Читать книгу Barfuß auf dem Rhein - Timm Kruse - Страница 14

ROMANSHORN – KUHHORN/TÄGERWILEN

Оглавление

Auf all meinen Reisen, und ich bin viel und weit gereist, begegneten mir Menschen mit bestimmten Ansichten über mich, weil ich Deutscher bin. Ich würde sicherlich viel arbeiten, hieß es. Dabei hätte ein wenig Menschenkenntnis genügt, um zu erfassen, dass ich kein arbeitsamer Typ bin. Ob ich ein schönes deutsches Auto hätte – ich, der ein 37 Jahre altes Wohnmobil fährt. Ein italienisches noch dazu. Ob ich Fußballfan sei – das immerhin konnte ich bejahen. Borussia Mönchengladbach lässt sich für ausländische Zungen allerdings nicht aussprechen. Für Franzosen klingt mein Lieblingsverein wie Coitus interruptus, für Spanier wie eine besondere Form der Burritos und für Engländer nach der schlimmsten Pleite der 1970er-Jahre.

Vor Jahren fragten mich amerikanische Jugendliche, ob ich Hitler mögen würde und wo die Autobahn wäre – diese öffentliche Rennstrecke, auf der es kein Speed limit gebe. Ob Sauerkraut wirklich unser Nationalgericht sei und ob die Alten immer noch Lederhosen trügen. Dass BMW nicht die Abkürzung für British Motor Works ist, glaubte mir niemand. Und dass wir alle sonntags um 20.15 den Tatort gucken würden, halte ich, wenn ich lange unterwegs bin, auch für eine Mär. Es ist nicht einfach, einem Amerikaner zu erklären, dass ich gehisste Fahnen und Nationalhymnen nur schwer ertrage.

In England wurde ich Commi genannt, weil sie das mit den zwei deutschen Staaten nicht ganz verstanden hatten und meinten, ich sei Kommunist. In einer polynesischen Schule sollte ich das Dritte Reich erklären, und am Ende stellte die Lehrerin die Testfrage, ob die Nazis denn nun gut oder böse gewesen waren, und nicht jeder wusste die Antwort. In Israel hatte mich ein alter Mann deutsch sprechen gehört und mir mit Tränen in den Augen gesagt, wie er meine Sprache lieben würde. In Frankreich stand eine Frau vom Tisch auf, als sie erfuhr, dass ich Deutscher bin. Und in meinem eigenen Land komme ich mir häufig so fremd vor, dass ich mich unterwegs mehr zu Hause fühle als daheim. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich nicht in mein Land passe, denn ich kann weder befehlen noch gehorchen.

Heute begegnen mir Menschen auf der ganzen Welt viel offener als früher. Wir Deutsche werden nicht mehr sofort mit unserer Vergangenheit konfrontiert und in die Nazi-Schublade gesteckt – aber immer noch häufig. Sicherlich entstand ein neues Bild von diesen Deutschen mit Joschka Fischer als Außenminister, dem Sommermärchen 2006 oder mit der Flüchtlingskrise. Mittlerweile können uns die anderen wirklich gerne haben, denn wir werden jetzt größtenteils als offenes, wohlerzogenes, kultiviertes und weiterhin strebsames Volk wahrgenommen. Aber – ist das gut so und sind wir das wirklich? Und ist das schon alles? Wer sind wir also?

DASS BMW NICHT DIE ABKÜRZUNG FÜR BRITISH MOTOR WORKS IST, GLAUBTE MIR NIEMAND.

Den meisten Freundinnen und Freunden in meinem Umfeld kam im Gegensatz zu mir in diesen seltsamen Zeiten überhaupt kein Gedanke ans Reisen. Noch nie war es zu Hause so sicher wie im Moment. Die Ruhe und das Nichtstun brachten großartige neue Ideen hervor. Ein Freund fing einen erfolgreichen Podcast an, eine Freundin schrieb endlich ihren Roman zu Ende, meine Brüder heirateten doch noch ihre langjährigen Partnerinnen. Und ich? Was blieb für mich übrig – ich hatte ja schon meine Podcasts und so viele Bücher geschrieben. Und Heiraten ist irgendwie nix für mich. Reisen ging auch schlecht. Was also tun?

Noch nie hatte ich so viel Zeit, über mich nachzudenken. Wo komme ich her, wo will ich hin, mit wem will ich da hin, und was macht mich wirklich glücklich?

Was blieb an Möglichkeiten des Unterwegsseins übrig, die zumindest ein bisschen Abenteuer verhießen und trotzdem international waren? Die Antwort lag auf der Hand. Mir war sofort klar, dass eine Rheintour die perfekte Reise sein würde. Ich würde wie immer auf dem SUP, mit Zelt und Kocher, von oben bis unten einen Fluss bewandern. Von den Alpen in die Nordsee. Start in der Schweiz, die weiterhin zu den wenigen Ländern in Mitteleuropa gehört, die ohne großes Aufheben Menschen ein- und ausreisen lässt. Da der Rhein Liechtenstein und Frankreich nur streift, werde ich spontan sehen, ob ich dort Halt machen kann. Durch Deutschland darf ich als Deutscher sowieso paddeln, und wie sich die Lage in den Niederlanden entwickelt, sehe ich, wenn ich dort bin. Schlechtenfalls schaffe ich es nicht bis an die Nordsee – aber da ich geimpft bin, könnte meine Mission Von den Alpen an die Nordsee zu schaffen sein. Und ich hätte endlich Zeit, meinen Wurzeln nachzuspüren. Wer sind wir – und wenn ja, wie viele?, würde der Philosoph Richard David Precht fragen.

MIR WAR SOFORT KLAR, DASS EINE RHEINTOUR DIE PERFEKTE REISE SEIN WÜRDE.

Der Bodensee liegt glatt und unberührt vor mir, über mir dreht ein Zeppelin seine Runde, hinter mir liegen die Alpen, die an einigen Stellen sogar schneebedeckt sind, neben mir schimmert irgendeine Stadt im Frühnebel, auf den Buhnen sitzen Fischreiher, Strandläufer, Kiebitze und Kormorane, am Ufer stehen Häuser so schön, als hätten sie sich in Architekturwettbewerben gegenseitig übertreffen müssen. Dahinter stehen Reben in Reih und Glied und schmiegen sich an die Hänge. Enten und Schwäne treiben friedlich übers Wasser, Fische zischen unter meinem Brett hindurch, groß wie Bootsfender.

Ich lasse Hutmuseum, Napoleonmuseum, Zeppelinmuseum und Baggermuseum links liegen, denn ich bin hier nicht auf einer Kulturreise, sondern bewege mich in der Natur jenseits aller Kultur auf einer aufblasbaren Gummimatratze über diesen See und möchte alles auf dieser Reise direkt erleben – ohne Spaßprogramm, Ferienplan und Touri-Nepp.

Die Schweiz habe ich schon immer gemocht, hatte aber stets Angst vor den drakonischen Strafen bei Verkehrssünden. Immerhin haben sie damit meinen Verkehrsstil gebändigt und meinen Blick für die Schönheit der Berge und Schluchten geschärft. Jetzt aus der Wasserperspektive kommt mir dieses kleine Land vor wie aus einem Werbeprospekt. Alles ist sauber und gepflegt, formsicher und schmuck. Die Schweiz scheint eine perfekte Mischung aus Wohlstand, Tradition und Fortschritt zu sein. Ich idealisiere – aber was soll ich machen bei so viel Perfektion.

Das Wetter ist wärmer als in jeder Region Deutschlands, die geschwungenen Hügel so lieblich wie nirgends, die Natur größtenteils unberührt, freundlich und wie für uns Menschen geschaffen. Dazu liegt die große weite Welt nur ein paar Kilometer entfernt – der Flughafen von Zürich ist das Tor zu allem. In einigen Gärten wachsen Palmen, und wenn ich hier schreibe, dass ich sogar Bananenstauden gesehen habe, glaubt mir das kein Norddeutscher. In meiner Heimat sind Grünkohlpflanzen das höchste der Gefühle – in Detmold nennen wir sie Lippische Palme und trösten uns so über das miserable Wetter hinweg.

In der Schweiz herrscht altes Geld, das nicht prahlen möchte – eher das Gegenteil. Dezente Eleganz baut sich hinter den Böschungen auf und steht als Wahrzeichen der heilen Welt. Zumindest von außen ist hier alles gut. Nur weiter oben in den Hängen stehen moderne, neureiche Buden mit Fensterfronten, die protzig auf den See blicken.

Da heute Samstag ist, brettern so viele Motorboote über den See, dass es nicht nur unangenehm, sondern auch gefährlich ist. Ich weiß, dass sich Motorbootfahrer häufig überschätzen und noch dazu selten gute Seeleute sind. Ich könnte jetzt eine Menge Horrorgeschichten über Bootsunglücke auflisten, möchte aber die heile Welt hier unten nicht schlechtschreiben.

Seltsam, dass die Schweiz keine stärkere Reglementierung trifft. Wo wäre das Problem, nur noch Boote mit Elektromotoren auf dem Bodensee zu erlauben? Auf dem Wasser dröhnt das Brummen der PS-Monster über Kilometer den See hinauf und hinunter. Für die Bewohner, die nahe am Wasser leben, müssen diese Sommerwochenenden die Hölle sein.

Touristendampfer schippern an mir vorbei, und die Menschen winken mir aufgeregt zu. An meinem Gepäck erkennt man schnell, dass ich eine größere Reise unternehme. Im Gegensatz zu Norddeutschland sind die Dampferkapitäne hier freundlich und grüßen zurück. Auf der Förde oder der Alster wäre es undenkbar, dass einer der Barkassenführer einem Stand-up-Paddler auch nur zunickt. Sogar die Ruderer sind hier ohne Allüren und rufen mir fast immer ein freudiges Grüezi entgegen. In Deutschland halten sich viele Ruderer – ähnlich wie die Segler – für die Elite auf dem Wasser. Neuankömmlinge mit aufblasbaren Gummiplanken werden schlichtweg ignoriert. Es ist verblüffend, wie unhöflich elitäres Denken machen kann.

ES IST VERBLÜFFEND, WIE UNHÖFLICH ELITÄRES DENKEN MACHEN KANN.

Ich paddle dicht an der Konstanzer Wasserfontäne vorbei, die 30 Meter hoch in die Luft spritzt. In ihrer Gischtwolke sitzen ein paar Kanufahrer in ihren Booten und lassen sich kühlen. Regenbögen spritzen übers Wasser, und der Dunst zieht sich bis in den Konstanzer Hafen.

Die Schweizer ahnen, dass dies das letzte Sommerwochenende des Jahres sein könnte. Jedes Boot des Bodensees scheint auf dem Wasser zu sein, und in den Biergärten am Ufer stehen die Leute Schlange. Wie so oft frage ich mich, wie wir den nächsten Winter überstehen sollen. Ohne Sonne, ohne Draußen, dafür mit Corona.

Hinter einer Brücke in Konstanz rausche ich an einem Schild vorbei: Rheinkilometer 0. Ab hier wird offiziell gezählt. Die Tage vorher? Vorbei und vergessen. Es ist so egal, wie viele Kilometer ich auf dieser Reise mache oder gemacht habe. Die Eindrücke zählen, das Erlebte, das, was ich daraus mache. Und das ist schon nach diesen drei Tagen fast mehr, als ich ertragen kann.

Kurz nach dem Schild kommt eine Stromschnelle, und der Rhein verwandelt sich für hundert Meter in ein brodelndes Sudbecken, das mich an die schrecklichen Momente auf dem Alpenrhein erinnert. Ich knie mich auf mein Brett, um nicht ins Wasser zu stürzen, und überstehe die Schwellen ohne Mühe. Ein paar Meter später flüstert der Rhein wieder, kleine Wellen lispeln am Bug meines Bretts, und es herrscht wieder dieser unbedingte Frieden innen wie außen.

Das Wasser des Untersees ist tiefgrün, unter mir schlingern Pflanzen wie die Haare von Seeriesen und versuchen die wippenden Fransen der Trauerweiden am Ufer zu erreichen. Biergärten, Schlösser und Burgen schauen dabei zu und schicken ihre Späher in die Luft, die mich umkreisen, als wäre ich die einzige Attraktion auf dem Wasser. Zum Glück gibt es hier keine Möwen, denn die lieben nichts mehr, als Paddler zu bescheißen.


Das Museum im Turmhof im schweizerischen Steckborn widmet sich Land und Leuten am Untersee.

Ein paar Kilometer hinter Konstanz sehe ich eine Wiese am Rhein, mit ein paar Menschen auf Picknickdecken. Wie so häufig auf Reisen kommen mir diese Menschen wie Staffage meines eigenen Films vor. Als wäre alles inszeniert, als hätte ein übermächtiger Regisseur die Szenerie und das Setting extra aufgebaut, um die Perfektion dieser Welt zu demonstrieren.

Als ich mich nähere, erkenne ich, dass es sogar einen kleinen Imbiss gibt. Ich bestelle das Günstigste: ein Stumpli, 6,50 Fränkli. Entgegen meiner sonstigen Gepflogenheiten brauche ich Fleisch, hier in Form von roter, dicker Wurst. Fett gibt Kraft – und genau die brauche ich gerade.

AUF SOLCHEN REISEN GIBT ES KEINEN RAUM FÜR EXTRAWÜRSTE WIE VEGETARISMUS UND ÄHNLICHES.

Kaum habe ich aufgegessen, setzt sich ein Mann zu mir – stellt sich als Gisbert vor, schüttelt mir trotz Corona die Hand und fragt, wo ich herkomme und was mein Ziel wäre. Ich erzähle ihm von meiner Reise, und er beneidet mich um die Tour – er ahnt nicht, welche Strapazen so eine Reise mit sich bringt. Gisbert dürfte ein bisschen älter sein als ich und spricht mit westfälischem Dialekt. Seine Eltern kämen aus Hagen, er sei in Südafrika aufgewachsen, lebe seit dreißig Jahren in der Schweiz und könne sich nicht vorstellen, je wieder nach Deutschland zurückzukehren. Was denn an der Schweiz so anders sei als in Deutschland, frage ich. Er lacht. »Hier ist alles schon mal viel teurer. Aber das bedeutet, dass in der Schweiz so viel Geld in Umlauf ist, dass die Menschen hier generell einen entspannteren Umgang mit Geld pflegen. Sie wissen, dass es von allem genug gibt. Hier gibt es keine Mittelschicht mit diesem kranken Ehrgeiz wie in Deutschland. Hier kocht jeder sein Süppchen, prahlt nicht rum, denkt auch mal an andere und lebt ein bescheidenes und zufriedenes Leben.« »Komm«, sage ich. »Bescheiden? Guck dich mal um, was hier für Boote an uns vorbeifahren und was für Villen hier am Ufer stehen.« »Die Boote«, erwidert er, »das garantiere ich dir, gehören Deutschen. Und die Villen sind 120 Jahre alt. Altes Geld, das den Leuten seit Generationen ihre Freiheit lässt. Hast du schon mal einen Schweizer getroffen, der nicht zuvorkommend und höflich war?«

Während ich überlege, kommt die Kiosk-Chefin auf uns zu. Jetzt gibt’s ein Donnerwetter, denke ich, weil ich mein Zelt aufgeschlagen habe und dies hier sicherlich nicht erlaubt ist. Die Frau ist um die 60, hat ein recht verlebtes Gesicht, das ein schiefes Grinsen ziert. »Wenn Sie möchten, können Sie heute Nacht in unserer Hütte schlafen. Da gibt’s keine Schnaken.« Ich bin überwältigt – und denke gleichzeitig, dass die das hier abgesprochen haben. Aber ich kenne diese Zufälle auf Reisen.

Hinter Dreifachverglasung kriege ich ja nicht mal mit, wenn es draußen regnet.

Ich bedanke mich überschwänglich bei der Frau, lehne ihr Angebot allerdings ab, da ich viel lieber im Zelt schlafe. Ob das für sie okay wäre? Aber natürlich sagt sie und bietet mir eine Zigarette an. Obwohl ich seit 25 Jahren nicht mehr rauche, nehme ich an. Wird mich schon nicht umbringen und erst recht nicht wieder süchtig machen, denke ich.

WEIL MAN UNTERWEGS AUS DEM ALLTAGSTROTT HERAUSKOMMT UND SO VIEL NEUES ERLEBT, SIEHT MAN ERST, WIE VIELE ÜBERRASCHUNGEN DAS LEBEN BEREITHÄLT.

Ob ich wirklich bis nach Rotterdam wolle. Ich bejahe, und sie findet das großartig. »Ihr Deutschen, ihr macht wenigstens was. Ihr nehmt euch was vor, und dann geht’s los. Wir Schweizer sind viel zu satt.« Ich lasse das mal so stehen und freue mich über das Lob. Gisbert verzieht den Mundwinkel und sagt nichts. Plötzlich ertönt hinter uns ein lautes Tröten. Am Kiosk steht ein Mann und bläst durch ein zu kurz geratenes Alphorn. Ein paar schiefe Töne scheppern in erstaunlicher Lautstärke bis weit in die Natur hinaus. »Das ist mein Mann«, sagt die Kioskbesitzerin. »Immer, wenn ein Touristendampfer vorbeifährt, grüßt er mit seinem Kuhhorn.« Ich betrachte das Ding genauer und sehe, dass es tatsächlich ein Kuhhorn ist, das auf einem hohlen Ast aufgepflockt ist. Wie ein Didgeridoo mit Horn, denke ich noch, als ein Dampfer mit einem dreifachen Getute lautstark zurückgrüßt. An der Reling stehen fröhliche Menschen und winken in unsere Richtung, und die gesamte Wiese erhebt sich und winkt zurück. Sollte ich nochmal erwähnen, dass die Schweizer ein nettes Völkchen sind?

Barfuß auf dem Rhein

Подняться наверх