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Geschichte im Aktiv
ОглавлениеIn der Geschichte von Maʾrib ist die einprägsamste Figur die kāhina oder Seherin Tarīfa, die den Zusammenbruch des Dammes prophezeit und schließlich die Auswanderung ihres Volkes der Ghassaniden anführt.18 Der Herrscher von Ghassān folgt ihr: Tarīfa wählt den Reiseweg und ruft ihr Volk zum Kampf auf, wenn Feinde ihm den Weg versperren. Ihre Vorhersagen sind in einer Form des Hocharabischen verfasst, die sadschʿ genannt wird, Prosa mit Reim und Rhythmus, aber ohne Metrum, die später im Koran wiedererscheinen wird. Ihre besondere, wohlberedte Sprache, bayān („Darlegung“ oder „das Entschleiern der Bedeutung“),19 wird für das Tätigen von Aussagen auf der Grundlage übernatürlicher Einsicht verwendet. Ihre Worte sind schlicht und ergreifend wahr, weil sie in diese besondere Sprache gekleidet sind – ein wasserfester Zirkelschluss. Das ist weit entfernt von der historisch jüngeren Wahrheitsauffassung, die vor etwa fünf Jahrhunderten in Europa aufkam und auf Empirie und quantifizierbare Fakten rekurriert. Tarīfas Aussage hingegen gilt dann als wahr, wenn genügend Menschen ihr Glauben schenken – und das wiederum wird hervorgerufen, indem die Sprecherin einen Eid schwört:
Bei der Wahrheit meiner Kenntnis der beredten Sprache, die auf mich herabgekommen ist,
und meiner Zunge und dessen, was von mir vorgetragen wird …20
Das Erzählen der Wahrheit ist wie das Erzählen eines Witzes: Es geht darum, wie man es macht.
Als jemand, der sieht, was andere nicht sehen können, und spricht, wie andere nicht sprechen können – und damit inspirieren und anführen kann – deutet Tarīfa auf eine spätere, mit Prophetie, Redegewandtheit und Befehlsgewalt ausgestattete Figur voraus. Diese Figur ist Mohammed. Tarīfa mag von einer wahren Person inspiriert sein, an die es eine vage Erinnerung gibt, doch die oft an Grimmʼsche Märchen gemahnenden Details ihres Charakters gehören höchstwahrscheinlich tatsächlich dem Reich der Fantasie an. Aber das ist noch lange kein Grund, sie aus der Story zu verbannen. Die Art und Weise, wie die frühesten bekannten islamischen Volkshistoriker (wie Wahb ibn Munabbih, der im 1. islamischen Jahrhundert lebte) die Geschichte vom Damm und von Tarīfa erzählten, deutet an, dass sie verstanden, wie die neue Religion auf dem alten Boden Arabiens gewachsen war – der außerdem sowohl den alten, sesshaften Süden als auch Mohammeds direkte mekkanische Umgebung umfasste.
Wahb selbst stammte aus dem Süden und es war zweifellos der Stolz auf die Vergangenheit seiner Heimat, der ihn und seine Landsleute dazu veranlasste, die Bedeutung der Region für die breitere und spätere Geschichte des Arabertums zu betonen. Und recht hatten sie. Die Ghassaniden und die anderen sesshaften Gruppen, die in Bewegung gesetzt worden waren, waren bereits keine Südaraber mehr, sondern Araber geworden. Sie hießen nicht mehr Sabäer oder Himyaren, selbstbezogen und selbstgenügsam in ihren fruchtbaren Landstrichen in weiter Ferne, sondern wurden nun aus einer panarabischen Perspektive als Jemeniten – Einwohner von al-Yaman, „dem Süden“ der Arabischen Halbinsel – betrachtet. Gewissermaßen ist die Geschichte der Diaspora vom Damm von Maʾrib – vom Aufrütteln von Bevölkerungsgruppen, vom Mischen der Menschen zu einer neuen kollektiven Identität – das arabische „National“-Epos.21 Es ist so kurz, dass es auf ein oder zwei Seiten Platz hat und also schwerlich von epischer Breite. Aber die späteren Ereignisse geben ihm eine weit über es selbst hinausweisende Größe: Es ist der Prototyp für die im 7. Jahrhundert stattfindende Diaspora von Arabern auf drei Kontinenten und für das weltweite Epos des Islam.
Auch wenn es sich bei der Geschichte von Maʾrib streng genommen nicht um eine Schilderung historischer Ereignisse handelt, vermag sie doch zu zeigen, wie wichtig eine Prise Mythos beim Zusammensetzen einer neuen Identität ist, einer gänzlich neuen Ethnizität für die diversen Völker und Stämme, die durch den Islam vereint werden sollten. Als Parahistorie ist sie so bedeutend wie die Mahabharata oder die Aeneis. In den Worten des französischen Orientalisten Ernest Renan sind Nationen das Ergebnis einer falsch interpretierten Geschichte.22 Doch vielleicht ist „falsch“ dafür das falsche Wort. Fiktion kann der Wahrheit entsprechen, auch wenn sie nicht wahr ist. Auch bei nationaler Identität geht es wie in der Religion letztlich eher um Fragen des Glaubens als um Tatsachen. Ein Historiker muss natürlich versuchen, zwischen beiden zu unterscheiden, auch wenn das oft schwer ist. Es gibt zum Beispiel keinen Zweifel an der Faktizität der riesenhaften Überreste der Schleusentore von Maʾrib, oder an den drei Jahrtausenden von Schlickablagerungen in den „zwei Gärten“, die sie bewässerten und die im Koran erwähnt werden. Eine weitere Tatsache ist der neue Maʾrib-Damm, der in den 1980er-Jahren von Scheich Zayid, dem ersten Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate, finanziert wurde. Doch gehörten Scheich Zayids ferne, aber direkte Verwandte wirklich dem Stamm der Azd an, der, wie man sagt, zusammen mit den Ghassaniden und Tarīfa aus Maʾrib auswanderte? Das ist eine Frage des Glaubens, denn außer nachträglichen Gedichten und Geschichten gibt es nichts, was das beweisen könnte.
Mit Sicherheit lässt sich nur sagen, dass es während der letzten vorislamischen Jahrhunderte großflächige Bewegungen von Stämmen auf der gesamten Arabischen Halbinsel gab23 und dass diese Bewegungen Teil einer weit größeren Geschichte von Wanderbewegungen sind. Dafür liegen unabhängige externe Beweise vor: Stämme, die als Tanūch, Abd al-Qais und Banū Ulays identifizierbar sind, wurden beispielsweise im 2. Jahrhundert n. Chr. vom Geografen Ptolemäus im Nordosten der Halbinsel verortet, wo sie offenbar seit den Berichten des Strabon und Plinius aus dem 1. Jahrhundert angekommen waren.24
All diese Diasporas, seien sie Fakt oder Fiktion, betonen eine Eigenschaft der „Grammatik“ der arabischen Geschichte: die Idee, Araber seien aktiv, wenn sie in Bewegung sind, und passiv, wenn sie sesshaft sind. Araber könnten nur groß bleiben, sagte der frühislamische Redner und Weise al-Ahnaf, „wenn sie das Schwert umgürten, den Turban aufsetzen und auf ihren Pferden davonreiten“.25 Tatenlos zu Hause zu sitzen, heißt madschhūl zu bleiben – „unbekannt“, der arabische Begriff für die Leideform des Verbs, das Passiv. Wie in Jack Kerouacs On the Road, das die übliche Metapher des Lebenswegs umkehrt: „Der Weg ist das Leben“.
Mobilität ist ein in der arabischen Geschichte allgegenwärtiges Motiv – seit dem ersten Auftritt von Gindibu und seiner Kamelexpedition, ja schon seit dem undokumentierten Tag, an dem die ersten Voortrekker das Siedlungsgebiet verließen und sich zur Steppe und zum ʿarab-Sein aufmachten, über die Hidschra oder „Auswanderung“ des Propheten Mohammed nach Medina und den Hunderttausenden von Hidschras aus Arabien hinaus, die in den darauffolgenden beiden Jahrhunderten stattfanden, bis hin zu den neuzeitlichen Reisen wie der des Dichters Dschubrān Chalīl Dschubrān nach bilād al-madschhar, „Hidschra-Land“, in seinem Fall dem Chinatown von Boston und der Lower West Side von New York, und den Reisen heutiger Flüchtlinge nach Europa und darüber hinaus. Fouad Ajami zitiert Friedrich Nietzsche: „Vertriebene sollt ihr sein … Euer Kinder Land sollt ihr lieben …“26 und gibt damit den rastlosen Zeitgeist der 1950er- und 1960er-Jahre wieder. Die Worte lassen sich ebenso auf die trikontinentalen Superüberfälle des frühen Islam anwenden, auf die frühesten bekannten Wanderbewegungen, die diesen vorausgingen, und auf die Flüchtlingsflut des 21. Jahrhunderts.