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2. Unschuld

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Frankfurt, August 1935

Gustav liebte seine kleine Schwester. Quietschend vor Vergnügen saß Maria in dem Bollerwagen, in dem er sie rumpelnd durch den Garten zog, um den steinernen Tisch herum, einmal ums ganze Haus, dann gleich noch einmal. Sie wollte immer weiterfahren. Es störte ihn nicht, dass sie als Lohn für die Fahrt kräftig an seinen Haaren zog, wenn er sie aus dem Wagen hob und an die Hand nahm. Sie war noch wacklig auf den Beinen.

Vom ersten Tag an, als die Mutter erlaubt hatte, dass er ins Schlafzimmer kam nach der langen Nacht, nach dem Schreien und dem aufgeregten Hin- und Herrennen, als er sie da winzig liegen sah, war er in sie vernarrt. Einmal hatte er seiner Mutter gesagt: „Gut hast du das gemacht, ab heute kümmere ich mich um sie. Ich nehme sie jetzt.“ Da hatte Gustavs Mutter ihn freundlich angeschaut: „Du bist erst fünf Jahre alt. Wie willst du denn auf sie aufpassen? Ich bin doch da für sie.“ Er hatte in das runzlige Gesichtchen gesehen, das von einer kleinen weißen Haube umrahmt friedlich schlief. Dann hatte er aufgeschaut und entschlossen gesagt: „Ich helfe dir, Mama.“ Sie war einverstanden gewesen. Nur der Vater hatte etwas zu schimpfen gehabt. Anscheinend mochte er Maria nicht so gern, weil sie ein Mädchen war. Vater schimpfte ein paar Tage mit Gustavs Mama, dann weinte sie und war ganz traurig.

Auch wenn sie nicht weinte, sah Gustavs Mutter manchmal traurig aus, sogar wenn sie lachte. Da waren dann Gäste im Haus, Leute in bunten Kleidern, die mit Stiefeln durch die Halle klapperten und knallten. Das fand Gustav gut, wenn sie die Hacken zusammenschlugen. Zack! Aber er fürchtete sich auch und versteckte sich meistens unter der Treppe. Er passte ganz gut durch das winzige Türchen, das in einen kleinen Raum für das Lagern von Koffern führte. Wenn er da drinsaß, konnte er alles hören, was gesprochen wurde. Am allerbesten war, dass er durch die Ritzen zwischen den Brettern sehen konnte, direkt in das Esszimmer. Meistens waren die Gäste laut, riefen und lachten. Dann war Gustav froh, dass er versteckt war – es war ihm doch ein bisschen zu unheimlich. Einen der Herren, die da kamen, fast einmal die Woche, den fand Gustav besonders unheimlich, weil er so groß war, und dick war er auch. Der rote Kopf sah immer so aus, als würde er gleich platzen oder herunterfallen, so eng saß der Kragen. Obendrauf waren wenige Haare, aber sehr gut gekämmt. Der Herr hatte eine Uniform an, in Grau. Vorne hingen allerlei bunte Metallsachen an ihm dran, sogar ein Schwert hatte er dabei. Davor hatte Gustav am meisten Angst, sein Vater aber überhaupt nicht. Auch Gustavs Mutter schien das gar nicht zu stören, wenn der große laute Mann da war, obwohl er doch ein Schwert hatte. Er fasste Gustavs Mutter immer am Kinn, wenn der Vater nicht hinsah, aber Gustav sah es ganz genau. Er beobachtete seine Mutter, wie sie dasaß, mitlachte, immer wieder aufstand, obwohl es doch die Dienstboten gab, wie Vater sie anherrschte. Dann schaute sie kurz ernst, lachte aber gleich wieder. Nach einem solchen Abend hatte er seine Mutter auch einmal ans Kinn gefasst, als sie ihn ins Bett brachte. Sie hatte seine Hand weggenommen und ihn gefragt, warum er das gemacht habe. „Weil ich dachte, du magst das gern“, hatte Gustav gesagt, und das hatte seine Mutter schon wieder traurig gemacht. Sie war sehr schwer zu verstehen, fand er.

Eine Sache war sehr gut daran, wenn der Mann mit dem Schwert kam: Am nächsten Tag gab es in der Küche bei Helene immer die besten und leckersten Sachen – Pudding, Schokoladencreme, leckere Suppe und kleine Hühner, zu denen Helene Wachteln sagte. Davon schaffte Gustav zwei Stück.

Sein Vater Wilhelm machte Gustav Angst. Meistens fand er etwas auszusetzen an seinem Sohn. Ein strammer Bursche sollte er werden.

„Was ist ein strammer Bursche, Papa?“, wollte Gustav einmal wissen, als er ins Arbeitszimmer des Vaters durfte.

„Ein strammer Bursche zappelt nicht, er weint nicht, er setzt sich durch.“ Wilhelm Bornwart betonte das „r“ bei durch.

„Was ist Durchsetzen?“

„Das wirst du noch lernen, mein Sohn.“

„Wann werde ich es lernen?“ Gustav hielt sich an der Armlehne des Bürostuhls seines Vaters fest.

„Schon bald, mein Kleiner, schon bald. Ich werde dich mit allem ausstatten, was du brauchst, um anständig durchs Leben zu kommen.“

„Hast du mich lieb?“, fragte Gustav.

„Das ist eine Frage für Mädchen, mein Sohn. Deine Mutter hat dich lieb, ich bin zuständig für deine Erziehung. Jetzt geh und lass mich arbeiten.“

„Ja, Papa.“ Gustav wandte sich ab.

„Wer setzt dir nur solche Flausen in den Kopf?“, rief der Vater ihm nach.

„Was für Flausen?“, fragte Gustav. Er freute sich, dass sein Vater noch weiter mit ihm sprechen wollte. „Was sind Flausen?“

Wer hat mich lieb – was soll das? Du bist ein Bornwart. Du wirst einmal mein Nachfolger sein. Verstanden?“ Wilhelm Bornwart wurde lauter und Gustav bekam ein Gefühl wie Magenschmerzen.

„Ja, Papa“, sagte er leise.

„Hat deine Mutter dir gesagt, dass du mich so etwas fragen sollst? Antworte!“

„Nein, nein. Entschuldige, Papa.“

Wilhelm Bornwart brummte, dann machte er eine ungeduldige Handbewegung und signalisierte Gustav zu verschwinden.

Gustav fragte sich immer wieder, wie man ein strammer Bursche wäre. Er übte das Füße-Zusammenhauen und schlug sich dabei so fest gegen die Knöchel, dass er umfiel und weinte, so weh tat es. Das schöne Zack hatte er auch nicht hinbekommen. Die lauten Männer mussten sehr harte Knöchel haben. Immer waren das so viele, fast jeden Tag hatte sein Vater Besucher, die merkwürdige Hosen mit ganz großen Taschen an der Seite trugen und viel Krach machten. Wenn er nicht aufpasste und seinem Vater über den Weg lief, betatschten Hände seinen Kopf und der Vater packte ihn am Arm. Da sprach er dann wieder von strammer Bursche und ordentlicher Soldat. Das sollte er sein, der kleine Gustav. Vielleicht würde er dann ein Soldatenschwert bekommen, das wäre nicht schlecht zum Spielen. Gustavs Mutter sagte, er solle lieber kein Soldat werden. Einmal hatte er geweint, weil er Angst bekam bei all dem Brüllen und dem Gelächter. Da hatte sein Vater ihm eine Ohrfeige verpasst, dass er umgefallen und ein Stück über die Fliesen gerutscht war. Dann saß er auf dem Boden und schaute auf zu den Männern, die bei seinem Vater standen. Sie lachten und sahen fröhlich aus. Er hörte auf zu weinen, auch wenn seine Wange ganz schlimm brannte und sicherlich feuerrot war. Sein Po tat ihm weh, die schwarzen und weißen Kacheln waren steinhart. Er verstand, dass Weinen nicht gut war, denn dann wurde alles nur noch schlimmer. Langsam stand er auf. Schon wieder hatte er eine Hand am Kopf, die ihn tätschelte. Er hasste es und kniff die Lippen zusammen. Am liebsten wollte er einfach losschreien, dass sie alle weggehen sollten, die fremden Männer, und sein Vater sollte am besten auch weggehen, raus aus seinem Haus, weg von hier, und am liebsten sollte er nie wiederkommen. Gustav würde mit seiner Mutter allein bleiben und mit der kleinen Maria. Das wäre ein schönes Leben. Aber leider wurde daraus nichts und die Besucher kamen immer wieder, Tag für Tag, Woche für Woche. Gustav saß manchmal stundenlang in der kleinen Kammer unter der Treppe und wünschte sich, er könnte zaubern, sie alle verschwinden lassen und dann mit der Mutter, mit Maria und der dicken Helene in der Küche einen Kuchen essen und einen süßen Pudding und Honigkrapfen – die liebte er besonders. Dann würde er ganz viel Honig an den Händen haben und am Mund, süß und klebrig. Niemand würde mehr schimpfen und ihn vom Tisch wegschicken, ihm sagen, er solle sich waschen und ordentlich machen, weil er sonst eine Schande sei für den Führer. Dabei kannte Gustav diesen Führer gar nicht. Sein Vater hatte ein großes Bild von einem fremden Mann in seinem Arbeitszimmer hängen, hinter sich an der Wand. Als Gustav gefragt hatte, ob das ein Freund von ihm sei, da hatte der Vater laut gelacht und ihn einen Tölpel genannt. „Du bist erst sechs, das kannst du nicht wissen. Das ist kein Freund, das ist der Führer, der Vater von Deutschland, so wie ich dein Vater bin.“ Das fand Gustav traurig, denn dieser Führer sah nicht sehr freundlich aus.

Vor einem Monat hatte Gustav seinen neunten Geburtstag gehabt. Es hatte Zitronenkuchen gegeben. Sogar der Vater war recht freundlich gewesen und hatte ihm ein Messer geschenkt. Damit ließ sich gut schnitzen. Gustav hatte schon eine ganze Reihe kleiner Holzfiguren hergestellt. Er wollte Schach lernen, auch wenn niemand in seinem Haus ihm die Regeln erklären konnte.

Heute war ein schöner Tag, denn gestern Abend war der Vater auf eine Reise gegangen. Er würde eine Weile wegbleiben. Das hieß für Gustav, dass er in dieser Zeit nicht mitkommen musste auf eine der Fahrten durch die Bornwart-Werke. Seit einem Jahr musste er seinen Vater einmal in der Woche begleiten. Alle waren ganz freundlich zu ihm, schüttelten ihm die Hand und gaben ihm Plätzchen, wenn er hinter seinem Vater herlief. Wilhelm Bornwart sprach hier noch lauter als zu Hause. Gustav konnte sehen, dass sie Angst hatten vor ihm. Die meisten der Männer hatten schwarze Gesichter und einen ganz schlechten Geruch. In den Büros war es besser, da waren alle sauber und trugen weiße Hemden. Frauen gab es da, aber Angst hatten sie hier auch. Sie saßen ganz gerade auf ihren Stühlen, oder sie standen auf und brachten schnell Papiere, die sein Vater sehen wollte. Wenn er weiterging und ihnen keine Fragen mehr stellte, waren sie immer erleichtert.

Heute fand nichts davon statt, Gustav hatte seine Ruhe. Er ging zu Max, dem Chauffeur. Ihn mochte Gustav gern. Max erklärte ihm ausführlich, wie der Wagen funktionierte. Staunend hörte Gustav von Explosionen im Motor, von Wellen und Zahnrädern, die unter der Haube arbeiteten. Er durfte sogar selbst auf den Sitz des Fahrers und das Lenkrad anfassen. Es ließ sich aber nicht bewegen, nur ein ganz kleines Stück konnte Gustav es drehen. Max musste sehr stark sein.

Gustav verbrachte viele Stunden mit seiner kleinen Schwester. Maria war jetzt fünf und Gustav war ihr Beschützer. Es gab nicht viel, vor dem er sie beschützen musste. Emma, das Kindermädchen, war sehr nett zu ihr. Es gefiel ihm trotzdem, dass Maria sich hinter ihm versteckte, wenn der Vater durchs Haus polterte oder wenn die Mutter rief. Besonders, wenn sie ihre Medizin genommen hatte, rief sie oft nach Maria und Gustav. Er mochte das nicht, denn die Medizin roch ganz furchtbar. Sie machte seine Mutter müde und ungeduldig. Manchmal schimpfte sie dann sogar, obwohl Gustav und Maria gar nichts gemacht hatten. Dann hatten Emma und Helene auch Angst vor Mama, so wie die Leute in den Werken Angst vor seinem Vater hatten.

Sie spielten Verstecken. Gustav ließ Maria gewinnen. Er durchschaute meistens sehr schnell, wo sie war. Sie hatte immer ein Lieblingsversteck. Lange war es die Kammer unter der Treppe, wo er selbst sich früher verkrochen hatte. Da hatte er sie aber so häufig gefunden, dass sie sich etwas Neues einfallen lassen musste.

Seit Kurzem gab es die große Uhr in der Halle. Ein richtiger Turm war das. Gustav musste das Kinn ganz hochrecken, wenn er direkt davorstand und zum Zifferblatt aufsah. Einmal in der Stunde gab es einen großen Gong, und einmal schlug sie noch lauter, immer wieder, so oft, bis die Zeit fertig angeschlagen war. Tick, tack, machte sie, immer wieder. Wenn Gustav lange zuhörte, veränderte sich der Ton in seinem Ohr, wurde mal lauter, mal leiser. Dann wieder hatte er das Gefühl, die Uhr wäre aus dem Takt, oder sie spielte einen Rhythmus. Er hörte ihr gerne zu. Mit ihr war der Flur weniger kalt und hatte sogar etwas Gemütliches. Wenn es ihm schlecht ging, stellte er sich neben die Uhr und – tick, tack – wurde seine Traurigkeit oder sein Ärger immer kleiner und leiser.

Unten hatte der Uhrenturm eine kleine Tür. Dort kletterte Maria beim Versteckspiel neuerdings immer rein. Auch heute stand sie in dem Turm. Gustav wusste das deswegen ganz genau, weil unten in der Tür eine Glasscheibe war, durch die man in das Innere sehen konnte. Er sah Marias Beine und ging an der Uhr vorbei, immer wieder, auf und ab. Dabei murmelte er laut vor sich hin: „Wo ist sie nur, wo kann sie nur stecken? Unter der Treppe ist sie nicht, im Wohnzimmer ist sie nicht, und im Esszimmer ist sie auch nicht. Na warte, wenn ich die finde.“ Er stellte sich vor, wie Maria hinter der Tür leise kicherte. Hauptsache, sie hatte ihren Spaß. Plötzlich ging die Uhr los. Gustav erschreckte sich, so nah hatte er noch nie dabeigestanden, wenn der Gong kam. Aus dem Inneren der Uhr kam ein Schrei. Das Türchen flog auf und Maria sprang so schnell hinaus, dass sie fast vornübergefallen wäre. Der Gong ging immer weiter, es war zwölf Uhr mittags. Maria lief davon, so schnell sie konnte. Gustav folgte seiner Schwester. In der Küche fand er sie. In der hintersten Ecke saß sie auf dem Boden und weinte. Er setzte sich zu ihr, nahm sie in den Arm und streichelte ihr den Kopf. Maria zitterte, so sehr hatte sie sich erschreckt. Gustav erklärte ihr, dass die Uhr die Stunde schlägt, dass nichts passieren kann dabei, und dass sie keine Angst haben müsse. Alles sei wieder gut.

„Nie wieder gehe ich da rein!“, schluchzte Maria, „so eine blöde Uhr. Dabei war es so ein gutes Versteck.“

Gustav sagte nichts. Eine ganze Weile saßen sie da und er hielt Maria fest. Er fragte sich, ob so eine Uhr sich etwas denkt, da sie doch alles sieht, oder ob sie nur den ganzen Tag ticktack macht und gelegentlich aufgezogen werden will. Das durfte er machen, in Begleitung von Helene. Sonntags wurde die Uhr aufgezogen. Dann stieg Gustav auf einen Stuhl, den er vor der Uhr positioniert hatte, Helene überreichte ihm feierlich den Schlüssel und er zog vorsichtig das Uhrwerk auf, genau so weit, dass die Feder noch leicht nachgab. Er konnte spüren, wann es genug war, wann es nicht mehr weiterging, ohne dass die Feder Schaden genommen hätte. Darauf achtete er sorgsam, denn er mochte die Uhr sehr.

So wie die Zeit zu Ende gegangen war, in der er noch in die Kammer unter der Treppe gepasst hatte, würde die Zeit zu Ende gehen, in der er sich vor seinem Vater verstecken konnte. Maria war warm, atmete wieder ruhig. So hätte es bleiben können, das wäre ein schönes Leben, dachte Gustav, aber er wusste, dass der Vater einen Plan hatte für seinen Sohn. Jetzt fing er selbst an zu weinen.

Während Maria ihren Bruder mit großen Augen ansah, spielten am Ufer des Mains ein paar Kinder mit selbst gebastelten Booten. Die kleine Anna war da, ihre Freundin Judith, Daniel und noch ein Junge, den Anna nicht kannte.

Sie hatte ihr Boot mit ihrem Vater gebaut. Manchmal war er richtig nett, wenn er nicht so viele Termine hatte und zu Hause arbeiten konnte. Aber das kam nur am Wochenende vor. Sonst sah sie nicht viel von ihm. Sie war stolz, denn ihr Boot war das schönste. Daniel hatte nur ein paar Äste zu einem Bündel zusammengebunden und ein Segel an den mit Kordel befestigten Mast geklebt. Judith hatte wie Anna ein Boot aus richtigen kleinen Brettern, aber dabei hatte ihr bestimmt niemand geholfen, es sah ganz schief aus. Anna hatte ein bisschen Mitleid mit den beiden. Der fremde Junge hatte gar kein Boot. Er guckte zu und sagte nichts.

Anna und Judith zogen ihre Boote mit Kordeln am Ufer entlang, das an dieser Stelle nicht steil abfiel. Der Rest des Ufers war mit Mauern befestigt und zum Spielen ungeeignet. Daniel schob sein Astbündel mit der Hand hin und her. Das fand Anna nicht sehr überzeugend. Sie war älter als Daniel. Daraus leitete sie das Recht ab, ihn zu belehren, dass er nicht richtig spiele. Daniel sagte ihr, sie solle ihn in Ruhe lassen. Er hatte schon genug Ärger. Es war unfair, dass die Männer, die letzte Woche bei ihm zu Hause alles kaputt gemacht hatten, auch sein Boot vom Regal genommen und zertreten hatten. Es war viel schöner gewesen als das von Anna. Stattdessen musste er nun mit diesem blöden Bündel spielen. Das machte keinen Spaß.

Anna fragte den unbekannten Jungen, wie er heiße.

„Georg“, sagte er.

Und wie alt er sei.

„Elf.“

„Aha“ sagte Anna, „ich bin zehn.“

Georg nickte anerkennend.

„Und wo wohnst du?“

Georg sagte ihr, wo er wohnte.

Sie kannte die Straße nicht. So wie er sein Viertel beschrieb, war es nicht nahe bei ihrem Haus. Außerdem sagte Georg, dass er mit vielen anderen zusammen ein Haus teilte, dass sie eine Wohnung hätten. Das verstand Anna nicht. Jeder hatte doch ein Haus, Daniel hatte eines, und Judith auch, sie hatte sogar ein schönes Haus. Eigentlich hatten es die Eltern. Anna hatte Judith schon oft besucht und mochte ihre Eltern. Nur in letzter Zeit hatten Annas Eltern gesagt, dass sie nicht mehr zu Judith gehen solle. Als Anna gefragt hatte, warum, hatte ihr Vater gemeint, dass sie ihm zuliebe dort nicht hingehen sollte, sie würde das später noch verstehen.

Anna versuchte, Georg kennenzulernen. Er hockte still dabei, sah ihnen beim Spielen zu und sagte nichts.

„Warum hast du kein Boot dabei?“

Georg zuckte mit den Schultern.

„Ich bin ein Freund von Daniel.“

Daniel nickte.

Anna wunderte sich. Das hatte sie sich ja schon selbst gedacht.

„Willst du mich auch was fragen?“, bot sie an. Sie war ein wenig enttäuscht, dass Georg nicht neugierig zu sein schien. Er sah nur stumm aufs Wasser.

„Willst du mal?“, fragte Anna und bot Georg ihre Kordel an.

Georg nickte und nahm das Ende der Kordel. Er zog das Boot hin und her, dann ließ er es ans Ufer gleiten. Anna belud es mit einigen Murmeln. Georg zog wieder und Daniel lud die Murmeln dann ein paar Meter weiter wieder ab.

„Eine Lieferung Kaffee für dich“, sagte Anna zu Daniel.

Daniel war unzufrieden. Er wollte lieber, dass die Murmeln Pfeffer sein sollten.

„Also gut,“ sagte Anna, „liefere ich dir eben Pfeffer.“

Georg fand Anna sehr nett. Aber sie machte ihm auch Angst, weil sie so schnell sprach und viele Fragen stellte. Das war er von Mädchen nicht gewohnt. Georg kannte nicht viele Mädchen, aber ein paar, immerhin. Da war Margarita aus dem ersten Stock, die immer im Treppenhaus saß, wenn drinnen in ihrer Wohnung geschrien wurde. Das war oft. Außerdem kannte Georg noch Elisabeth, die im Nachbarhaus wohnte. Der hatte er mal geholfen, als sie hingefallen war und sich das Knie blutig geschlagen hatte. Georg hatte sie gestützt und bis vor ihre Haustür gebracht. Dann hatte er von Elisabeths Mutter einen Kakao bekommen – bestimmt das Beste, was er jemals getrunken hatte. Sonst kannte er keine Mädchen, also insgesamt drei. Aber Anna war die Netteste, fand er. Trotz der vielen Fragen.

Eine Weile spielten sie so. Die nachmittägliche Sonne schien auf Georgs Haar. Es hing ihm ins Gesicht, weil es vorne viel zu lang war. Anna fand das lustig und sah immer wieder hin. Die meisten Jungs fand Anna nicht sehr interessant. Als sie Hans aus ihrer Klasse gefragt hatte, wie er Emil und die Detektive fände, hatte der nicht einmal gewusst, dass das ein Buch ist. Anna war traurig gewesen, als ihre Mutter es ihr weggenommen hatte. Angeblich war es auf einmal kein gutes Buch mehr. Dabei hatten ihre Eltern es ihr selbst geschenkt. Es gab vieles zu Hause, was Anna nicht verstehen konnte. In der letzten Zeit wurde es immer schlimmer. Dieses und jenes sagte man nicht, tat man nicht, wollte man nicht. Freunde waren keine Freunde mehr, die Heinrichs wurden nicht mehr eingeladen, deren Tochter eine von Annas liebsten Spielkameradinnen war. Immer wenn Anna nachfragte, wann denn die Heinrichs noch mal kämen, sagte ihre Mutter, die seien im Urlaub oder auf Geschäftsreise. Dabei stimmte das gar nicht. Anna hatte aufgepasst und mitgerechnet – die Heinrichs hätten ja viele Monate lang Urlaub machen müssen. Sie war traurig gewesen, als sie gemerkt hatte, dass ihre Mutter ihr die Wahrheit nicht sagen wollte. Vielleicht hatten sie sich gestritten mit den Heinrichs, jedenfalls hielten sie Anna anscheinend für dumm. War sie aber nicht, ganz im Gegenteil. Anna dachte viel nach und machte sich manchmal auch schon Erwachsenen-Gedanken, zum Üben. Vielleicht konnte sie mit Georg darüber reden. Er schien nicht dumm zu sein.

Rufe kündigten schon von Weitem an, dass sie das Ufer nicht mehr für sich allein hatten. Ein paar große Jungs kamen das Ufer entlanggeschlendert und begannen, kleine Steinchen zu werfen. Anna sah es und Georg hatte es auch gesehen. Judith und Daniel waren noch in ihr Spiel vertieft, bis auch zwischen ihren Booten ein Steinchen einschlug. Zuerst stand Georg auf, dann Daniel.

„Lasst das“, rief Georg.

Es klang nicht richtig entschlossen, fand Anna. Immerhin war er aufgestanden und hatte etwas gesagt. Sechs Jungs zählte sie, die da kamen und grimmig auf sie heruntersahen. Sie waren alle größer, Anna schätzte sie auf vierzehn oder vielleicht sechzehn Jahre, oder sogar noch älter. Einer kam nach vorne und nahm Judith ihr Boot weg. Er sah aus wie ein Wiesel, zumindest musste Anna an ein dickes, wohlgenährtes Wiesel denken. Sein Gesicht war irgendwie zu klein geraten. Es passte nicht zu dem fleischigen großen Körper. Er trug als einziger lange Hosen, vielleicht war er so was wie der Anführer. Anna mochte ihn nicht, auch schon nicht, bevor er Judith das Boot weggenommen hatte.

„Und wenn ich es nicht lasse, was dann?“

Judith schaute ängstlich, während der große Junge spöttisch ihr Boot besah. Er wandte sich an seine Freunde.

„Wollen wir mal sehen, ob das Ding auch fliegen kann?“ Er drehte sich zum Wasser. Judith sagte kaum hörbar: „Nein“, dann warf er das Boot, so weit er konnte, auf den Fluss hinaus. Es landete mit der offenen Seite nach unten auf dem Wasser und begann, mit der Strömung flussabwärts zu treiben. Judiths Augen glänzten.

Georg ging zu dem fremden Jungen, der ihn um mehr als einen Kopf überragte. Er hielt nicht an, als er ihn erreicht hatte, sondern schubste ihn, so fest er konnte. Offenbar war er bereit für einen Kampf, das überraschte Anna. Er war so dünn – gegen das dicke Wiesel hatte er keine Chance. Der fremde Junge bewegte sich kaum, Georg hatte ihn nur ein bisschen zum Schwanken gebracht. Jetzt packte er Georg bei den Schultern. Das Grinsen war von seinem Gesicht verschwunden. Mühelos schob er Georg vor sich her zum Wasser, dann stieß er ihn von sich, sodass Georg nach hinten taumelte und ins Wasser fiel.

„Da, kühl dich ab“, rief er böse, ging zu Daniels Boot-Bündel, das am Ufer lag, und zertrat es. Er trat so lange darauf ein, bis klar war, dass keine Reparatur mehr möglich sein würde. Seine Freunde lachten, während Georg sich im Wasser aufrappelte. Er sah erbärmlich aus, die nassen Haare hingen wie ein Vorhang vor seinem Gesicht. Er strich sie zur Seite und stapfte aus dem Wasser.

„Du …“, fing er an, aber es fiel ihm nichts weiter ein. Er machte noch einen Anlauf gegen den großen Jungen. Diesmal bekam der ihn aber schon an den Handgelenken zu packen, bevor Georg überhaupt an ihn heranreichte. Anna bewunderte Georg. Er hatte überhaupt keine Chance, aber er stemmte sich verbissen gegen den großen Jungen. Wieder wurde Georg Richtung Wasser geschoben und wieder landete er im Main. Er stand auf und sah verzweifelt aus. Der andere war einfach zu groß.

„Es reicht“, rief Anna. Sie wunderte sich, dass sie gar keine Angst hatte. Sie ging zu dem fremden Jungen, der über dem kaputten Bündel Äste stand, das gerade noch Daniels Boot gewesen war, stellte sich vor ihn hin und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Du glaubst wohl, du bist ein ganz Starker“, rief sie zu ihm hoch. Ihr Herz klopfte wild, ihr war doch nicht ganz wohl bei der Sache, aber sie war auch wütend. So wütend, wie man als zehnjähriges Mädchen sein konnte. Ohne nachzudenken holte sie aus und trat, so fest sie konnte, mit der harten Spitze ihres Schuhs gegen das Schienbein des Jungen. Sie traf auf einen harten Widerstand, er krümmte sich wortlos, zog die Schultern hoch und trat einen Schritt zurück, wollte nach seinem Bein greifen, es halten. Anna setzte nach und trat noch mal zu, diesmal gegen das andere Schienbein.

„Hau ab“, schrie sie zornig. „Haut alle ab!“

Das fleischige Wiesel krümmte sich vor Schmerzen, so konnte Anna an seine Schultern reichen. Sie schubste ihn, er stolperte nach hinten, immer noch konzentriert auf den brennenden Schmerz an seinen Schienbeinen.

„Hau ab, weg hier, verschwinde, du Ekel!“

Ein großes Oho und Aha – die anderen großen Jungen lachten laut.

„Tja, Rudolf, da hast du dich anscheinend mit der Falschen angelegt“, rief einer.

Rudolfs Gesicht war schmerzverzerrt, er stand noch immer leicht gebückt, wich langsam zurück. Anna ging weiter auf ihn zu, ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Rudolf fasste sich. Die Überraschung war immer noch so groß, dass er sich zum Rückzug entschied. Sie war ein kleines Mädchen, er konnte nicht verstehen, was gerade passierte. Seine Gruppe war schon weitergelaufen, höhnisch lachend und murmelnd. Rudolf sah Anna finster an, es sollte eine Drohung sein. Sie hielt seinem Blick stand und guckte so böse zurück, wie sie konnte. Schließlich drehte er sich um und folgte seinen Kameraden.

„Warte nur … wehe, wenn ich dich erwische“, rief er noch, dann beeilte er sich, seinen Freunden zu folgen.

Als Anna sah, dass er leicht humpelte, hatte sie ein sonderbares Gefühl, das sie später als Genugtuung kennenlernen würde.

Sie ging zum Wasser und half dem nassen Georg dabei, Sand und kleine Kiesel von seinem Hemd zu klopfen. Er war genauso beeindruckt wie Rudolf.

„Danke.“ Staunend sah er Anna an, die von der Aufregung gerötete Wangen hatte. Er hielt still, während sie ihn abrieb.

„Du solltest wohl besser nach Hause gehen und dir trockene Sachen anziehen“, stellte sie mütterlich fest.

Georg nickte.

„Du bist mutig“, sagte er.

Anna stand gerade hinter ihm, sodass er nicht sehen konnte, wie sie sich freute. Es gefiel ihr sehr, dass er sie mutig fand. Auch Daniel und Judith kamen zu ihr und bedankten sich. Judith wischte sich noch eine Träne ab.

„Ich gehe dann mal“, sagte Daniel.

Er hatte die Lust am Spielen verloren. Er war überhaupt sehr traurig und still geworden, fand sein Freund Georg. Daniel war immer der Schnellere von den beiden gewesen, hatte viele Ideen für neue Spiele gehabt. Außerdem hatte er Georg immer von seinem Butterbrot abgegeben, wenn Georg nach seinem eigenen noch Hunger gehabt hatte. Georg wusste nicht, dass Daniel in der letzten Woche von einem ausgelassenen Mob vor dem Laden seines Vaters Bazillus und Ungeziefer genannt worden war. Das schöne große Schaufenster hatten sie beschmiert.

„Ich muss auch nach Hause“, sagte Judith.

Sie verabschiedeten sich. Daniel und Georg verabredeten, am nächsten Tag wie immer zusammen zur Schule zu gehen. Georg wollte seinen Freund beschützen, dabei war Daniel eigentlich stärker. In letzter Zeit wirkte er so, als wäre er krank, fand Georg. Er stand da vor dem Bündel mit Ästen, das sein Boot gewesen war, und sah es eine Weile an. Dann trat er es verächtlich in den Fluss. Langsam schwamm es davon.

„Immerhin schwimmt es noch“, sagte Georg, um Daniel aufzuheitern. Es klappte nicht. Sein Freund sah ihn nur an.

Judith ging los und forderte Daniel auf, mitzukommen. Oben an der Straße winkten sie noch einmal und Anna winkte zurück. Sie und Georg blieben allein am Ufer zurück.

„Du redest nicht viel, hm?“, fragte Anna.

„Na ja, ich … weiß nicht recht. Vielleicht, manchmal, ja. Kommt darauf an.“

„Worauf?“

„Wer mich was fragt.“

„Also darf dich nicht jeder was fragen?“

Sie stand ganz nah vor ihm und sah ihn an. Er war nur etwas größer als sie.

„Nein, nicht jeder.“

„Und ich?“

Georg spürte ein Kribbeln im Bauch, das er nicht kannte. Es fühlte sich nicht schlecht an, aber er war auch nicht sicher, ob es sich gut anfühlte. Es musste mit Anna zu tun haben. Es hatte gerade angefangen, als sie so nah gekommen war.

„Du … kannst mich alles fragen“, stellte Georg fest.

Anna strahlte.

„Du wirst, glaube ich, mal ein ziemlich langer Lulatsch“, sagte sie.

„Meinst du? Das wäre gut, dann könnte ich solches Gesindel besser vertreiben.“

„Du hast doch mich.“

Georgs Gesicht wurde warm. Er wusste nicht, was er sagen sollte, und tat so, als würde er frieren.

„Ist dir kalt?“

„Nein, nein, ich … hm.“ Georg war verlegen. Es war Zeit, den Heimweg anzutreten. Er brauchte trockene Sachen.

„Sehen wir uns noch mal?“, wollte Anna wissen und wandte sich zum Gehen.

Georg folgte ihr in Richtung Promenade.

„Ja.“

„Und wann?“ Sie wünschte sich jetzt doch, dass Georg mehr sagen würde.

„Wenn du wieder mit Judith kommst, vielleicht übermorgen.“

„Warum mit Judith?“, fragte Anna unsicher.

„Die findet Daniel, glaube ich, sehr nett.“

Sie frohlockte leise.

„Ich sage ihm dann, dass ich mitkomme, wenn er Judith trifft, damit ich ihre Freundin treffen kann.“ Die finde ich nämlich sehr nett, dachte Georg, traute sich aber nicht, es zu sagen.

„Gut. Zeigst du … mir dann mal dein Haus, vielleicht?“

„Hm“, erwiderte Georg schüchtern. Er wollte gerne mehr sagen, aber irgendwie schnürte es ihm den Hals zu. Es fiel ihm nichts ein. Er ärgerte sich ein bisschen über sich selbst.

„Dann … bis bald“, sagte Anna, und Georg sagte auch „bis bald“.

Er streckte unbeholfen die Hand aus. Anna umarmte ihn. Sie duftete wunderbar. Georg fiel nicht ein, wonach. Er stand da wie eine Salzsäule. Noch nie hatte ihn ein Mädchen umarmt.

Als sie ihn losließ und zurücktrat, zeigten sich dunkle Flecken auf ihrer Bluse.

„Pfui, du bist ganz nass“, lachte Anna. „Also, bis bald.“

Georg versuchte, sich ihr Gesicht einzuprägen. Er wollte sich am Abend daran erinnern, denn er saß gerne eine halbe Stunde oder manchmal sogar noch länger auf seiner Fensterbank und schaute hinaus in den nächtlichen Himmel. Seine Mutter scheuchte ihn ins Bett, wenn sie ihn dabei erwischte, sein Vater lächelte nur und machte die Tür wieder zu, wenn er ihn da sitzen sah. Heute Abend würde er sich die Sterne und den Mond anschauen und dabei an Anna denken. Seine Blicke streiften ihren Haaransatz, die Stirn, die Brauen und die Wangen, dann wanderten sie hinunter zu ihrem Mund, wieder hinauf, über die Nase bis zu ihren Augen. Er hatte ein paar Sommersprossen auf ihrer Nase bemerkt, auch auf ihrer Stirn gab es ein paar. Dafür musste man schon genau hinschauen. Das wussten bestimmt nicht alle.

Sie wandte sich ab und ging hinauf zur Promenade, in Richtung der Hauptstraße. Nach ein paar Metern drehte sie sich um und winkte Georg. Er stand noch genau da, wo sie ihn umarmt hatte. Als Anna sich am Ende des Weges, kurz vor der Ecke, noch ein zweites Mal umdrehte, stand Georg immer noch dort und sah ihr nach. Das gefiel ihr. Sie winkte noch mal, dann bog sie um die Ecke und ging die Treppe zur Straße hoch.

Daniel kam am nächsten Tag nicht mit Georg in die Schule, auch in den Tagen darauf blieb er zu Hause. Zuerst hatte sein Vater wieder Probleme, dann seine ganze Familie, wie auch die Familie von Judith.

Bis Anna und Georg sich schließlich wiedersahen, würden fast zehn Jahre vergangen sein.

Das Mädchen mit dem weißen Schal

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