Читать книгу Barfuß auf dem Rhein - Timm Kruse - Страница 12

CHUR – ROHRSPITZ

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Diese angsteinflößend lange Reise beginnt im schweizerischen Chur. Ich stehe am Ufer des Alpenrheins, und mir ist schlecht vor Aufregung. So einen Fluss bin ich noch nie gepaddelt. Das Wasser schießt mit 15 km/h bergab – unglaubliche Wassermassen, die sich Richtung Tal stürzen. Wie ein flüssiger Teppich, einer Walze gleich, donnert der Rhein nach Norden und transportiert pro Sekunde 100 000 Liter Wasser, rund 500 Badewannen. Ein Swimmingpool rauscht sekündlich an diesen gewaltigen Felsen vorbei und nimmt alles mit, was sich ihm in den Weg stellt. Es ist eine Gewalt, die mir aus der Nähe schreckliche Angst einjagt.

Auf dem Weg hierher im Zug hatte ich den Rhein bereits mehrfach betrachten können, aber aus der Ferne wirkt so ein Strom eher harmlos und freundlich – genau wie die Schweiz. Von Nahem erkenne ich, dass ich mich auf harte Stunden und Tage gefasst machen muss.

Es dauert fast eine Stunde, bis ich mein Brett aufgepumpt und alles ordentlich verstaut und festgezurrt habe. Ich habe das dringende Bedürfnis, nichts falsch zu machen, denn jeder Fehler rächt sich auf so einer Tour – auf einem Gebirgsfluss erst recht. Seit Tagen habe ich ein mulmiges Gefühl im Magen, kann fast nichts essen und hoffe, die ersten Stunden dieses Abenteuers lebend zu überstehen.

Doch diese Ängste vor großen Abenteuern kenne ich bereits: Bevor es losgeht, verabschiede ich mich bewusst von meinen Lieben, meiner Stadt, meiner Wohnung, meinem Wohnmobil, wünsche, sie alle heil wiederzusehen, verlasse alles in bester Ordnung, damit meine Familie nicht allzu viel Arbeit mit meinen Hinterlassenschaften hat. Geht es allen Abenteurern so, oder unterdrücken sie ihre Ängste?

Als ich mich endlich auf mein Brett wage, mich mit dem Paddel von einem Felsen abstoße und erst einmal im Sitzen loslege, nimmt mich die Strömung mit all ihrer Kraft mit. Nach ein paar Minuten kann ich gar nicht glauben, wie schnell und vor allem problemfrei mich der Fluss bei rasender Geschwindigkeit trägt. Ich bin noch nie so schnell gepaddelt.

Als das klamme Unwohlsein langsam aus meinem Körper weicht, erreiche ich die erste Stromschnelle. Plötzlich sind die Wellentäler einen Meter tief und dreschen auf mein Brett und meinen Körper ein, als wollten sie mir sagen: Du gehörst hier nicht her. Das Wasser scheint aus allen Richtungen zu kommen. Aus dem Nichts schmeißt mich der Fluss ins Wasser. Ich treibe neben meinem Brett, versuche, es Richtung Ufer zu bugsieren, komme aber überhaupt nicht gegen die Strömung an. Meine Beine schlagen unter Wasser immer wieder gegen Steine – aber das merke ich erst später. Im Moment bin ich voller Adrenalin. Es geht nur noch darum zu überleben.

AUS DEM NICHTS SCHMEISST MICH DER FLUSS INS WASSER.


Der Alpenrhein fließt über 90 Kilometer vom schweizerischen Reichenau in den Bodensee.

Plötzlich stelle ich fest, dass ich mein Paddel verloren habe. Es treibt hinter mir, doch ich habe keine Chance, es zu erreichen, ohne mein Brett loszulassen. Jetzt knallt mein Knie mit voller Wucht gegen einen Felsen, und ich befürchte, das Bein nicht mehr bewegen zu können.

Endlich fasse ich Fuß und schaffe es irgendwie, das Brett gegen die Uferbefestigung zu drücken und stehen zu bleiben. Mein Paddel steckt wie durch ein Wunder ein paar Meter über mir zwischen zwei Felsen fest. Erst jetzt spüre ich die Eiseskälte des Wassers. Es hat höchstens zehn Grad.

Die Felsen, zwischen denen mein Paddel feststeckt, bieten ein bisschen Schutz, sodass ich endlich auf mein Board klettern und mich ausruhen und aufwärmen kann. Meine Schienbeine bluten und werden morgen grün und blau sein. Mein linkes Knie hat einen Pferdekuss auf den Innenmuskel abbekommen und schwillt bereits an.

Was war das?, frage ich mich. Wie konnte das passieren? War ich unaufmerksam? Habe ich die Strudel falsch anvisiert? Vielleicht war ich abgelenkt, da ich die GoPro-Kamera im Mund hatte, um meine erste Stromschnelle zu filmen. Langsam beruhige ich mich, klettere über die Felsen zu meinem Paddel, drehe mühsam das Brett in die Strömung, sodass ich gleich in der richtigen Richtung sitze, und lege wieder los.

Im Nachhinein kann ich nur sagen, dass ich vermutlich unter Schock stand und nicht mehr klar denken konnte. Schon nach diesem ersten Kentern hätte mir klar sein müssen, dass dieser Fluss für mich, meine bescheidenen Wildwasser-Erfahrungen und noch dazu mit dem vielen Gepäck nicht zu beherrschen ist. In diesem Moment habe ich mich in Lebensgefahr begeben.

SCHON NACH DEM ERSTEN KENTERN HÄTTE MIR KLAR SEIN MÜSSEN, DASS DIESER FLUSS FÜR MICH NICHT ZU BEHERRSCHEN IST.

Die nächste Stromschnelle ist noch heftiger, aber ich beuge den Oberkörper ganz nach vorne und verlagere somit meinen Schwerpunkt nach unten. Ich feuere mich selbst an, schreie immer wieder »Du schaffst das, du schaffst das«. Und tatsächlich komme ich irgendwie durch die Wildwasserstrudel hindurch und gewinne wieder Vertrauen, diesen Gebirgsfluss vielleicht doch bis zum Bodensee zu bezwingen.

DAS SCHÖNSTE AM REISEN IST, DASS MAN NICHT WEISS, WAS MAN ALLES NICHT WEISS.

Eine Viertelstunde später sehe ich schon von Weitem, dass die bisher schlimmste Stromschnelle auf mich wartet. Soll ich sie eher links oder doch lieber rechts anfahren? Ich habe keine Zeit, lange nachzudenken, und werde einfach mitgerissen. Die Wellen sind noch höher und heftiger als zuvor. Die Strudel kommen aus allen Richtungen, und Seitenströmungen lassen mein Brett schlingern. Ich habe überhaupt keine Kontrolle mehr und stürze wie von einem Unterwasserkatapult getroffen ins Wasser, und mein Brett kippt um. Ich befinde mich dieses Mal weiter in der Flussmitte, sodass ich gar keine Anstalten mache, an Land zu kommen. Irgendwie schaffe ich es, das Brett wieder umzudrehen, halte sogar mein Paddel fest, werde von den Strömungen und Strudeln völlig durchgewirbelt und falle auf der anderen Seite erneut ins Wasser.

Zum Glück kann ich mich an meinem Brett festhalten, sodass ich zumindest ein bisschen über Wasser bleibe. Ich weiß nicht, ob ich diese Passage ohne mein Brett überlebt hätte. In zehn Grad kaltem Wasser kühlt man innerhalb weniger Minuten aus.

Irgendwann – wahrscheinlich nur ein paar Sekunden später – ist die Stromschnelle vorbei, und ich kann zurück auf mein Brett klettern. Ich lebe noch, ist der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schießt. Am Horizont sehe ich eine Sandbank, eher eine Geröllbank und beschließe, diese anzulaufen. Zum Glück scheint die Sonne, und es sind sicherlich 25 Grad draußen, sodass ich nicht friere. Mein schwarzes T-Shirt dampft, meine Augen brennen, und mein Knie schmerzt so heftig, dass ich es kaum beugen kann.

Noch bin ich völlig unerfahren in diesem Abenteuer. Wie viele Fehler liegen noch vor mir? Wie häufig werde ich über mich selbst den Kopf schütteln?

War das wirklich so gefährlich? War mein Leben bedroht? Im Nachhinein lässt sich das nicht sagen. Ich weiß nur, dass ich in den Momenten im Wasser auf Überlebensmodus geschaltet und nur noch funktioniert habe. Da waren keine Gedanken, keine Angst. Nur der unbedingte Wille, da lebend rauszukommen. Aber vielleicht kann man auch zwanzigmal so kentern, und es passiert einem nichts, außer dass man nass wird und ein paar blaue Flecken und blutige Schienbeine davonträgt.

Auf meinem Handy sehe ich, dass ich vielleicht 15 Kilometer zurückgelegt habe und kurz vor einem Ort namens Trimmis bin. Es ist nicht mal eine Stunde vergangen, und ich habe das Gefühl, Ewigkeiten von meinem alten Ich entfernt zu sein. Sollte ich den Alpenrhein hier verlassen und erst am Bodensee weitermachen? Trimmis hat laut Google Maps einen Busbahnhof. Irgendwie werde ich es schon nach Österreich schaffen, auch wenn ich dann Liechtenstein verpasse.


David gegen Goliath: Als Stand-up-Paddler wird man von Ausflugsdampfern schon mal ignoriert.

Hinter mir steigt eine Böschung vom Ufer auf. Ich klettere etwa zehn Meter über einen Trampelpfad nach oben und sehe, dass sich dort eine kleine Straße befindet. Immerhin bin ich nahe der Zivilisation. Langsam zuckele ich mit meinem Ziehwagen in Richtung einer Brücke. Es ist schön, nicht gehetzt zu sein, keine Termine zu haben. Einfach zu schauen, wie ich es nach Bregenz schaffen könnte. Und wenn ich es heute nicht schaffe, schlage ich mein Zelt auf, verbringe die Nacht in der Natur und warte, bis sich morgen eine Lösung findet. Ich hätte genügend Wasser und Nahrung dabei, um tagelang zu überleben.

So schnell habe ich noch nie vom hektischen Alltagsmodus zu Hause in den Reisemodus geschaltet. Ich habe wochenlang Zeit, diesen Fluss von den Alpen bis in die Nordsee zu bereisen. Und zwar auf meine persönliche Art und Weise: auf dem Stand-up-Paddleboard. Seit 2010 betreibe ich diese Sportart, und sie hat mir die herrlichsten Abenteuerreisen beschert. Ich bin die gesamte Donau gepaddelt, die Elbe, die Nordküste Spaniens parallel zum Jakobsweg, war auf allen Kontinenten – und jetzt ist der Rhein dran. Endlich. Denn dieser Fluss ist die Königsdisziplin aller großen Ströme in Europa. Mit ihm kommt nichts mit – er heißt nicht umsonst Vater Rhein.

Als ich auf der Brücke stehe, um in den Ort Trimmis zu gelangen, sehe ich von oben eine Furcht einflößende Stromschnelle. Spätestens hier wäre ich in Lebensgefahr geraten. Gut, dass meine Instinkte noch funktionieren und ich kurz vorher abgebrochen habe. Wenn der Rhein unser Vater ist, hätte er hier einen seiner Söhne verlieren können.


Ein paar hundert Meter weiter stehe ich am Busbahnhof, frage zwei junge Männer, ob es hier auch einen Schalter mit echten Menschen gibt oder nur diesen Automaten. »Schalter? Pff«, sagt der eine. »Willkommen im Dorfleben.« Irgendwann kommt ein Bus. Aber der Fahrer hat auch keine Ahnung, wie ich an den Bodensee komme. Ich solle erstmal den Bus nach Landquart nehmen, dann den Zug nach Sargans und dann weitersehen.

Nichts erschüttert mich, alles ist mir recht. Ich lasse die Luft aus meinem Brett, packe alles ordentlich zusammen und nehme den nächsten Bus. Am liebsten würde ich stundenlang Busfahren ohne je wieder aufzustehen, so erschöpft bin ich. Wegen meiner 40 Kilo Gepäck graut mir vor jedem Umsteigen.

In Landquart muss ich fast eine Stunde auf den nächsten Zug warten. Ich lasse mein Gepäck in einer Bahnhofskneipe stehen und schaue mir den Ort an. Ist es herablassend, wenn ich sage, dass die Schweizer ein nettes Völkchen sind? Darf ich das als Deutscher sagen oder ist das von oben herab, weil wir 83 Millionen sind und die Eidgenossen gerade mal acht Millionen? Aber ich mag dieses Volk und sein Spielzeugland.

WIE IN EINER MODELLWELT TINGELN BAHNEN ÜBER BRÜCKEN UND DURCH TUNNEL, UND GONDELN PENDELN DURCH TÄLER.

Hier sprechen die Menschen, wie in der gesamten Schweiz, ein Deutsch, das ich nicht verstehe. Ihre Sprache wird auch nur als Deutsch bezeichnet, weil sie deutsch schreiben – das Gesprochene hat mit der Schrift allerdings wenig zu tun. Ich frage mich immer, wie man Kindern eine Schriftsprache beibringt, die nur mit viel Wohlwollen etwas mit der gesprochenen Sprache zu tun hat. Aber es funktioniert – mit Frisch, Dürrenmatt, Suter, Hesse – wobei wir Letzteren gerne für uns reklamieren – und noch Dutzenden mehr hat die Schweiz überdurchschnittlich viele weltweit gelesene Autorinnen und Autoren. Die Schrift-Sprach-Diskrepanz scheint zumindest in der Literatur keineswegs von Nachteil zu sein – vielleicht sogar im Gegenteil?

An einer Supermarktkasse funktioniert meine Karte nicht. Die Kassiererin sagt etwas, das nur die wenigsten Menschen verstehen können, und lacht mich dabei freundlich an. Ich würde so gerne aus Höflichkeit auf Englisch antworten – aber das wäre irgendwie blöd, weil sie ja meine Sprache schreiben kann. Dann muss sie sie auch verstehen.

»Ich bin Deutscher«, sage ich langsam und laut, als wäre die Dame alt und taub. »Vielleicht muss ich meine Karte in den Schlitz stecken?« »Nur zu«, sagt sie und lacht erneut freundlich. »Tut mir leid, dass das so lange dauert«, sage ich zu dem Mann hinter mir. »Kein Problem. Ich lausche der Musik.« Aus den Boxen ertönt I want to rock you, rock you baby, er wippt dazu im Takt und schunkelt sogar ein bisschen mit den Hüften. Nettes Völkchen. Sag ich doch!

Endlich kommt der Zug nach Sargans, wo ich umsteigen muss, und dann weiter nach St. Margrethen und schließlich nach Bregenz fahre. Wie in Trance rauschen die Berge an mir vorbei, immer wieder überquere ich den Rhein, wundere mich, dass ich die Gefahr vorher nicht gesehen habe, und frage mich, ob ich vielleicht einen Schock davongetragen habe. Mein Körper fühlt sich völlig kraftlos an. Ich habe Angst vor dem nächsten Umstieg, wenn ich wieder meine 40 Kilo Gepäck über Treppen und Steige schleppen muss.

Erst gestern saß ich elf Stunden im Zug von Kiel nach Chur. Neben mir eine Italienerin, deren Augen hinter ihrer Maske lächelten, als ich meine Stulle herausholte. Aber vielleicht bildete ich mir das nur ein, denn hinter Masken ist Mimik schwer zu lesen. Vielleicht fand sie mein Vollkornbrot typisch deutsch. Dabei ist eine schöne dicke Stulle doch wohl der beste Reiseproviant der Welt, oder? Für die meisten Deutschen gehört wahrscheinlich Wurst aufs Brot, aber darauf verzichte ich seit vielen Jahren. Wenn es ein deutsches Nationalgericht gibt, dann ist es Brot. Warme Gerichte sind regional: Labskaus, Dibbelabbes, Pickert oder Plinsen gibt es meist nur in einem Bundesland, nicht aber deutschlandweit – und woanders hat man noch nie von ihnen gehört. Und dass wir alle Sauerkraut essen würden, ist totaler Käse.

WENN ES EIN DEUTSCHES NATIONALGERICHT GIBT, DANN IST ES BROT.

Meine Sitznachbarin packt eine Laugenstange aus – wie unitalienisch, denke ich. Aber was soll sie auch machen, wenn es fast nur Bäckerei-Fast-Food in deutschen Bahnhöfen zu kaufen gibt. Die Arme. Vor Jahren habe ich am Flughafen von Bologna ein Stück Pizza gekauft, und es war besser als jede Pizza in Deutschland. Aber vielleicht mag sie unser Laugenzeug, auch wenn es noch so ungesund ist.


Am Bodensee: In dieser Region ist alles lieblich, friedlich …

Wir kommen ins Gespräch: Sie studiert seit zwei Jahren in Freiburg und möchte dort gar nicht mehr weg. Im Moment sei sie glücklich in unserem Land mit all seinen Facetten und dieser einen Konstante: Wir seien herrlich deutsch im besten Sinne. Nachdem sie mir versichert hat, dass sie natürlich auf keinen Fall generalisieren wolle und die Deutschen in Freiburg und Hamburg sicherlich weniger gemein hätten als Spanier und Italiener, kommt sie auf den Punkt: Wir Deutsche seien quadratico. »Rechteckig?«, frage ich, und sie meint, dass man das Wort nicht wörtlich übersetzen könne. Vielleicht wäre »eckig« passender.

Sie möge uns Deutsche, versichert sie, denn wir seien effektiv, ernsthaft und zuverlässig. Auf der anderen Seite stresse es sie, dass wir so pünktlich seien. Wenn sie in Italien um acht verabredet wäre, würde sie um fünf nach acht langsam anfangen, sich schick zu machen, um dann gegen halb neun das Haus zu verlassen und ihre Verabredung gleichzeitig und somit italienisch pünktlich um Viertel vor neun zu treffen.

Außerdem würden wir Deutsche uns nie einfach so treffen, um zu socializen, wie sie es nennt. Wir müssten immer etwas unternehmen, mindestens einen Spaziergang oder eine Radtour, häufig einen Museumsbesuch, einen Ausflug zu einem weiteren Freund oder Unmengen an Alkohol konsumieren, wobei für viele Deutsche Bier nicht als Alkohol gelte.

EINFACH NUR TREFFEN, UM SICH ZU TREFFEN, IST DEN DEUTSCHEN FREMD.

Es sei auch schwer, sich mit Deutschen spontan zu verabreden. Meist bräuchte man zwei Wochen Vorlauf und bekäme dann nur einen Terminslot von 12.15 bis 14 Uhr. Aber noch mal: Sie mag uns!

Sind wir wirklich so? Und wenn ja: Ist das schlimm? Ich finde es gut, dass wir ein pünktliches Volk sind, dass bei uns vieles nach Plan läuft und unser größtes Problem darin zu bestehen scheint, dass 6,5 Prozent aller Züge in unserem Land Verspätung haben. Dann steigt sie aus, natürlich pünktlich, und geht den Bahnsteig auf eine lässige Art herunter, wie es nur Südeuropäerinnen können. In ihrem Gang drückt sich eine selbstbewusste Eleganz aus, die ich bei deutschen Frauen manchmal vermisse.

Das Umsteigen ist jedes Mal eine Tortur, aber es geht irgendwie immer weiter, bis ich schließlich am Bodensee stehe, mein Gepäck vor eine Bank lege und nicht glauben kann, dass es hier so schön ist. Kann dies das gleiche Wasser sein wie noch vor ein paar Stunden weiter oben in den Alpen? Der See liegt blau-gläsern da, kein Windhauch in der Luft, die Temperatur beträgt vielleicht 25 Grad. Ich liebe dieses Klima, das man nicht spürt. Es umschmeichelt den Körper und zwingt ihn automatisch in die Entspannung. Rechts von mir funkeln die Alpen in einer kitschigen Pracht in der Abendsonne, als hätte der Wettergott bei mir etwas gutzumachen.

Langsam finde ich wieder Kraft, pumpe mein Brett noch langsamer auf als in Chur und traue mich einfach nicht auf den See. Beim Pumpen sprechen mich Menschen an – gleich platzt es, schönes Workout, und solche Sachen. Ich lache freundlich, frage, ob sie nicht auch mal probieren möchten, und stehe doch neben mir. Irgendwann passt wirklich keine Luft mehr ins Brett.

Über eine Absperrkette steige ich eine veralgte Treppe hinab, lege das Brett aufs Wasser und binde es mit der Leash an einem Geländer fest. Die Leine wird am Fußgelenk festgebunden, damit der Paddler im Falle eines Sturzes sein Brett nicht verliert. Ich benutze die Leash allerdings nur als Festmachleine, denn bei wenig Wind falle ich nicht ins Wasser und wenn doch, verliere ich dabei niemals mein Brett.

Wieder werde ich neugierig beobachtet. Eine Frau spricht mich an, ich antworte mechanisch, was vermutlich niemand bemerkt, schleppe die Tasche hinunter, wuchte sie aufs Brett, verzurre alles und steige schließlich auf mein Board.

Es ist unglaublich kippelig, sodass ich fast schon wieder reinfalle. Erst jetzt wird mir klar, dass die 30 Kilogramm Gepäck ohne Board einen großen Teil zu meinen fürchterlichen Erlebnissen am Vormittag beigetragen haben müssen. Das Brett muss mit mir 120 Kilogramm tragen, liegt natürlich viel tiefer im Wasser und hat dadurch automatisch weniger Kippwiderstand.


Ich paddle ganz langsam los, muss erst wieder Vertrauen in meinen Lieblingssport gewinnen. Der Körper trägt die Erinnerung ans Paddeln in sich, aber mein Geist ist noch nicht bereit für eine Tour auf dem Wasser. Immerhin bin ich barfuß, meine Lieblingsgangart. So kann ich das Brett und das Wasser am besten spüren. Ich habe auch das Gefühl, dass die einzelnen Zehen einen positiven Effekt auf das Gleichgewicht und das Ausbalancieren auf dem Brett haben.

Mit den ersten Paddelschlägen betrete ich die Welt des Bodensees. Vielleicht ist es auch umgekehrt, und der Bodensee betritt meine Welt, dringt in mein Leben ein. Ich lasse den Lärm des Landes hinter mir, die Gerüche und den festen Boden. Ab jetzt befinde ich mich in einer schwankenden Welt, einer Welt, die ich über alles liebe. Die mir schon oft mehr Zuhause war als das Festland. Auf dem Wasser ist alles gut, denke ich. Die Probleme beginnen an Land.

Gleichzeitig kenne ich vom Segeln das Phänomen des Wegwollens und Heimwollens. Kaum bin ich auf See, will ich an Land, kaum bin ich an Land, will ich auf See. Eine Ambivalenz, die jeder Segler kennt, und ein Konflikt, der nicht aufzulösen ist. Das Gleiche gilt natürlich für diese Reise. Kaum bin ich unterwegs, träume ich von der heimischen Gemütlichkeit. Kaum liege ich gemütlich auf meinem Sofa, will ich weg und stürze mich ins nächste Abenteuer. Gesegnet sind die Couch-Potatoes.

Langsam zieht die Open-Air-Bühne von Bregenz an mir vorbei, die gerade abgebaut wird. Rigoletto hat ausgedient – es muss ein gewaltiges Spektakel gewesen sein. Jetzt ist Corona hoffentlich bald vorbei, und eine neue Show wartet auf den Bodensee und seine Bewohner und vielen Besucher.

KAUM BIN ICH AUF SEE, WILL ICH AN LAND, KAUM BIN ICH AN LAND, WILL ICH AUF SEE.

Als ich um das riesige Operngelände biege, sehe ich den Rhein vor mir, wie er über einen langen Kanal in den Bodensee geleitet wird. Auf Google Maps habe ich gesehen, dass ich um diesen Kanal herumpaddeln muss und dann noch etwa drei Kilometer vor mir habe, bis ich einen Campingplatz erreiche. Nach den heutigen Strapazen bin ich noch nicht bereit, in der freien Natur zu schlafen. Noch brauche ich einen Hauch Zivilisation – trotz aller Abneigung gegen Campingplätze.

Am Ende des Kanals fließt der Rhein mit seiner heftigen Strömung in den Bodensee, sorgt für graue Verfärbungen und sprudelnde Wirbel. Davor liegen mehrere Fischerboote mit Männern, die einen Fisch nach dem anderen aus dem Wasser ziehen. Einen von ihnen frage ich, wie gefährlich es sei, dort mit dem SUP durchzufahren, und nicke mit dem Kinn in Richtung Rhein. Der Mann rät mir dringend davon ab, selbst mit dem Motorboot würde er die Stelle unbedingt meiden. Eine Sekunde überlege ich, außen herumzufahren, also etwa 500 Meter Umweg, bis die Strömung vom See geschluckt wird, doch dann denke ich Scheiß drauf und paddle mitten durch das wirbelnde Wasser, als müsste ich mir beweisen, dass ich Gefahren bestehen kann, dass ich kein Drückeberger und Schisshase bin, nicht vor Dingen zurückschrecke, die anderen zu waghalsig erscheinen.

ICH PADDLE MITTEN DURCH DAS WIRBELNDE WASSER, ALS MÜSSTE ICH MIR BEWEISEN, DASS ICH GEFAHREN BESTEHEN KANN.

Im Nachhinein erschrecke ich manchmal vor mir selbst. Diese schwierigen Charakterzüge haben mich dahin gebracht, wo ich jetzt stehe. Ob ich will oder nicht.

Sobald ich das blaue Wasser des Bodensees verlasse und in das grüngraue Alpenrheinwasser paddle, wird mein Brett von der Strömung erfasst und treibt nach rechts ab. Ich bekomme starke Schieflage, halte mich aber aufrecht, kämpfe mit aller Kraft gegen die Strömung an, spüre das eiskalte Wasser des Alpenrheins an meinen Füßen, werde nach links und rechts gewirbelt – und bereue meine Entscheidung kein einziges Mal, denn ich weiß, dass ich es schaffen werde. Das hier ist nichts im Vergleich zu den Stromschnellen hinter Chur. Keine zehn Minuten später schwappt wieder blaues, 20 Grad warmes Bodenseewasser über mein Brett.

Vielleicht war diese Kraftanstrengung wichtig, um meinem Unterbewusstsein noch einmal zu zeigen, dass solche Passagen gefahrlos und vor allem problemlos zu meistern sind. Im Nachhinein wundere ich mich über mich selbst. Vor ein paar Stunden stand ich noch unter Schock, und jetzt begebe ich mich schon wieder in Gefahr. Aber so bin ich – ich kann nicht anders.

Beim Blick zurück sehe ich, wie das graue Wasser des Alpenrheins und das blaue des Bodensees miteinander verschmelzen. Der Rhein bringt so viel Geröll aus den Alpen mit, dass dieses permanent abgebaggert und an Land gebracht werden muss. Angeblich wäre der Bodensee ohne die Baggerarbeiten in ein paar Tausend Jahren vom Geröll verdrängt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschen dann immer noch baggern. Sie werden sich bis dahin vermutlich selbst begraben haben. Wobei es offensichtlich auch zu unserer Spezies gehört, dass wir immer schon glaubten, die Menschheit würde sich bald selbst vernichten und untergehen. Bis jetzt hat sie überlebt und gehört zur erfolgreichsten Spezies unseres Planeten – übertroffen nur von einem cleveren, hinterhältigen Virus.

ES GIBT NICHTS SCHÖNERES FÜR MICH, ALS VOM WASSER IN EINEN HAFEN EINZULAUFEN.

Nach einer weiteren Stunde erreiche ich endlich den angepeilten Campingplatz, der hinter einem Hafen liegt. Es gibt nichts Schöneres für mich, als vom Wasser in einen Hafen einzulaufen. Plötzlich enden die Wellen, der Wind meist auch, da Häfen häufig in der Landabdeckung liegen, alles ist friedlich, lieblich, die Menschen auf ihren Booten entspannt und die Welt eine Mischung aus Wasser- und Landleben.

Campingplätze habe ich noch nie gemocht, denn dort ist immer alles so geregelt und kleinbürgerlich. Genau abgegrenzte Zeltplätze, Duschmarken, Männer in Blockwartmanier, die penibel darauf achten, dass alle die Ordnung einhalten, Paare, die vor ihren dauergeparkten Wohnwagen sitzen und Fremde wie mich misstrauisch beäugen. Es herrschen die Regeln einer kleinkarierten Welt, in der alles jenseits des Tellerrands als gefährlich gilt. Alles ist begrenzt und genau bemessen, denn dann fühlen sich die Kleingeister am wohlsten und müssen keine bösen Überraschungen erleben.

Natürlich darf ich mein Brett nicht im Wasser liegen lassen – auf meine Frage, warum denn nicht, erhalte ich die geistreiche Antwort, dass das nicht ginge. Ich bohre nicht nach, lasse mein Brett hinter einer großen Motorjacht, sodass es vom Zeltplatz aus nicht zu sehen ist, und freue mich an meinem kleinen Sieg gegen die Piefigkeit.

Wann fangen wir an, großzügig zu sein, tolerant zu sein? Zu teilen? Wieso haben wir bloß so viel Angst davor, man könnte uns etwas wegnehmen? Es bleibt doch alles auf diesem Planeten, nichts geht verloren. Marktwirtschaftlich leben wir in einem globalen System, mental scheinen wir in der Höhlenmenschen-Mentalität stehengeblieben zu sein – das ist meine Höhle! Darin horte ich, so viel ich kann, und wenn ich mich stark genug fühle, überfalle ich die Höhle meines Nachbarn, damit ich noch mehr besitze – für schlechte Zeiten.

Wir vernichten diesen Planeten, weil wir einem System der totalen Profitgier folgen. Profit rechtfertigt alles, und deshalb läuft hier ein Blockwart rum, der mir sagt, dass ich mein Zelt auf Platz 16 aufgebaut hätte, mir aber die 19 zugewiesen worden wäre. Ich möge bitte umbauen.


Der kleine Hafen von Rohrspitz im Licht der Abendsonne.

Viel zu erschöpft, um zu protestieren, baue ich mein Zelt drei Plätze entfernt zwischen vielen anderen auf, fühle mich wie ein Außerirdischer, kaufe mir eine Flasche Mineralwasser für 5,60 Euro, lege mich in meinen Schlafsack und kann doch nicht schlafen. Die Stunde auf dem Alpenrhein will mir nicht aus dem Kopf gehen. Immer wieder spule ich die Kenterungen durch, male mir aus, meine Leash wäre an einem Felsen hängengeblieben, und die Strömung hätte mich unter Wasser gezogen, bis ich ersaufe. Stündlich wache ich auf, friere entsetzlich, obwohl ich gut ausgerüstet bin, schrecke bei jedem Geräusch hoch und habe Angst vor morgen.

Als die WHO am 12. März 2020 – ist das wirklich erst zwei Jahre her? – den Ausbruch von Corona – war das nicht eine Biermarke? – zur weltweiten Pandemie erklärte, machte ich gerade Urlaub auf Sri Lanka. Als ich zum ersten Mal von diesem neuartigen Virus hörte, war ich felsenfest davon überzeugt, dass Corona ein neuer Medienhype sein würde, so wie zuvor die Vogelgrippe, Ebola oder die Schweinepest – für uns Durchschnittsdeutsche eher irrelevante Themen in Bezug auf unseren Alltag. Da ich seit 30 Jahren Journalist bin, weiß ich, dass die Medienwelt nicht nachhaltig arbeitet, sondern von einem Waldbrand zum nächsten hüpft und mit häufig aufgebauschtem Sensationsjournalismus die Auflage oder die Quote nach oben treibt. Corona? Da spricht in zwei Wochen kein Mensch mehr drüber, dachte ich. Wie naiv ich war. Wie realitätsfern.

Zum ersten Mal seit Wochen schaute ich damals in Sri Lanka mal wieder in die SPIEGEL-App und konnte nicht glauben, was ich dort las. Allein das Wort Lockdown machte mir schreckliche Angst. Und so ging es den meisten Landsleuten wohl auch, denn sie kauften die Regale mit Klopapier und Hefe leer. In Frankreich gab es bald keinen Wein und keine Kondome mehr, in den USA kein Benzin. Was sagt das über die Mentalität der verschiedenen Länder aus?

Mit viel Glück erwischte ich den letzten Flug von Colombo nach Hamburg und war froh, dass ich noch ein bisschen Toilettenpapier im Wohnmobil gebunkert hatte. Erst zu Hause konnte ich glauben, dass die Regale wirklich leer waren.

Als das Unvorstellbare passierte und die Welt tatsächlich zu einem Halt kam, das öffentliche Leben lahmgelegt und Reiseverbote ausgesprochen wurden, holte ich mir einen Netflix-Account und guckte all die Filme, die ich im Laufe meines Lebens wegen meiner vielen Reisen verpasst hatte.

Laut wurde leise, schnell wurde langsam, mobil wurde immobil. Aus 30 Grad im Schatten wurden Schneeregen und Nebel. Aus meinen weltweiten Reisen wurde Homeoffice – ohne Office, denn ich hatte nichts zu tun. Keine Reportagen mehr, keine Vorträge, keine Lesungen. Ich genoss den ersten Lockdown mit seiner staatlich verordneten Faulheit und war damals einfach nur froh, unter vollkommen chaotischen Umständen Sri Lanka entkommen und in unserem kleinen, stillen, geordneten Land zu Hause zu sein.

MEIN LEBEN VERWANDELTE SICH INNERHALB WENIGER TAGE VON EINEM TROPENSTURM ZU EINER BRISE.

In Sri Lanka durften Touristen damals im März 2020 plötzlich keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen oder in Hotels absteigen. Wir Traveller waren angeblich diejenigen, die das Virus ins Land gebracht hatten, und sollten es verdammt nochmal nicht noch weiterverbreiten. Dass ich seit Wochen in Sri Lanka unterwegs war, interessierte niemanden. Ich musste Chauffeure und Schaffner ewig beschwatzen, um überhaupt zurück zum Flughafen zu kommen.

Zu Hause angelangt, gab es noch keine Tests, keine Inzidenzen, keine verlässlichen Zahlen über an oder mit Covid Gestorbene. Ich machte mich damals höchstens lustig über die vielen neuen Ausdrücke, die uns überschwemmten: FFP2, mRNA, PCR, Aerosole, Kernfamilie, Kohorte, Herdenimmunität oder Who the fuck is Johns Hopkins? Als Reisewarnungen ausgesprochen wurden, die Triage in Krankenhäusern vollzogen werden musste, Virusvarianten auftauchten und es schließlich zu einer indirekten Impfpflicht und Boosterimpfungen kam, verging mir das Lachen. Da war allerdings schon über ein Jahr verstrichen. Als die Karnevalssaison zum zweiten Mal abgesagt wurde, glaubte ich fest, alles doppelt und dreifach 2022 nachzuholen. Niemand hätte anfangs gedacht, dass uns dieser Irrsinn noch so lange begleiten würde. Erst im Laufe der Monate wurde klar, dass wir die sozialen, ökologischen und ökonomischen Spätfolgen erst in vielen Jahren sehen und verstehen würden.

Barfuß auf dem Rhein

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