundet. Sie gingen spazieren, Magnus beriet sie bei Liebe, Sex und Zärtlichkeit und half ihr, einen Partner für den Abschlussball der Tanzschule auszusuchen. Dafür nannte sie ihn Dr. Sommer und hörte sich seine unfertigen Stücke an. Auch mit Maik kam sie klar. Sie ließ sich von seinen Sprüchen nicht beeindrucken. Auf ihren Rat hin hatte Magnus angefangen, Maiks Vorzüge zu preisen, wenn Frauen in der Nähe waren und er als Gitarrengott im Mittelpunkt stand. Ein wertvoller Tipp. Maik fand die weibliche Aufmerksamkeit offenbar auch ganz angenehm.

„Silke ist nett, keine Frage – ich bin nicht sicher, ob wir so viele Gemeinsamkeiten haben.“

„Du meinst, sie hat die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen?“

„Arme Silke, sie hat dir doch nichts getan.“ Magnus dachte an Silkes rosig-süße Fruchtkaugummi-Erotik, die ihn nicht unbeeindruckt gelassen hatte.

„Sie mochte Metallica nicht. Das reicht.“

„Du hast recht, das ist ein Problem“, befand Magnus kritisch.

„Überhaupt wäre es toll, wenn die Ladys sich in einen Kasten Bier verwandeln nach dem Abspritzen.“

„Ich dachte, du glaubst an die große Liebe?“ Magnus hatte es nicht fassen können, als Maik ihm das einmal im Suff gestanden hatte. Er wäre dafür sogar bereit, hatte er gelallt, von Actionfilmen auf französische Gesprächsorgien umzusteigen.

„Ja, später. Jetzt müssen wir die Sau rauslassen, Alter. Wir sind jung, gebildet und schön. Später wollen sie nur noch unser Geld.“

Magnus seufzte.

„Manchmal denke ich, ich sollte Geld dafür nehmen, dass ich mir deine Sprüche anhöre.“

„Arschloch.“

„Selber Arschloch.“

Beide versuchten, möglichst dreckig zu lachen.

Eva war enttäuscht. Sie hatte keine Goldmünzen erwartet, aber mehr als einen Haufen Papier. Keine silbernen Löffel, keine alte Spieluhr, keine Fotos. Die Unterlagen in dem Koffer wirkten so aufregend wie ein Stapel alter Schulhefte. Das Hakenkreuz auf der obersten Mappe machte das Ganze so unsympathisch, dass sie gar nicht wissen wollte, worum es da ging. Sie öffnete mit spitzen Fingern den Pappdeckel. Ein Brief, englisch, an Albert Slane von einem Herrn Müller. Die Tinte des großen Confidential-Stempels war verblasst. Sie klappte den Deckel wieder zu. Am Rand des Koffers steckte ein Bündel Briefe. Eva nahm es heraus – ungefähr zwanzig Umschläge in unterschiedlichen Größen und Farben, mit Paketkordel verschnürt. Auf dem obersten las sie den Namen der Adressatin: Anna Brandt in Frankfurt. Absender war ein Georg Drache, anscheinend bei allen. Sie legte die Briefe zurück und nahm sich vor, am nächsten Tag noch mal einen Blick darauf zu werfen. Langsam klappte sie den Koffer zu. Gleich würde es klingeln; Julius hatte schon das Feuer angemacht, sie roch den Anzünder. Sie stand auf und besah sich im Spiegel, zog ihre Jeans zurecht, prüfte den Sitz ihrer Bluse. Sie entschied sich, noch einen Knopf zu öffnen. Dann machte sie ihn wieder zu. Dann öffnete sie ihn wieder. Einmal noch die Haare hinter die Ohren klemmen. Die Ohrringe passten zur Bluse. Der Armschmuck war unpraktisch, aber das war egal. Irgendwie musste sie ja gegen Silke anklimpern.

Erst als sie nach unten ging und auf dem Weg in den Garten durch die Türklingel gebremst wurde, fiel ihr auf, was an den Briefen interessant war.

Sie waren ungeöffnet.

„Hallo“, sagte Magnus. Diesmal bekam Eva einen Kuss auf die Wange. Ohne zu wissen, dass es Benetton war, mochte Magnus ihr Parfüm. Er hatte seine Gitarre mitgebracht.

„Hi“, grüßte Maik. Er stutzte bei Evas Anblick.

Sie ging auf ihn zu und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Kommt“, sagte sie.

Magnus folgte ihr.

Maik blieb noch eine Weile benommen stehen. Ein Kribbeln am Hals – Shampoo, Creme, was auch immer, er war bezaubert. Er tastete nach seinen Zigaretten und versuchte, seine Haare doch noch zu bändigen.

Auf der Terrasse machte Julius sich am Grill zu schaffen. Silke lümmelte bereits auf einer gepolsterten Liege. Davor lagen rosafarbene Flip-Flops. Kettchen und Ringe schmückten ihre Ohrläppchen, Hand- und Fußgelenke, ihre Finger und sogar ihre Zehen. Unter dem dünnen T-Shirt zeichneten sich die Brustwarzen ab.

„Na?“ Maik stellte sich neben Julius.

„Na?“

„Was gibt es denn Gutes?“

„Fleisch.“

Maik sah hinüber zu Silke, die davon nichts mitbekam. „Das sehe ich.“

Julius folgte seinem Blick, grinste still und fachte die Glut mit einem Pappdeckel an.

„Hallo Magnus“, hauchte Silke und gab ihm einen Kuss auf die Wange, als er sich zu ihr auf die Liege setzte. Maik winkte sie nur.

„Wollen wir eine Wette abschließen?“, flüsterte Maik Julius zu.

„Ich bin zwar klein, aber nicht doof. Hier ist ja wohl alles klar. Fehlt nur noch, dass sie fragt, ob sie ihm ein Bier bringen kann.“

„Dann eben keine Wette. Schade, ich hätte ein paar Mark extra gut gebrauchen können. Wo ist hier die Toilette?“

„Direkt beim Eingang, links. Licht ist außen.“

„Danke.“

Maik ging hinein. Vielleicht ließ sich an seiner Frisur noch etwas machen. Er wollte gut aussehen. Im Flur blieb er an einer Wand voller Fotos stehen. Säuglinge, Evas Eltern am Strand, beim Spielen mit ihrer Tochter, Julius auf dem Schoß einer älteren Frau. Maik dachte an sein Zuhause. Dort hingen nur Bilder, die angeblich gute Wertanlagen waren und Besucher beeindruckten. Er war immer neidisch gewesen, wenn jemand auf eine kleine Schwester aufpassen musste oder mit einem großen Bruder drohen konnte. Andächtig schlenderte er ins Esszimmer. Der lange Tisch sah benutzt aus. Krümel, Stifte, beschriebene Notizzettel, ein aufgeschlagenes Buch und eine halb abgebrannte Kerze. Hier wurde gemeinsam gegessen und diskutiert, nicht nur an ein paar Festtagen im Jahr. Bestimmt gab es hier kein gutes Porzellan nur für Gäste. Wenn sein Vater mit den Goldrand-Tellern prahlte, wollte Maik ihn am liebsten anschreien, dass er ein Versager war, wenn er sich keine komplett goldenen Teller leisten konnte.

Das Esszimmer öffnete sich zum Wohnzimmer. Maik schritt wie durch eine Kirche. Links am Fenster stand ein lederner Sessel, darauf eine zerlesene Zeitung, beschienen von einer Stehlampe aus Messing. Die Überschrift auf der Zeitung fiel Maik ins Auge – Ein Bild vom alten Gringo –, darunter das Foto eines Ölgemäldes. Die Rubrik hatte einen unaussprechlichen Titel, der mit „Feuille…“ irgendwas begann. Hinten in der Ecke stand ein Klavier. Wer wohl darauf spielte? Natürlich war es kein weißer Flügel wie daheim – natürlich.

Es roch nach Pfeifentabak, auf einem Beistelltisch sah Maik einen Aschenbecher und zwei Pfeifen liegen. Er mochte den Geruch viel lieber als den der Zigarillos seiner Mutter. Das hier war anscheinend die Arbeitsecke von Herrn Siebeling. Was auch immer er hier machte, es fand inmitten der Familie statt. Sein eigener Vater schloss sich gern ein. In seinem Arbeitszimmer glotzten stumm die ausgestopften Ergebnisse seiner Jagdleidenschaft von den Wänden. Ein aus einem Elefantenfuß gefertigter Papierkorb sollte Rücksichtslosigkeit und Stärke symbolisieren. Goldgefasste Schnitzereien aus Elfenbein machten auch dem Dümmsten klar, dass der Sohn des Hauses ein armer Tropf war.

Maik war durch, dort ging es in die Küche. Er konnte Eva durch die offene Tür sehen. Sie band gerade die braunen Haare zu einem Zopf zusammen, dann beugte sie sich wieder über die Arbeitsplatte und schnitt eine Zucchini. Der Klang ihrer Armreifen fuhr ihm direkt ins Herz. Er sah ihr zu, eine, zwei Zucchini lang, genoss leidend den Anblick ihrer nass glänzenden Hände, hing an jeder ihrer Bewegungen. Jetzt waren Karotten dran. Er hielt es nicht mehr aus.

„Kann ich dir helfen?“, fragte er.

Eva erschrak.

„Äh, nein. Es sei denn, du bist passionierter Gemüseaufschneider.“

„Aufschneider ja, Gemüse nein.“

Eva sah ihn verwundert an, dann schnitt sie weiter.

„Das wundert mich nicht, ist dein Vater nicht … so eine Art Metzger?“

Maik seufzte.

„Ja, Fleischproduzent offiziell. Metzger ist aber auch richtig, zumindest hat er das mal gelernt. Ich …“ Weiter kam Maik nicht, Magnus stand in der Tür.

„Kommt ihr? Das Fleisch ist fertig. Julius ist ein echter Meistergriller.“

Maiks und Evas Blicke trafen sich kurz. Dann sah sie sein T-Shirt, auf dem ein Spruch prangte – Bier formte diesen schönen Körper. Sie fand, dass er traurig aussah, das Lächeln war nicht echt.

„Komme“, rief er Magnus hinterher. „Lass wissen, wenn du Hilfe brauchst“, sagte er noch zu Eva.

Der Abend blieb warm, der Himmel war klar. Julius wedelte, pustete und wendete.

„Ich hoffe, ihr Banausen seid in der Lage, meine Kunst zu würdigen.“ Stolz belud er einen Teller mit Koteletts, Bratwürsten und Lammfleisch. Evas Eltern hatten vor ihrer Abreise großzügig für Verpflegung gesorgt.

„Du bist zwar klein und dünn, aber du bist der Grillmaster“, lobte Maik mit vollem Mund.

Julius nickte gönnerhaft. Selbst wenn Maik blöd war – mit Fleisch musste er sich auskennen, also war ein Lob aus seinem Mund nicht zu unterschätzen.

„Spielst du uns gleich was vor?“, fragte Silke Magnus schmatzend.

Na klar spielt er dir auf der Gitarre vor, dachte Eva, wenn du ihm dann auf der Flöte vorspielst. Sie errötete unbemerkt.

„Gern. Auch wenn Maik mich dann für einen Angeber hält.“

„Tue ich nicht, ich bin nur neidisch, Alter.“

„Klingt ja spannend“, sagte Eva. Wenn er spielte, ließ er wenigstens die Finger von Silke.

Nach dem Essen legte Julius ein paar Holzscheite nach. Die Sonne ging unter. Magnus stimmte die Gitarre. Er machte es gern spannend. Eitel war er natürlich auch. Wozu sonst der Aufwand? Mit dem Publikum zu spielen gehörte einfach dazu.

Julius freute sich, Bier trinken zu können, ohne dass seine mahnende Mutter zugegen war. Maik klappte seine Lehne nach hinten. Er wusste, dass er für die nächste halbe Stunde komplett abgemeldet sein würde. Er gönnte seinem Freund die Show und hörte selbst ganz gerne zu.

Es brauchte wie üblich nur drei oder vier Griffe, dann war klar, dass Magnus es richtig gut draufhatte. Eva bekam zu ihrem Ärger eine Gänsehaut und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, mit ihrem schönen Cousin durch eine spanische Altstadt zu flanieren. Kein kleiner Bruder, keine lästige Freundin, kein sperriger Maik würde sie stören auf dem Weg ins Hotel. Sie machte die Augen auf und sah den flinken Fingern von Magnus‘ linker Hand zu.

Maik versuchte sich an einer ähnlichen Vorstellung. In seiner Fantasie lag die Altstadt in Frankreich, aber solange Eva neben ihm saß, konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Er holte seine Zigaretten heraus, zündete eine an und inhalierte tief. Als er sich zurücklehnte, bemerkte er, dass Eva ihn ansah – missbilligend, wie er fand.

Nach dem Konzert, das selbst den kritischen Julius erstaunt hatte, saßen sie bis kurz nach Mitternacht zusammen. Maik und Magnus gaben Anekdoten aus ihrer Schule zum Besten. Betuchte Eltern parkten ihre Sprösslinge dort und bezahlten viel Geld dafür, dass früh die richtigen Netzwerke geknüpft wurden. Man blieb unter sich, Adel auf dem Radl, Kronprinz hier, Hoheit da, Riesentheater, wenn die Eltern kamen. Ihre Normalität verlieh Magnus und Maik Exotenstatus. Sie wurden zurate gezogen in Fragen, die das gemeine Volk betrafen. Leonie Freiin von Lübeck hatte Maik gefragt, wie es denn so sei als einer von ihnen, was es zu beachten gebe, da sie doch in Gstaad einem einfachen Schweizer Naturburschen begegnet und tief von ihm beeindruckt war. Als Maik gefragt hatte, was oder wer mit „einer von euch“ gemeint war, hatte Leonie ihn verständnislos angeblickt und etwas ungeduldig ergänzt: „Bürgerlich natürlich, was denn sonst?“ Maik hatte der drei Jahre jüngeren Leonie geduldig erläutert, dass sie es durchaus mit üblicher Konversation versuchen könne, auch Briefe seien nicht zu altmodisch. Wenn der Kandidat darauf nicht angemessen reagiere, habe eine Beziehung ohnehin schlechte Chancen. Das hatte sie überzeugt und sie war noch am selben Abend zur Tat geschritten. Über den weiteren Verlauf der Sache war Maik allerdings nicht unterrichtet worden.

Magnus war bei der Ankunft einer neuen Schülerin aus England einmal von einem Mann mit Sonnenbrille angesprochen worden, nachdem er Maik zugeflüstert hatte, die Neue hätte entfernte Ähnlichkeit mit Sean Young, die ihm seit Blade Runner und Wüstenplanet in mehr als einem feuchten Traum begegnet war. Die beiden Jungs hatten in der Sonne herumgelungert, als die Limousine vorfuhr. Der breitschultrige Mann war schlendernd zu ihnen gekommen und hatte sich zu Magnus geneigt. „No funny stuff, u hear me, mate? Touch this pre’y young flower n I snap ur bones like nothin. Hear me?“ Er sprach leise, aber Magnus konnte alles gut verstehen. Der Mann sah nicht sehr humorvoll aus. Wie sich später herausstellte, war Deborah die Tochter eines britischen Milliardärs. Magnus kam schon deswegen nicht in Versuchung, weil sie nach nur sechs Monaten mit einer Überdosis ins Krankenhaus eingeliefert wurde und danach nie wiederkam. Ein paar Tage sah Magnus sich danach öfters um, wenn er draußen war, nur um sicherzugehen, dass niemand ihn zur Rechenschaft ziehen wollte für funny stuff, mit dem er gar nichts zu tun hatte. Maik hatte ihn nur ausgelacht, aber was wusste man schon? Ein Milliardär konnte Profis anheuern, ihn verschwinden lassen und danach der Schule eine neue Sporthalle spendieren, damit alle den Mund hielten. Magnus hielt das nicht für so abwegig.

„Mehr Irrenanstalt als Schule, wie?“, spöttelte Julius.

„Ungefähr die Hälfte von dem, was Magnus erzählt, stimmt“, bestätigte Maik.

Magnus schoss mit Oliven, Maik feuerte mit Silberzwiebeln und Gürkchen zurück.

Silke schrie auf, als eine Zwiebel in ihrem Schoß landete. Als Maik langsam mit der Hand in ihre Richtung langte, sprang sie auf und machte einen Schritt rückwärts.

„Nun hab dich doch nicht so, du willst es doch auch.“ Maiks Zunge war schwer.

„Nein, du Esel, ich will es nicht!“, kreischte sie.

Eva fand ihre Freundin zu streng.

„Maik, auch eine Frau hat Gefühle“, erklärte sie ihm. „Du musst sie fragen. Sie muss wissen, ob du es ernst meinst. Sprich mir nach: Liebe Silke …“

Maik schüttelte den Kopf, aber ließ sich darauf ein.

„Liebe Silke, …“

Eva nickte bestätigend.

„Willst du meine Frau werden, damit ich in dein T-Shirt langen kann?“

„Ich will ihr doch an die Hose“, verbesserte Maik.

Silke schrie wieder auf. „Hey, ich dachte, du bist meine Freundin.“

Maik schüttelte den Kopf. „Das scheint mir alles ein bisschen übertrieben. Ich wollte nur helfen.“

„Natürlich, das wollt ihr immer.“ Eva sah zu Magnus. „So ist es doch, gib es zu, Cousin!“

„Ich protestiere. Weiß zwar nicht genau, wogegen, aber ich protestiere. Und ihr und immer … da kann ich gar nicht drauf.“

„Papperla…papp.“ Eva merkte den Rotwein.

Julius hing faul auf seiner hochgeklappten Liege und interessierte sich nicht für das Geplänkel. Er zählte Sterne und genoss den Rausch.

„So, ihr Lieben, bevor ihr anfangt, mit Tellern und Besteck zu werfen …“ Eva fand das Durcheinander amüsant, aber ihre Grenze war erreicht.

Silke lachte über praktisch alles, was Magnus sagte. Ihr Fuß war in seinem Hosenbein verschwunden, er hatte offenbar nichts dagegen. Bis auf ein Bier war er nüchtern geblieben.

„Och, Schwesterlein, warum so ungemütlich?“, quengelte Julius.

„Du kannst ja bleiben, aber dann räum hinterher auch den Tisch ab. Angeblich soll es heute noch regnen. Ich muss jetzt erst mal diese Fremden hier loswerden.“

„He, he,“ protestierte Magnus, „erst spiele ich mir hier die Finger blutig, und dann servierst du mich so ab? Ich fühle mich benutzt.“

„Du wirst darüber hinwegkommen“, tröstete ihn Eva leicht schnippisch.

„Hast du eigentlich noch mal versucht, den Koffer aufzubekommen?“, fragte Maik, um den Aufbruch noch etwas zu verzögern.

„Ja, geschafft. Mit deiner Haarnadel.“

„Respekt. Aber Baby, es war deine Haarnadel, so viel Zeit muss sein. Ich habe sie nur verbogen.“

„Und, was ist drin?“ Magnus war neugierig.

„Weder Gold noch Edelsteine. Ich muss euch enttäuschen.“

„Was denn, Eva, bitte?“ Maik saß auf der vordersten Kante seines Stuhls und stemmte die Fäuste auf die Knie.

„Papiere, Listen, sieht aus wie … keine Ahnung, wie Sparkassen-Kontoauszüge. Langweilig.“

„Sonst nichts?“

„Nein, lieber Maik. Ein paar Briefe noch, aber sonst kein spannender Nazi-Kram oder wie du das genannt hast.“

Enttäuschung war auf allen Gesichtern zu lesen. Nur Julius sah interessiert aus.

„Papiere können auch interessant sein. Das heißt, wenn man lesen kann. Ich verstehe schon, dass euch das zu kompliziert ist. Vielleicht werfe ich mal einen Blick drauf, ich bin gut im Lesen.“

„Hört, hört, die kleinen Leute auf den hintersten Plätzen haben die größte Klappe.“ Markus gähnte.

„Wer so lange Haare hat wie du, sollte den Mund halten und sich schämen“, konterte Julius.

„Was, wieso Haare?“

„Pass bloß auf, ich sage nur Struwwelpeter.“ Julius liebte es, mit sinnlosen Rätseln Verwirrung zu stiften.

Magnus dachte tatsächlich nach, während Silke und Maik ins Haus gingen.

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, stand Eva noch am Fenster. Magnus bestand anscheinend darauf, Silke nach Hause zu fahren. Geschickt zierte sie sich, während Maik und Magnus gleichzeitig auf sie einredeten. Na, nun mach schon, dachte Eva und spürte einen Knoten im Magen, als Magnus die Beifahrertür für Silke aufhielt. Sie sah dem Wagen eine Weile nach. Dann stand Julius plötzlich hinter ihr.

„Mein Gott, Schwesterherz, das ist Verwandtschaft. Ich gebe ja zu, dass er ein ziemlicher Knaller ist. Und Maik …“

„Tsss“, entfuhr es Eva.

„Wie lange sind die Dreamboys denn noch hier?“

„Eine Woche. Glaube ich.“

„Besser, du vergisst das. Willst du dreiäugige Kinder haben? Oder welche mit zwei Köpfen?“

„Ach was. Cousin, was heißt das schon? Ich bin sicher, an jedem Königshof wird da ohne Skrupel geheiratet.“

„Wir sind hier aber nicht bei Königs.“

„Ich weiß … danke.“

Sie räumten den Tisch ab und gingen schlafen.

Eva drehte sich von einer Seite auf die andere. Sie machte das Licht wieder an, schlug Das Geisterhaus auf Seite 232 auf und las. Als sie merkte, dass sie Seite 239 zum dritten Mal las, schlug sie das Buch wieder zu, machte das Licht aus und starrte in die Dunkelheit. Nach einer Weile stand sie auf, ging zum Fenster und sah auf die Straße hinaus. Draußen regte sich nichts außer flatterndem Gewimmel im Schein der Straßenlaternen. Sie legte eine Hand zwischen ihre Beine, die andere auf die Brust. So stand sie eine Minute, dann nahm sie schmollend das Schaumstoffkissen von ihrem kleinen blauen Sofa mit ins Bett.

Am nächsten Morgen wachte sie gut gelaunt auf. Die Sonne schien ins Zimmer. Sie kniete sich vor ihr Bett, zog den Koffer heraus, klappte den Deckel auf und nahm das Briefpaket. Sie versuchte, den Knoten zu lösen. Nach einigen Minuten gab sie es auf und rupfte den obersten Brief einfach heraus – ein Umschlag aus dickem Papier. Die Handschrift war krakelig, unregelmäßig. Sie verdrängte das schlechte Gewissen und riss ihn auf.

Nachdem sie den Brief gelesen hatte, beschloss sie, ihre Großmutter im Krankenhaus zu besuchen. Wie Eva von ihren Eltern gehört hatte, ging es ihr täglich besser. Zumindest schimpfte sie viel. Die Vorstellung, nicht in ihr Elternhaus zurückkehren zu können, schmerzte mehr als die Wunde am Kopf. Die Vergesslichkeit machte sie rasend, wenn sie einen lichten Moment hatte.

„Barbara, das ist aber lieb von dir, dass du mich besuchen kommst.“ Marias Gesicht hellte sich auf, als ihre Enkelin in das Zweibettzimmer kam.

Ratlos ignorierte Eva, dass die Oma sie für ihre Tochter hielt.

„Wie geht es dir? Wie fühlst du dich?“ Eva vermied einen mitleidigen Ton. Darauf reagierte Maria allergisch.

„Alt“, konstatierte ihre Großmutter trocken. „Es geht halt nicht mehr so wie früher. Wie geht es dem Haus, erzähle! Seid ihr fertig geworden?“

„Ja, Mama und Papa hatten schon das Meiste vorbereitet. Alles so, wie du es wolltest. Du musst dir keine Sorgen machen, habe ich gehört, deine Sachen kommen in gute Hände.“

Marias Augen glänzten, sie sah zum Fenster.

„Ich habe immer da gewohnt, weißt du? Schlimme Zeiten waren das früher, ein paar gute Jahre hatten wir, dann du … Eva? … Ja, deine Eltern, das war so schön. Jetzt sitze ich hier und habe noch nicht mal die Anstalt gesehen, in die ihr mich stecken wollt.“

„Das ist keine Anstalt. Eine sehr gute, renommierte Adresse. Da hast du auf Knopfdruck alles, was du brauchst. Es ist bestimmt nicht so schlimm. Jedenfalls keine Anstalt. Und wir stecken dich auch nicht da rein, ihr habt doch monatelang darüber gesprochen.“

„Ach“, seufzte Maria. Auf ihrem Gesicht hatten ernste Mienen ihre Spuren hinterlassen. Sie war eine attraktive Frau gewesen, sicher hatte der ein oder andere Mann bei ihr sein Glück versucht, nachdem ihr Erwin sie früh verlassen hatte.

Eva lenkte langsam auf das Thema, dessentwegen sie gekommen war. Beste Freundinnen waren sie nie gewesen. Maria war immer eine Respektsperson geblieben.

„Wir haben den Speicher ja auch leer geräumt. Was sind das eigentlich für Sachen da oben?“

„Speicher? Ach ja, alles, was sich in den letzten hundert Jahren angesammelt hat.“

„Kennst du einen Georg Drache?“

„Drache … nein. Wer soll das sein?“

„Und eine Anna Brandt?“

Maria sah wieder zum Fenster. „Saßen die beiden auf meinem Speicher?“

Eva war erstaunt. War das Schlagfertigkeit oder einfach so dahergesagt?

„Nein. Briefe waren da, Briefe von Georg Drache an Anna Brandt.“

„Mein Gott, wenn ich wüsste, was da alles gelandet ist. Dein Urgroßvater hat schon in dem Haus gewohnt, mein Vater, kannst du dir das vorstellen? Und der arme Gustav. So lang her.“

„Stimmt, das … die Briefe sehen aus, als hätten sie schon ein paar Jahre auf dem Buckel.“

„Leider kann ich dir da nicht helfen. Anna hieß die Frau von meinem Bruder, aber Brandt … vielleicht der Mädchenname. Da müsstest du mal Onkel Janus fragen. Falls der noch lebt.“

Eva horchte auf, den Namen Janus hörte sie zum ersten Mal.

„Onkel Janus?“

„Der Bruder meiner Mutter, dein Urgroßonkel. Er hat sich um den Verstand gesoffen.“

Eva fand heraus, dass Janus in den ersten Jahren nach der Heirat ihrer Urgroßeltern bei ihnen gelebt hatte, dann aber in ein Heim nach München gekommen war.

Dankbar nahm sie Marias Angebot an, ihren Kuchen zu teilen. Die Zimmernachbarin wurde hereingeschoben, eine zittrige kleine Dame, eingesunken in ihren Rollstuhl. Sie saß fast reglos über ihren Kuchen gebeugt. Als sie Maria zum dritten Mal fragte, ob ihr der Kuchen denn schmecke, und Maria geduldig antwortete und dann plötzlich vom Gang volkstümliche Musik ertönte, die ein offenbar schwerhöriger Nachbar laut aufgedreht hatte, da fühlte Eva Mitleid. Sie freute sich, einen Großteil ihres Lebens noch vor sich zu haben.

„Grüß mir den Wolfram, hörst du?“, bat Maria bei der Verabschiedung. „Wann kommt Gustav?“

Eva war peinlich berührt, wusste nicht, was sie sagen sollte.

„Hörst du?“, herrschte Maria sie an.

Eva wich zurück.

„Ich sage ihm Bescheid, alles Gute.“ Sie beeilte sich, aus der Tür zu kommen. Warum bereitete einen niemand auf solche Besuche vor? Sie wollte zu Magnus. Vielleicht konnte sie ihn zu einer Fahrt nach München überreden, den neu entdeckten Onkel besuchen, die Stadt anschauen. Nur schnell weg hier. Leben.

Ihre Tante war überrascht, sie zu sehen.

„Eva, wie geht es dir? Komm rein!“

„Hallo Victoria.“ Magnus‘ Mutter hatte meistens gute Laune. Sie konnte fast als seine ältere Schwester durchgehen. „Was macht das Leben, die Liebe, die Schule?“

„Pubertät unverletzt überstanden. Sagen wir mal so: Die interessanten Jungs mit den hübschen Müttern sind leider alle verwandt mit mir.“

Victoria strahlte.

„Magnus ist oben. Er hat zwar Besuch, aber geh einfach rauf. Mögt ihr einen Tee?“

„Ich gerne.“

„Dann rufe ich, wenn er fertig ist.“

Eva nahm zwei Stufen auf einmal. Einen Moment später stand sie mit hochrotem Kopf in Magnus’ Zimmer. Besuch hatte Victoria nur gesagt. Es war gar nicht Maik. Das Gebirge aus zwei Knien und einem Rücken unter der Decke war unverkennbar.

„Entschuldigung“, murmelte sie und ging rückwärts. Mit einem leisen „Ups“ schloss sie die Tür.

Victoria fragte nicht, warum Eva so eine gesunde Gesichtsfarbe hatte, servierte Roiboos-Tee und erkundigte sich, wie es Wolfram und Barbara ging. Eva fragte mehr beiläufig nach Janus. Mit Victoria musste er ja auch verwandt sein. Tatsächlich kannte Victoria ihn, sie hatte sogar seine Adresse in München. Eva nahm dankend ihr Angebot an, dort anzurufen. Während sie eifersüchtig auf einem Mandelkeks herumkaute, wählte Victoria die Nummer der Residenz Bogenhausen. Dort erfuhr sie von einer gewissen Frau Kerner, dass Janus Steinbach dort lebe, sich bester Gesundheit erfreue und schon lange keinen Besuch mehr bekommen habe. Wer sie denn sei, warum sie sich für ihn interessiere, wollte Frau Kerner wissen. Man habe einige Prominente in der Einrichtung, daher frage sie grundsätzlich nach, um unliebsamen Reporterbesuch zu verhindern.

„Hi.“ Jetzt stand Magnus in der Küche. Er wirkte peinlich berührt.

Eva hatte sich wieder gefangen.

„Auch Tee?“, fragte seine Mutter.

„Äh, ja, bitte.“

Nur um irgendwas zu sagen, sprach Eva von München. Sie hatte gar keine Lust mehr auf den Trip, die Magie war futsch. Zu spät, Magnus schien interessiert. Was auch immer. Victoria schenkte Tee ein.

„Hallo“, sagte Rainer, der viel größer war, als Eva ihn in Erinnerung hatte. „Kann ich auch so einen Tee haben?“

Eva fand, dass Rainer ein ziemlicher Schrank war. Sie hätte sich auch nicht gewundert, wenn er gesagt hätte: „Gib mir Whisky, Baby, die letzte Pulle ist schon wieder leer“. Sie hatte ein Wolf-im-Schafspelz-Gefühl, als er sie freundlich ansah und dabei einen Schluck Tee schlürfte.

Hinter ihm kam Silke in die Küche. Die langen blonden Haare hatte sie nach hinten gebunden. Das enge graue T-Shirt saß schief. Als ihre Blicke sich trafen, wusste Silke, was los war. Sie wurde sauer. Eva war seine Cousine. Sonst hätte sie sich schon zurückgehalten. Sie war nur einmal jung. Wenn Männer rummachten, waren sie tolle Hechte, und sie sollte eine Schlampe sein, nur weil sie wusste, was sie wollte? Das fand Silke ziemlich blöd. Es war ihr auch egal, dass sie so einen Ruf an ihrer Schule hatte. Die verklemmten Hühner würden schon sehen, wohin sie das führte. Vermutlich in genau dieselbe Misere wie Silkes Mutter, die mit einem Juraprofessor verheiratet war, der seine Frau Mutti nannte, den sie zum Einkaufen von Mandarinen und Reis schickte und der dann Orangen und Grieß brachte. Das würde ihr auf gar keinen Fall passieren. Magnus war ein echter Gentleman, auch wenn Silke wusste, dass es nicht mehr als ein paar Momente mit ihm geben würde. Dafür sah er Eva zu oft an. Das war … krank … auch irgendwie süß, wie im Fernsehen. Eva würde sich beruhigen. Außerdem war es ja nicht gerade so, dass Silke die Hübsche und Eva das hässliche Entlein war. Sie lächelte etwas angestrengt.

Eva war bedient, Selbstmitleid inmitten einer Menschenansammlung war einfach unmöglich. Sie entschuldigte sich unter einem Vorwand. Erst im Flur holte Silke sie ein.

„Alles klar?“, fragte sie.

Eva blieb stehen, drehte sich um und ging schnell zu ihrer Freundin, wie um ihr ordentlich die Meinung zu geigen. Dann stand sie vor Silke, nahm den speziellen Geruch wahr und seufzte.

„Ach … ja. Ich will nur … wir telefonieren.“ Dann küsste Eva Silke auf die Wange. Bevor sie zurückweichen konnte, umarmte Silke sie fest. Eva erwiderte die Umarmung. Maik kam in den Flur und schlich zurück in die Küche, als er die Situation sah. Als Silke Eva nach einer Minute wieder losließ, hatten beide Tränen in den Augen.

Seit Monaten hatte er nicht mehr so weit zurückgedacht. Janus saß lange am Fenster, nachdem Frau Kerner ihn über den Anruf informiert hatte. München war schön im Sommer. Früher hatte er gern im Café Luitpold gesessen und stundenlang dem Verkehr auf der Brienner Straße zugeguckt. Dann war er irgendwann ins Spatenhaus an der Oper gegangen, hatte sich mit seinen nichtsnutzigen Kumpanen eine zünftige Brotzeit genehmigt, dazu Weißbier getrunken, bis er kaum noch gerade sitzen konnte, und dann ein Taxi in die Residenz genommen. Jahre waren so vergangen. Jetzt ging es aufs Ende zu, das merkte er deutlich. Seiner sterblichen Hülle hatte er nie besondere Beachtung geschenkt, hatte sie benutzt, gebogen und gezogen bis zur Neige. Jetzt war dann halt Feierabend. Bald. Sein morgendliches Seniorenkonfekt umfasste mittlerweile eine solche Batterie von Tabletten, dass er danach kaum noch etwas frühstücken mochte und meist mit einer Butterbrezel schon bedient war. Dabei gab es gutes Buffet. Alles andere wäre auch eine Unverschämtheit, bei den Schweinepreisen, die sie hier verlangten. Janus schätzte das junge Personal, das ihm buchstäblich den Arsch nachtrug. Nicht nur die jungen Schwestern, auch der ein oder andere Knabe war ihm mittlerweile begegnet, der sich hätte in Acht nehmen müssen, wenn Janus noch im Vollbesitz seiner Manneskraft gewesen wäre. Dieses Interesse hatte er erst hoch in den Fünfzigern bei sich entdeckt. Das eine oder andere Mal hatte er sein Geld ins Glockenbachviertel getragen und dann bedauert, dass er nicht früher darauf gekommen war. Immerhin, alles andere hatte er im Überfluss gegessen, geraucht, eingenommen und ausprobiert. Er war satt und müde.

Den Versuch, zu vergessen, hatte er aufgegeben. Was er auch tat, es blieb dabei, dass er immer wieder träumte – von dem Tag, an dem unten im Flur diskutiert wurde, als er gerade das Haus verlassen wollte, um für seine Schwester einzukaufen, als er dann die Schüsse hörte, die Stimmen erkannte von Wilhelm und von Rudolf, beides Männer, die Janus immer gehasst und gefürchtet hatte. Er konnte nicht sehen, was sich abgespielt hatte, etwas oder jemand fiel die Treppe hinunter, weitere Schüsse, dann war es kurz still. Er hatte den Atem angehalten, hatte gebetet, dass Gerda keinen Mucks machen würde, auch wenn sie schon seit einigen Stunden betrunken war und dann normalerweise schlief wie ein Stein. Jemand war gegangen, dann war es still gewesen. Gerda hatte gestöhnt hinter ihm in ihrem Schlafzimmer, er hatte wie angewurzelt dagestanden, mindestens fünf Minuten, erst dann einen Blick gewagt über das Geländer nach unten, hatte Wilhelm am Fuß der Treppe in seinem Blut liegen sehen.

Janus hatte nichts gefühlt außer Angst, sicher kein Mitleid mit dem Mann, der ihn stets als Krüppel, als Schwachsinnigen und als wertloses Kanonenfutter bezeichnet hatte. Er hatte seine Schwester geweckt. Sein Instinkt sagte ihm, dass sie verschwinden sollten. Gerda hatte lallend protestiert, er musste sie auf dem Weg nach unten stützen. Sie war erst über den Koffer gestolpert, der im ersten Stock im Weg stand, dann griff sie danach. Er war ihr zu schwer. Sie gab ihn ihm zu tragen, er stellte ihn ab. Sie insistierte, man könne das Haus nicht ohne Gepäck verlassen. Erst als er den Koffer leise fluchend nahm, gab sie Ruhe. Es war Zufall, nicht mehr, nicht weniger. Wilhelms Leiche hatte sie keines Blickes gewürdigt, falls sie ihn überhaupt bemerkt hatte.

Als sie an die Tür der Dienstwohnung von Max klingelten, staunte der nicht schlecht – Janus konnte sich noch gut erinnern an den erstaunten Gesichtsausdruck –: Gerda im Nachthemd, Janus, der Koffer. Max wunderte sich nicht über Gerdas Fahne, aber die beiden am helllichten Tag zu ihren Eltern außerhalb von Frankfurt zu bringen, war doch eine ungewöhnliche Anweisung.

„Order von Wilhelm“, fauchte Gerda ihn an. Sofort hatte Max den Koffer genommen und war vorausgelaufen zum Wagen. Einen Streit mit seinem humorlosen Chef wollte er nicht riskieren, der Feigling. Dann waren sie gefahren, und dann hatte es ein wenig später gebrannt. Janus hatte also recht gehabt, es war nicht vorbei gewesen. Max hatte den Löschzug gerufen, aber Wilhelms Arbeitszimmer und der ganze erste Stock waren wochenlang nicht mehr bewohnbar.

Dass Wilhelm offenbar ein paar wirtschaftliche Fehlentscheidungen getroffen hatte, dass Gerda und er und natürlich auch Gustav und Maria plötzlich mittellos dastehen sollten, das hatte Janus schwer getroffen. Er hatte sich schnell an den Müßiggang gewöhnt, der möglich war, wenn nur alle dachten, dass er nicht bei Trost war. All das hatte zu Ende sein sollen, er hatte bereits angefangen, als Fensterputzer zu arbeiten – die erste Arbeit in seinem Leben. Er machte sie schlecht und er hasste es, sich von einfachen Leuten anschreien zu lassen. Gott sei Dank hatte dann seine Schwester den Koffer geöffnet. Seither waren sie wieder vermögend gewesen. Nach dem Unfall war sein neuer Freund gekommen, der sich um ihn gekümmert und alles bezahlt hatte. Die liebe Gerda hatte ihm rechtzeitig gesagt, was zu tun war, damit die Freundschaft Bestand hatte.

Als Beate Kerner wieder in ihr kleines Büro zurückkam, musste sie in einer Schublade ihres Schreibtisches nicht lange nach dem zerknitterten Zettel suchen, auf dem die Nummer stand, die sie von ihrer Vorgängerin bekommen hatte. Sollte man nach dem alten Steinbach fragen, müsste sie diese Nummer wählen. Ein kauziger alter Freund von Steinbach hätte darum gebeten. Er würde sich nicht lumpen lassen, wenn man ihn auf dem Laufenden hielte. So ganz hatte Frau Kerner das nicht verstanden, aber sie war alleinerziehende Mutter und kam mit ihrem Pflegerinnengehalt so gerade über die Runden. Nicht lumpen lassen klang vielversprechend, auch wenn sich ihr Gewissen dabei regte, ein Ferngespräch von ihrem Dienstapparat zu führen. Vorwahl 001 musste weit weg sein.

Auch das Läuten klang ungewohnt, aber schon nach dem dritten Ton antwortete eine höfliche Stimme – auf deutsch, wie sie erleichtert feststellte.

Das Mädchen mit dem weißen Schal

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