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AM ANFANG

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»Deutschland ist ein schwieriges Vaterland.«

Willy Brandt

Irgendwo habe ich gelesen, dass ein Fluss vor Angst zittert, bevor er ins Meer fließt. Dass er zurückblickt auf seinen langen Weg aus den Bergen, durch Täler und Schluchten, an Städten und Dörfern vorbei, durch Ebenen und Weiten, um sich dann im Ozean aufzulösen und zu verschwinden. Aber das ist Quatsch, denn der Rhein löst sich nicht auf – vielmehr wird er zum Ozean und somit Teil dieses ewigen Kreislaufs. Und natürlich fließt er weiter; länger als es uns Menschen gibt. Er ist bloß der Beweis, dass uns die Zeit davonläuft.

Vom Zittern des Rheins spüre ich nichts, als ich die letzten Meter vor der Nordsee erreiche. Ich spüre nur mein eigenes Zittern vor Aufregung und Kälte. Vielleicht bin ich auch unterzuckert. Angst habe ich keine mehr. Nach mehr als 1200 Kilometern bin ich dem deutschesten aller Flüsse so nahe gekommen wie irgend möglich. Und nun vermengt er sich mit dem Meer und fließt hinter mir doch weiter, um eine neue Geschichte zu schreiben. Aber meine Geschichte auf seinen Wassern ist jetzt beendet.

Ich trage mein Brett über eine Kaimauer und lege es auf den Nordseestrand in Hoek van Holland, ziehe mein T-Shirt aus und gehe trotz der Kälte ins Wasser. Vielleicht sollte ich diesen Augenblick genießen – aber das Ziel fühlt sich nie so groß an wie die Hoffnung, es zu erreichen.

Es ist kurz vor Sonnenuntergang Ende September, und das Meer ist wärmer als die Luft. Das Salzwasser trägt mich, was mir ein anderes Schwimmerlebnis beschert als in den vergangenen Wochen. Jeden Morgen war ich im Rhein baden. Anfangs hatte er gerade mal zehn Grad, später über zwanzig. Mein Körper hat sich im Laufe dieser gewaltigen Reise daran gewöhnt, täglich in kaltem Wasser zu baden. Ohne Strömung und ohne Ziel gibt es fast keinen Grund, zurück an Land zu gehen, wo es draußen doch so kalt ist.

Die Wellen spülen meinen Körper zurück ans Ufer, und die vergangenen Wochen ziehen an meinem geistigen Auge vorüber: Im Alpenrhein bin ich fast ertrunken, auf dem Bodensee nahm mich ein exzentrischer Engländer ein Stück in seinem Bötchen mit und machte schlechte Witze über uns Deutsche, am Rheinfall half ich einem verzweifelten Schweizer, zwischen den Schleusen hinter Basel war ich so erschöpft, dass ich die Tour beenden wollte, an der Loreley habe ich verstanden, was der Rhein mit uns Menschen macht, im Siebengebirge luden mich Wildfremde in ihre Villa ein, im Rheinland wurde mir wieder klar, wie wichtig alte Freunde sind, und in Holland verscheuchte mich die Polizei, weil Stand-up-Paddeln auf dem Rhein verboten ist. Ich habe mit Österreichern, Schweizern, Franzosen, Holländern und natürlich Deutschen gesprochen, um herauszufinden, wie unser Land tickt, wie uns die anderen sehen und vor allem, wie es ist, in Deutschland Urlaub zu machen.

Seit Jahren will ich mein Heimatland bereisen, und endlich bekomme ich dank Corona hierfür die Möglichkeit – oder besser: Ich werde zu meinem Glück gezwungen, denn Reisen ins Ausland fühlen sich seit März 2020 nicht gut an.

Vier lange Wochen habe ich an den Ufern dieses gewaltigen Flusses Geschichten gesammelt, die mir unser Land näherbringen sollen – ohne Vorurteile, offen und frei, kritisch und mit einem Lächeln. Anders geht es nicht.

Jetzt bin ich am Ziel, habe mehr Fragen als Antworten gesammelt und kann eines mit Sicherheit sagen: Die anderen können uns Deutsche und unser Land echt mal gernhaben.

Barfuß auf dem Rhein

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