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ROHRSPITZ – ROMANSHORN

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Gegen sechs Uhr früh schlafe ich nochmal tief ein und wache erst um halb neun wieder auf. Dieser Campingplatz ist mir zuwider: Eltern brüllen ihre Kinder an, und Männer sprechen respektlos mit ihren Frauen und umgekehrt. Hier haben sich die Spießer versammelt – und es ist ganz egal, ob sie Deutsche, Österreicher oder Schweizer sind. Die Atmosphäre ist bei Licht noch piefiger als in der Abenddämmerung. Der Blockwart von gestern macht mich darauf aufmerksam, dass ich von Glück reden könnte, dass mein Brett weder geklaut noch zerstört worden wäre. »So geht’s nicht«, sagt er und zeigt mit dem Finger auf mich. »Doch«, sage ich ganz ruhig. »Genau so geht’s. Sehen Sie doch.« Dass Platz 16 natürlich immer noch frei ist, werfe ich ihm nicht vor. Er würde es sowieso nicht verstehen.

In der Dusche dudelt irgendein lokaler Radiosender, und der Moderator sagt glatt, dass dies ein hervorragender Tag zum Stand-up-Paddeln sei, weil es praktisch auf dem gesamten See windstill ist. Das ist genau die Information, die ich jetzt brauchte.


Bei Hard in Vorarlberg vereint sich der Neue Rhein mit dem Bodensee.

Wieder lasse ich mir unendlich viel Zeit beim Packen. Mich hetzt auf dieser Reise nichts und niemand. Gegen halb elf lege ich ab, verlasse in aller Ruhe den Hafen und paddle so langsam Richtung Sonne, als hätte ich kein Ziel vor Augen. Sind das noch die Nachwehen von gestern? Oder genieße ich es einfach, mehr Zeit zu haben als geplant? Schließlich habe ich durch die Zugfahrt zwei Tage gewonnen.

Mit die schönsten und wichtigsten Stunden auf meinen Reisen bestehen im Aufschreiben dieser Zeilen. Ich sitze dabei meist vor meinem Zelt und lasse die langen Stunden auf dem Brett und die kurzen an Land Revue passieren. Die Erinnerungen, Einzelheiten, Begegnungen und Farbkleckse ergeben ein bestimmtes Bild, aber das heißt natürlich nicht, dass dieses Bild das einzig gültige wäre. Es handelt sich lediglich um mein Bild – und selbst das kann sich wandeln. Ich schreibe auf, was ich erlebe und empfinde. Jeden Tag frisch. Wie unser Land aussieht, schmeckt und riecht. Ich beobachte Menschen, schaue, was sie von sich geben, wie sie mich behandeln. Ich male hier also ein Bild einer Reise, das bloß einen winzigen Flecken beleuchtet. Ein Bild, das nur kurze Zeit aufblitzt, in meiner Erinnerung hängenbleibt und aufgezeichnet werden will.

MICH HETZT AUF DIESER REISE NICHTS UND NIEMAND.

Mein größtes Problem beim Schreiben ist es, das Unausdrückbare auszudrücken: warum ich bei einem schönen Sonnenuntergang heulen könnte. Warum ich manchmal so schrecklich glücklich bin und kurz drauf genauso unglücklich. Warum ich so zerrissen bin zwischen Wegwollen und Ankommen.

Vermutlich ist diese Reise die Suche nach einem Land, das ich gerne mögen, oder einem Ort, an dem ich gerne leben würde? Vielleicht habe ich mir auch zu viel vorgenommen und schreibe aus einer Nussschale, ohne das große Ganze erkennen zu können.

Mir ist wichtig, was die Nachbarn über uns sagen – auch wenn mir dies in meinem Leben zu Hause natürlich völlig egal ist. Aber hier möchte ich zu gerne herausfinden, was sie über uns sagen – genauso umgekehrt: Was denken wir über unsere Nachbarn? Schweizer tragen angeblich immer ein Taschenmesser bei sich und sind reich, ordentlich und konfliktscheu. Österreicher hassen es, wenn wir sie als kleinen Bruder betrachten und sie Ösi nennen. Außerdem gelten sie als hinterfotzig und können nicht Fußball spielen. Die Franzosen sollen sexbesessen sein, können keine Fremdsprachen und streiken das ganze Jahr über. Und die Holländer? Sind eigentlich Niederländer, werden niemals Fußballweltmeister, besitzen mehr Wohnmobile als alle Nachbarländer zusammen und züchten in ihrer Freizeit Tomaten und Tulpen. Doch auf dieser Reise möchte ich ein neues Bild malen. Über uns und die, die uns umgeben und mit uns klarkommen müssen.

AUF DIESER REISE MÖCHTE ICH EIN NEUES BILD MALEN.

Der Bodensee ist über viele Kilometer höchstens zwei Meter tief. Unter mir liegt ein Meer an Algen und Seetang. Manchmal steigen Blasen aus dem Boden auf, als lägen Tiere unter dem Sand und würden Luft ablassen. Das Wasser ist mittlerweile grün und erinnert mich an die Wahlplakate der Grünen – so sehen eigentlich nur Menschen aus, die schwer seekrank sind. In ein paar Wochen wählt Deutschland eine neue Regierung, und nichts könnte für mich weiter weg sein. Diese Regierung muss nur eines leisten: wenigen wehtun, damit es vielen besser geht.

Die Sonne brät gnadenlos auf mich herab, aber ich genieße es. Nach diesem verkorksten Hochsommer, der besser als Tiefsommer in die Geschichte eingehen sollte, darf wenigstens der Spätsommer richtig schön werden.

In dieser Region ist alles lieblich, erst recht bei diesem Wetter. Die Welt blüht, und die Orte enden auf ingen. Ich paddle an Güttingen, Münsterlingen und Kreuzlingen vorbei. Pfahlbauten säumen das Ufer, und es sieht aus, als hätte sich die Welt hier seit 500 Jahren nicht bewegt – bis ein Motorboot an mir vorbeidonnert und ich zurück in die Zwanzigerjahre eines immer noch recht neuen Jahrtausends katapultiert werde. Der Motorbootfahrer trägt Maske. Vielleicht hat er vergessen, sie abzunehmen, was mir auch schon passiert ist. Denn das Ding alleine auf See zu tragen ist wirklich übertrieben. Mir schießt der unerträgliche Gedanke durch den Kopf, dass dieses Jahrzehnt als das Corona-Jahrzehnt in die Geschichte eingehen könnte. Vor hundert Jahren waren es die Goldenen Zwanziger, jetzt sind es die Corona-Zwanziger.

Als ich vor vielen Jahren begonnen hatte, mich für spirituelle Entwicklung zu interessieren, wurde mir von allen möglichen Lehrern immer wieder die Frage gestellt: Wer bist du? Es ist die Frage für Menschen, die ihre Persönlichkeitsstruktur und damit sich selbst besser kennenlernen möchten, um ein geschmeidigeres Leben zu führen. Nachdem ich dieser Frage über Jahre nachgespürt und eine ganze Menge Antworten gesammelt habe, kam auf einmal die nächste Frage auf: Wer sind wir? Und dann natürlich: Welches Wir überhaupt? Wir – meine Familie? Wir – meine Freunde und Kollegen? Wir – Deutsche? Ja, wir Deutsche. Das war die Frage. Welcher Teil meiner Persönlichkeit ist so, wie er ist, weil ich Deutscher bin? Weil ich in genau dieser Zivilisation aufgewachsen bin. Über mich kann ich klar sagen, dass ich mich in erster Linie als Ostwestfale und Norddeutscher fühle. An zweiter Stelle bin ich Europäer. Und erst dann kommt Deutschland. Ich behaupte mal, so geht es den meisten Menschen in meiner Generation. Begriffe wie Vaterland, Heimat oder Stolz kann ich fast nicht schmerzfrei aussprechen, geschweige denn aufschreiben. Trotzdem mag ich unser Land – nicht wegen seiner Geschichte, sondern trotz unserer Geschichte. Aber ich mag Deutschland nicht mehr als Frankreich oder Italien, vermutlich sogar weniger.

MIR FEHLT DIE LEICHTIGKEIT IN UNSEREM LAND, DAS SÜDLÄNDISCHE. ZU WENIG BEGEISTERUNGSFÄHIGKEIT UND ZU VIEL BEDENKENTRÄGEREI.

Aber das trifft auf andere Länder auch zu. Hier habe ich es nur zu häufig erlebt.

Es ist so schwierig über das Deutsche zu schreiben, ohne pathetisch, altmodisch, verklärt-romantisch oder gar patriotisch zu klingen. Und vor allem ohne Vorurteile. Wie schon, als Deutscher. Nüchtern kann ich nicht darüber schreiben – dafür bin ich viel zu emotional, viel zu undeutsch –, was wiederum eine Schublade ist. Ich kann sagen, dass ich unser Land schätze – von Liebe bin ich Meilen von Zeilen entfernt.

Ich befinde mich in jedem Jahr für viele Monate im Ausland. Dem Pass nach bin ich Deutscher. Aber wen schert das noch in Europa? Wenn ich unterwegs bin, fühle ich mich zu Hause. Und doch beginnt jeder Small Talk der Traveller untereinander mit der Frage: Where do you come from? Und dann bin ich eben aus Germany. Und nicht aus Eastwestfalia, wo die meisten Deutschen ja schon nicht wissen, wo Ostwestfalen liegt – geschweige denn Lippe-Detmold. Früher wurde ich häufig nach Hitler gefragt – das passiert heutzutage nicht mehr. Ich wurde aber auch schon gefragt, ob Deutsche tanzen würden. Ob Deutschland in Bayern liege und warum wir so unlustig seien. Mir sagten Menschen, dass wir Deutsche aktuell keine Band von Belang hätten. Literarisch stünden wir momentan unbedeutend da, ohne die ganz großen Namen, filmisch und schauspielerisch sowieso, in der Kunst Gerhard Richter – immerhin und sonst nichts, architektonisch hätten uns etliche Länder längst abgehängt. Was mit uns los wäre? Wo die Dichter und Denker geblieben wären – wegradiert mit den Richtern und Henkern? Dafür haben wir unsere Karossen, Fußball und Merkel. Immerhin. Und Letztere nicht mehr lange.

WENN ICH UNTERWEGS BIN, FÜHLE ICH MICH ZU HAUSE.

Ausländer haben ein seltsames Bild von uns: Wir seien pünktlich, heißt es, strebsam, zuverlässig, arbeitsam und ernst. Und schon bin ich in die Klischees hereingestolpert und weiß doch so gut, dass wir das alles eben auch nicht sind.

In den meisten Sprachen gibt es keinen Begriff für das Wort Heimat, was ich schade finde. Wenn ich an Heimat denke, kommt mir Detmold in den Sinn, denn dort bin ich geboren. Wobei der Begriff Heimat schrecklich überfrachtet ist: von Nazis missbraucht, romantisch verklärt, deutschtümelnd. Das meine ich aber nicht, sondern eher Verwurzelung, Zugehörigkeit zu einer bestimmten Region oder Lebensweise. Meine Heimat also, Detmold, steht für Fachwerkhäuser, Plattdeutsch, Teutoburger Wald mit dem Hermannsdenkmal, Kneipen, die versuchen, urig zu sein, und sicherlich auch als Synonym für deutsche Provinz. Für mich fühlt sich der Begriff Heimat immer auch nach Verlust an. Nach einer Mischung aus Sehnsucht und einem Gefühl für etwas, das ich nie besessen habe.

Zu uns Deutschen gehören Perfektionismus, Pünktlichkeit, Ordnung, Autobahnen und -marken, Bierbrauen und -trinken, und tatsächlich der Rhein. Jahrelang habe ich an diesem Fluss gelebt. Und immer strahlte er für mich eine Traurigkeit aus; etwas, das ich nicht greifen konnte. Etwas Größeres als mein Leben. Größer als das Menschsein. Er stand für Konstanz, Langlebigkeit, Zuverlässigkeit, Tiefe, Kraft. Alles Attribute, mit denen ich mich im Leben immer schwergetan habe.

Der Rhein ist weltberühmt, eine der meistbefahrenen Wasserstraßen unseres Landes. An ihm haben die alten Römer kampiert, Burgen wurden an seinen Ufern gebaut, Kriege geführt – jahrtausendelang.

AM RHEIN HABEN DIE ALTEN RÖMER KAMPIERT, BURGEN WURDEN AN SEINEN UFERN GEBAUT, KRIEGE GEFÜHRT – JAHRTAUSENDELANG.

Die Bonner Republik, Adenauer. Er ist Grenzfluss zwischen Schweizern, Liechtensteinern, Österreichern, Franzosen und Deutschen. Wo sonst könnte ich herausfinden, was unser Land ausmacht?

Von hinten tuckert ein Holzboot auf mich zu. Ich drehe mich mehrfach um, der Kapitän scheint Kontakt aufnehmen zu wollen und winkt mir zu. Da mir Motorboote die größten Ängste einjagen, wenn ich auf dem SUP stehe, weiche ich dem Typen lieber aus – aber er fährt bedächtig weiter in meine Richtung. Also höre ich auf zu paddeln und warte, was passiert. »Do you need a lift?«, fragt mich der Mann lachend, und zu seiner Überraschung willige ich ein. Sein Hund bellt mich an und nimmt Witterung auf.

Andrew ist um die 60 und Engländer, trägt ein T-Shirt mit dem Slogan Rule Britannia, auf dem Bug seines morschen, vier Meter langen Kahns prangt ein Wimpel mit dem Union Jack, der englischen Flagge, und Hund Buddy rennt vom Bug zum Heck und wieder zurück. So aufgeregt ist er.

Andrew fragt mich, wo ich hinmöchte. »Rotterdam«, antworte ich, und Andrew lacht und ruft laut Hurra! – natürlich britisch ausgesprochen, was dem Wort eine völlig andere Farbe verleiht. So weit könne er mich nicht mitnehmen. Aber Zeit für ein paar Geschichten hätte ich sicherlich, und er fängt an, mir sein Leben zu erzählen: Andrew sei Schriftsteller, mache Musik, habe die Brexit-Hymne geschrieben, lebe mit seiner Frau in der Schweiz und möchte mit dem alten Holzkahn bis Weil am Rhein fahren, also ans Ende des Bodensees, und sein Hund sei immer dabei. »Sperr mal deinen Hund und deine Frau für zehn Minuten zusammen in den Kofferraum und guck, wer sich freut, wenn du die Klappe öffnest.« Diese Art von Humor glaubt Andrew einem Deutschen gerade noch zumuten zu können.

VIELLEICHT TRAUT ER MIR ALLES GEHOBENERE NICHT ZU – SCHLIESSLICH BIN ICH TEUTONE UND ER BÜRGER DER LUSTIGSTEN INSEL DER WELT.

Andrew kommt wie gerufen, denn nach den langen Stunden auf dem Wasser hatte ich wie auf jeder Reise Angst, nicht genügend Stories zu sammeln. Doch Andrew ist ein eigenes Buch wert – er ist nämlich Ritter. So etwas gibt es in England tatsächlich noch. Er kennt Prinz Charles, Bob Geldof, David Beckham, trauert immer noch um Lady Di, denn er stammt aus einer Adelsfamilie in Lincolnshire, verkehrt mit den höchsten Blaublütern unseres Kontinents und ist das schwarze Schaf der Familie – was ich ihm sofort glaube.

Als ich ihn frage, ob wir zusammen ein Facebook live machen wollen, stimmt er begeistert zu. Er sei allerdings ein bisschen exzentrisch, was sich sofort bestätigt, sobald das Handy läuft, denn Andrew fängt an zu reden und zu reden und zu reden. Ohne Punkt und Komma. Irgendwann verliere ich den Faden und habe keine Ahnung, wie ich den Kerl je gestoppt kriegen soll. Aber ich mache hier keine ZDF-Reportage, sondern Social Media. Da ist alles erlaubt – und alles egal. Irgendwann muss ich den wie in Trance Redenden unterbrechen und die Live-Show beenden.


Schillernder Zeitgenosse: Andrew und Hund Buddy in Romanshorn.

Wir tuckern den See hoch, Andrew mit seinem fünf PS-Motor, ich an seiner Seite und Buddy wild wedelnd im Bug. Ich halte mich einfach an der Bordwand fest, lasse mich ziehen, fühle mich herrlich frei und stelle irgendwann fest, dass das Boot undicht ist und permanent Wasser zieht. Alle paar Minuten schöpft Andrew literweise Bodensee aus dem Kahn und lacht dabei. Er erzählt, dass hier auf dem See noch vor Christi Geburt die Kelten gegen die Römer gekämpft hätten. Wie zu erwarten, hätten die Römer gesiegt und konnten so ihren Siegeszug Richtung Norden antreten. Ohne diese Schlacht hätte es laut Andrew nie römische Spuren am Rhein gegeben – keine Siedlungen, die zu Städten wurden, keine Kultur, keinen Spaß und vor allem keinen Wein. Der Region wäre ihr höchstes Gut geklaut worden. Wenn Wein das höchste Gut einer Region ist, denke ich, muss es um die Region schlecht bestellt sein. Es hätte allerdings auch keine Thermen, Amphitheater oder Bildung gegeben. Laut Andrew haben wir den Römern alles zu verdanken. Er muss wissen, wovon er spricht, denn die Römer haben es nie bis nach Britannien geschafft.

Nach einer Weile kann ich nicht mehr zuhören, obwohl ich ein guter Zuhörer bin. Doch Andrew redet einfach zu viel. Noch dazu verursacht der Motor beträchtlichen Lärm, sodass das Englische schwer zu verstehen ist und meine Gedanken abschweifen. Hinzu kommt der britische Humor, der für jeden Nichtbriten kaum zugänglich ist. Bei Engländern gilt es als verpönt, über eigene Witze zu lachen. Erst wenn das Gegenüber lacht, darf der Erzählende mit einstimmen. Bei mir hat Andrew wenig zu lachen, da ich noch überhaupt nicht auf seine Art eingestellt bin und noch nicht ahne, dass hinter jedem zweiten Satz ein Joke steckt. »You’re quite German«, urteilt er korrekterweise und redet weiter über sich und sein Motherland, denn so heißt Vaterland auf Englisch.

IN GROSSBRITANNIEN GEHÖRT SCHWARZER HUMOR ZUM BRUTTOSOZIALPRODUKT UND WITZE GEGEN DEUTSCHE ZUM GUTEN STIL.

What’s the difference between the Dresden bombing and Germany’s best comedian? Only the first one can make you smile.

Wenn sich die Möglichkeit bietet, Menschen anzusprechen, nutzt er sie. Zwei Angler fragt er nach einem Campingplatz in der Nähe, einen Kanufahrer, ob er ihn auch mitnehmen solle, eine Jacht-Crew, ob sie wüssten, wo man heute Abend gut Party machen könne. Er hätte mal wieder richtig Lust auf ein paar nette Girls. Andrew ist eine Mischung aus aufdringlichem Kind und indiskretem Greis. Doch mich kennt hier niemand, ich stelle auf Beobachtermodus und versuche, mir jede Minute zu merken, um sie später niederschreiben zu können.

Nach einer knappen halben Stunde erreichen wir einen wunderschönen Campingplatz direkt am Wasser. Andrew motort gnadenlos in die Schwimmzone, legt an, geht auf das nächstbeste Wohnmobil zu, wo Mutter und Tochter zusammen Hausarbeiten erledigen, und fragt nach einer Tasse Kaffee. Die Dame ist zum Glück offen und freundlich und setzt uns tatsächlich einen Kaffee auf. Andrew setzt sich zu der Tochter, die zufällig gerade Englisch-Hausaufgaben macht, und hilft ihr dabei, als würde er sie von Geburt an kennen.

Da die Mutter kaum Englisch spricht, stellt sich heraus, dass Andrew sogar ziemlich gut Deutsch spricht. Er erzählt die gleichen Geschichten, die er mir erzählt hat – Rittertum, Lady Di, David Beckham, fragt nach einem Schluck Rum, den er in seinen Kaffee schütten kann, winkt zu den Nachbarn herüber, als wären sie alte Bekannte, und fühlt sich vollkommen zu Hause.

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Idyllisch, aber nicht ganz legal: mein Übernachtungsplatz in Romanshorn.

Plötzlich taucht der Campingplatzbetreiber auf. Seine Plauze betritt zuerst unseren Zeltplatz, dann die Tränensäcke und zuletzt der Rest dieses offensichtlich alkoholkranken Menschen. Er spricht in tiefstem Österreicher Dialekt und fuchtelt dabei wild mit den Armen, wobei seine Tattoos lustig schlabbern. Hunde seien hier absolut verboten und Boote erst recht. Raus! Andrew versucht, den Mann zu beruhigen, und will anfangen, über seine vielen Reisen zu schwadronieren und wen er alles kennen würde, als er rüde unterbrochen wird. Raus!

Wir bedanken uns bei Mutter und Tochter, Buddy springt zurück an Bord, ich mache die Leine los, und wir legen wieder ab, weiter Richtung Norden, in die nächste Bucht. Andrew lenkt das Boot in den kleinen Hafen von Romanshorn, und ich sehe schon den perfekten Ort für mein Zelt: ein kleiner Hügel, wie eine Aussichtsplattform mit Blick über den Bodensee. Sicherlich ist Zelten dort strengstens verboten. Doch in der Dunkelheit wird man mich da oben kaum erkennen, insbesondere da mein Zelt camouflagefarben ist. Andrew meint, er wolle in seinem Boot übernachten. Dabei hat er noch nicht mal eine Isomatte oder Kissen oder irgendeine Unterlage dabei. Er erzählt etwas von einer Persenning, unter die er kriechen würde. Ich ziehe erstaunt die Brauen hoch – so einen Typen habe ich tatsächlich noch nie kennengelernt. Und wen habe ich nicht schon alles kennengelernt …

Direkt neben dem Hafen liegt ein Restaurant. Andrew offenbart mir, dass er keinen Cent Geld dabeihätte – und auch keine EC-Karte. Kein Problem, sage ich und lade ihn auf eine Pizza und ein Bier ein. Wieder erzählt er Geschichten über Geschichten; einen verwirrenden Mix aus Business-Unternehmungen mit 60 Millionen von der Bank, Kneipen, die nach ihm benannt seien, und Schlössern, die er kaufen konnte, aber nicht wollte.

Weiterhin spricht er jeden Menschen an, der an unserem Tisch vorbeikommt – wir sitzen am Rand der Pizzeria direkt neben der Flaniermeile von Romanshorn. Andrew winkt jeder Frau zu, auch wenn sie außer Sichtweite ist, verwickelt alle neuen Gäste in Gespräche und merkt nicht, dass die meisten Menschen eher ihre Ruhe suchen und vielleicht keine ausschweifenden Unterhaltungen führen möchten. Vielleicht haben sie auch nur Hunger und müssen sich erst einmal stärken. Andrew scheint keine Ahnung zu haben, dass er die meisten Menschen mit seiner Art abschreckt. Er meint sich ständig beweisen zu müssen, wie offen er ist und wie verschlossen die Menschen am Bodensee. Auf mich wirkt es fast so, als würde er Fremden ein Glas Wasser ins Gesicht schütten und sich wundern, wenn diese nicht mit Freude reagieren.

Auf dem Rückweg zum Hafen kommen wir an einer Jacht vorbei, in deren Heck zwei Frauen sitzen. Andrew lobt erst ihr Boot, dann ihr großartiges Äußeres, sieht dann die dazugehörigen Männer im Bug hantieren und meint, man könne die beiden doch über Bord werfen und ihre Stelle einnehmen. Dabei setzt er eine so unschuldige Mine auf, dass die Frauen lachen müssen, sich dann aber schnell wieder ihrem Getränk zuwenden.

Für gewöhnlich dauert es, bis mir Menschen wirklich unangenehm sind. Andrew hat es geschafft mit seiner Altherrengeilheit und Spießigkeit im Britenlook.

VIELLEICHT SPIELT AUCH MEINE ERKENNTNIS EINE ROLLE, DASS DER GRÖSSTE GEMEINSAME NENNER FÜR DIE PROBLEME UNSERER WELT ALTE WEISSE MÄNNER SIND.

Während ich mein Zelt aufbaue, stellt Andrew fest, dass er nicht in seinem Boot schlafen kann, weil es dort zu feucht ist. Die Sonne ist längst untergegangen und über dem See hängt Nebel. Er werde schon etwas finden, sagt er im Fortgehen. Ich atme erleichtert auf, als ich ihn los bin, öffne mein Handy und google: Andrew E. – den Typen gibt es wirklich. Und er ist tatsächlich Großgrundbesitzer aus hohem Hause in England. Er schreibt wirklich Bücher und engagiert sich kulturell und politisch. Was ist da schiefgelaufen?

Ich verbringe die erste gute Nacht seit meiner Abreise aus Deutschland und werde frühmorgens von Andrew geweckt, der schon einen Kaffee in der Hand hat – wohlgemerkt einen. Er meint, ich wäre so deutsch mit all dem Equipment: Zelt, Wasserkocher, Thermobecher. Alles sei so gut geplant und organisiert. Ich lasse mich auf diese These nicht ein, denn ich finde es schlicht praktisch, gut organisiert zu sein und sich morgens selbst einen Kaffee kochen zu können. Auch schadet es nicht, ein Zelt und eine Isomatte dabeizuhaben. Insbesondere, wenn man wie Andrew ohne Geld unterwegs ist.

MICH ENTSPANNT ES, NICHT VON ANDEREN ABHÄNGIG ZU SEIN.

Mich entspannt es, nicht von anderen abhängig zu sein. Dies sei ein rein menschliches Bedürfnis und keine nationale Prägung, sage ich in einem vielleicht etwas zu strengen Ton. Andrew erzählt, dass er in dem Restaurant geschlafen habe, in dem wir gestern die Pizza gegessen haben. Auf einer Bank mit Kissen. Die Chefin hätte alles für ihn bereitet. Nette Lady.

Als ich befürchte, ihn nie wieder loszuwerden, besteigt Andrew plötzlich sein Boot, macht die Leine klar und fährt zurück nach Hause. Er sagt goodbye, als würden wir uns nur flüchtig kennen, wünscht mir, dass ich nicht ersaufen möge, und ist verschwunden. Buddy bellt mir noch lange hinterher.


Barfuß auf dem Rhein

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