Читать книгу Eisenzwerg - Timo Rebus - Страница 9
Die Jenischen
ОглавлениеAber in Wirklichkeit war die Geschichte viel komplizierter, als sie sich eine der beteiligten Parteien hätte vorstellen können und es bleibt fraglich, ob das Puzzle jemals von irgendwem detektivisch zusammengesetzt hätte werden können, wenn nicht ...
Also, die beiden Halbstarken hatten den Eisenzwerg aus Alberts Garten geklaut, wo er gar nicht so leicht zu entdecken gewesen war. Sie hatten das massive Teil zu zweit auf einem nicht zugelassenen, nicht verkehrssicheren Moped abtransportieren wollen. Das Moped ging unter der Last des jugendlichen Fahrers, des gleichaltrigen Sozius, der den Zwerg und sich selbst festhalten mußte – nur Halbstarke schaffen das überhaupt – und dem Gewicht des Eisenzwerges selbst ordentlich in die Knie bzw. senkte sich erkennbar tief in die Federung, so daß der Reifen am Schutzblech streifte und sich am staubigen Boden so in die Breite dehnte, als wäre er platt.
Die Flucht gelang dennoch. Zwar zuerst wackelig und kurvenfahrend, doch dann stabil und immer schneller, steuerte das merkwürdige, illegale Gefährt mit der seltsamen, ebenfalls illegalen, Fracht durch den, natürlich für Fahrzeuge gesperrten, Hindenburg-Park in Richtung Birketle-Siedlung. Der in seiner Geschichte immer mal wieder gepflegte und nach Jahrzehnten abwechselnder Intervalle von Wildheit und Verwahrlosung, hatte im Augenblick wohl seine wilde und verwahrloste Phase zugleich. Was vermutlich daran lag, daß das südlich liegende Birketle, seit Ende des ersten Weltkrieges und noch stärker nach dem zweiten Weltkrieg von einer Bevölkerungsgruppe bewohnt wurde, deren
Angehörige nach den jeweiligen Kriegswirren überwiegend aus dem Elsass hierher gezogen waren und sich regelrecht eingenistet und breit gemacht hatten. Sie nannten sich selbst Jenische und gingen keiner regelmäßigen Beschäftigung nach, zumindest nicht in den Augen der alteingesessenen Kleinstadtbevölkerung.
Fahrende Leute, die zuerst mit Pferdegespannen, heute mit rostigen und verbeulten Kleinlastern die Landstraßen bereisten und überwiegend Schrott und Altmetalle sammelten - am Rande auch Antiquitäten und anderen verwertbaren Krimskrams suchten. Vielleicht da die Väter oft auf Walz waren, hatten die Mütter die große Kinderschar nicht vollständig im Griff. Teilweise unbekleidet, ohne Schuhe und verrotzelt die ganz Kleinen, rauchend und Bier trinkend, sofern sie dessen habhaft werden konnten, die etwas größeren, mopedfahrend und die Gegend unsicher machend die Großen, führten sie ein freies wildes, nahezu unkontrolliertes Leben. Kleinere Vergehen und Prügeleien waren an der Tagesordnung. Die motorisierten Interessen waren schon in frühester Jugend stark entwickelt. Wenn in einer heimgebrachten Ladung Schrott ein alter Taktor oder ein verbeultes Mottorrad war, so gelang es gar nicht selten, dieses mit allerlei Tricks und handwerklichem Geschick wieder zum Laufen zu bringen. Und wenn der Motor lief und das Vehikel sich bewegte, war die Freude groß und es wurde gefahren und gefahren, durch Park, Feld und Wald. Ob der Auspuff genügend dämpfte oder die Bremsen gingen, war zweitrangig. Ob groß oder klein, man fuhr bis man der Sache überdrüssig, der Tank leer oder ein weiterer technischer Defekt aufgetreten war und man das nun nicht mehr fahrende Untensil einfach in die Hecke warf. So ähnlich war das mit unseren Zwergendieben, wobei Jungs, die sich schon fast oder ganz im Halbstarkenalter befanden, natürlich gegenüber der großen Kinderschar durchsetzen konnten und den ersten Zugriff auf solche Gefährte hatten. Das heißt die weniger kräftigen oder durchsetzungsstarken waren noch mit Basteln beschäftig oder damit, sich originelle Fahrzeuge oder Teile dafür aus den Schrottbergen, die sich rund um die bescheidenen Häuschen oder Hütten oder Wohnwagen oder zu Behausungen umgebauten Kofferaufbauten von Lastwagen reihten.
Das Birketle war kein scharf umgrenztes Gebiet. Lumpen, Fahrzeugteile, alte Reifen verunzierten den nördlich anschließenden Park ebenso wie die umliegenden
Wiesen und den südlich angrenzenden Judenfriedhof – anfänglich. Denn bald mußten die Behörden ebenso einschreiten, wie beim Abfackeln der Isolierungen von Unmengen Kupferkabeln in der südlich gelegenen Kiesgrube oder dem Fahren auf den umliegenden Feldwegen mit wieder in Gang gesetzen ausrangierten Formel-II-Rennwagen oder Panzern ohne Rohr oder ganz gewöhnlichen Autos und Motorrädern aus dem gesammelten Schrott. Obwohl damals noch kaum jemand von Umweltschutz redete, war doch auch die Staubfahne eines kettengetriebenen Panzers, das auspufflose Röhren eines Rennwagens oder der schwarze, giftige Qualm von brennenden Kabelresten, der bis in die Kleinstadt vordrang, schon auffällig, lästig oder gar gefährlich. Das Polizeiauto konnte also des öfteren dort draußen am Birketle beobachtet werden. So auch diesmal, als die Polizei der Anzeige eines gestohlenen Eisenzwerges nachgehen mußte, aufgegeben vor zwei Tagen, von einem Handelsvertreter, der zugleich leidenschaftlicher Zwergensammler war, und den Verlust bemerkt hatte, als er von einer mehrtägigen Reise zurückgekommen war. Die beiden jenischen Halbstarken staunten daher nicht schlecht, als sie gerade auf ihrem Schleichweg durch den Hindenburg-Park angeknattert kamen, durch das Holdergebüsch brachen und den Polizeiwagen erblickten. Konnte das sein? Ihre Dieberei war doch erst wenige Minuten her. Der Diebstahl, das nicht zugelassene und nicht versicherte Moped, ganz zu schweigen von den fehlenden Führerscheinen der minderjährigen Fahrer, lasteten folglich so unmittelbar und so schreckhaft auf dem Gewissen der Jungen, daß sie sich zu sofortiger weiterer Flucht entschlossen, in der Aufregung jedoch den Motor aufheulen ließen, worauf sie sich der Aufmerksamkeit der beiden Polizisten, die sofort ins Auto sprangen gewiss sein konnten. Die Verfolgung zog sich hin. Die Burschen waren geschickt und wagemutig und kannten das Gelände. Fast wäre es ein Spaß gewesen. Doch sie unterschätzten das strategische Können der ebenfalls ortskundigen Polizisten, die allen Abkürzungen zum Trotz, wie beim Wettlauf von Hase und Igel, immer die Rolle des Igels spielen konnten. Am Ende blieb nur noch der letzte Ausweg über unzureichend bekanntes Terrain.
Also panisch ein verwildertes ehemaliges Wochenendgrundstück in Richtung Bahngleis hinabgebraust, altes, braunes Gras, ein verborgener Graben, ein übler Sturz, zwei leicht Verletzte, die das Motorrad zurückließen und sich durch Gestrüpp, Altwasserschilf und Fluß vermeintlich unerkannt davonmachen konnten. Hätten sie den Eisenzwerg nicht schon im Park vom Motorrad gestoßen, so wäre er womöglich zum tödlichen Verhängnis geworden. So war er im Park einen
kastanienbeschatteten Hang hinabgekullert, an der Mauer einer alten Ruine gestoppt und von nachstürzendem vorjährigen Kastanienlaub, verschüttet und verborgen worden. Obwohl ihm auch diese Bleibe nicht schlecht gefallen hatte,
war er in der darauffolgenden Nacht aufgebrochen und in Alberts Garten zurückgekehrt. Die bösen Buben aber mußten sich mit Prellungen, Abschürfungen und einem gebrochenen Finger ins Krankenhaus in ärztliche Behandlung geben, sind dort verhaftet worden und stritten sowohl den Diebstahl als auch die Schwarzfahrt erfolgreich ab.
Doch nicht nur Albert las den Zeitungsbericht, eigentlich waren es zwei Artikel, von der Verfolgungsfahrt zweier jugendlicher Schwarzfahrer durch die Polizei und von einem gestohlenen 60-80cm großen antiken, eisernen Gartenzwerg, den er inzwischen wieder in seinem Besitz wußte. Einer der Väter der beiden jenischen Buben, ein kräftiger, schwarzhaariger Mann mit lederigem, pocken-, akne- oder sonstwie-narbigem, braunen Gesicht, dem man seine zigeunerverwandschaft, was bei den anderen Jenischen nicht der Fall war, nicht absprechen konnte, saß eben in Unterhemd und ölverschmierter blauer Hose auf einem alten Stuhl vor einem Haufen Schrott neben seiner Wellblechbehausung, neben sich eine Flasche Bier und einen Teil einer lokalen Zeitung auf dem wackeligen Tisch, den die untertänige Frau und die Tochter ins Freie hatten tragen müssen, und strich sich über seinen schmalen Oberlippenbart, dann über seine Stirn und seine schweißverklebten, fettigen Haare. Nicht alle seiner erwachsenen Mitbewohner seines Schrott-Ghettos konnten damals lesen. Er galt als gebildet und war entsprechend angesehen. Aber vielleicht trugen seine außerordentlichen Körperkräfte mehr zu seinem innergemeinschaftlichen Rang bei. Jedenfalls brauchte er diese des öfteren, um seine Frau, seinen Besitz, seine Ehre oder was auch immer zu verteidigen. Nichts blieb, kein Status hatte Anspruch auf Dauerhaftigkeit. Alles wollte ständig verteidigt und erobert werden, wie die wöchentliche Fuhre Schrott.
Da saß er also, dieser intelligente, bärenstarke Mann, strich sich durchs Haar und über den wachsenden Bauch, ließ die beiden Zeitungsartikel von der Verfolgungsjagd und dem geklauten Eisenzwerg auf sich einwirken, wobei vor allem der angegebene Wert von 8000 Mark besondere Aufmerksamkeit erregte und ließ von ganz tief unten aus seinem Bauch heraus, eine lauter werdende blechern scheppernde, tiefe, kratzige, versoffen klingende, rauhe Stimme zurückhaltend fordernd ertönen: „Leni! – Leni! Wo sin` die Buben?“
Die Buben waren – natürlich – nicht da. Nach dem Polizeiauftritt waren sie vermutlich nicht scharf darauf, vor das verschwitzte, lederige Angesicht ihres Vaters zu treten. So kehrten seine Gedanken wieder zu diesem eisernen Zwerg zurück, zu seinem kaputten Kreuz, dem 45 Jahre lang viele, zu viele, schwere Lasten zugemutet worden waren, zu seiner kärglichen Behausung, zu seinen sieben Kindern, die wie die sieben Zwerge täglich von ihm und seiner ehemals schneewittchengleichen, schönen Frau ernährt werden wollten. Sie war immer noch attraktiv, obgleich die sieben Kinder und die Lebensumstände Spuren hinterlassen hatten. Zu gerne hätte er dieses Milieu verlassen. Man konnte Jenischer sein, nicht alle bekannten sich damals dazu, aber man mußte nicht unbedingt leben wie ein Jenischer. Die alteingesessenen Kleinstadtbürger nannten Leute wie ihn abfällig „Wagges“. Woher das Wort auch immer kommen sollte, es hatte eine Wirkung wie „Nigger“ einem amerikanischen Schwarzen gegenüber. Es wurde, insbesondere einem starken Mann wie ihm gegenüber, selten offen ausgesprochen. Die Kinder jedoch, wollten nicht in die Schule gehen, weil sie von den anderen als „Wagges“ oder unzutreffend als „Zigeuner“, das war auch nicht viel angenehmer, gehänselt und diffamiert wurden. Das behaupteten sie jedenfalls und bleiben den Erziehungsanstalten gerne und oft fern. Er war überzeugt, daß das Wort „Wagges“ bei den „Bauern“, das waren alle anderen, eine alltägliche, selbstverständliche Bezeichnung für die Jenischen war. Mühsam unterdrückt oder diplomatisch vermieden in der Anwesenheit von ihresgleichen. Aber nicht immer. Dann gab es meistens viel Ärger. Schlägereien waren nicht selten, auch unter Jenischen selbst, oft wegen der Frauen. Tagelange Überlandfahrten brachten so einige Komplikationen mit sich. Er wollte sich von diesem jenischen Mob abheben, wollte andererseits aber auch die Anerkennung .
Er spürte ihren Neid, ihren ständigen Neid um seine Stärke, seine Lesekenntnisse, ihren unanständigen Neid um seine Frau, um seine Kinder. Wie lange wollte er das noch durchhalten? Wie lange wollte er noch mit seiner Körperkraft schweres altes Eisen herumheben. Er wurde älter.
Mit einem Anflug von Willensstärke fegte er die Zeitung beiseite, soff das Bier aus und machte sich über das gelagerte alte Eisen her. Er warf Fahrräder beiseite, schob Autofelgen weg, stemmte Achsen, zerrte an Kabeln und rüttelte an Autokarossen. Hatten die Burschen den Eisenzwerg flüchtig im ersten Schrotthaufen verstaut oder etwas raffinierter unter den alten Teppichen und dem Altpapier, an der geheimen Stelle, wo auch er immer die wertvolleren Buntmetalle verstaute. Aus der Lektüre der Artikel hatte er kombiniert was vorgefallen sein mußte. Natürlich fiel sein Verdacht sofort auf seine Jungens. Er wünschte es sich geradezu. Zugeben würde er es natürlich nie. Die Buben und klauen? Ein paar hinter die Löffel gäb es! Na ja, Schrottklauen war etwas anders, eher so was wie sammeln, Alteisen aufräumen, Unrat beseitigen, ein Dienst an der Umwelt und am Nächsten. Sicher war sein Nachwuchs sich über den Wert des Zwerges im Unklaren. Er hatte nach ihnen geschickt. Jetzt waren sie da. Sie sahen übel aus, vom Sturz. Dennoch mußten sie ihm die Stelle zeigen, wo sie den Zwerg abgeworfen hatten. Sie suchten, kombinierten das Wegrollen richtigerweise mit ein, suchten fieberhaft weiter, inzwischen die ganze Sippschaft, sie fanden nichts. Er nannte sie „Dinnallos“, wegen der Schwarzfahrt und dem „getschorten“ Zwerg, aber hatte Verständnis. Sie würden morgen bei Tageslicht, in aller Frühe, weitersuchen. So ein schweres Teil kann ja nicht weglaufen. Zwischenzeitlich konnte man sich schon mal um das Geschäft, um den Weiterverkauf kümmern. Die Jungs sollten schließlich was lernen, sollten die Sache mal selbst einfädeln. Da war doch immer dieser Verrückte Sammler, der alle paar Wochen vorbeikam, um im Schrott nach interessanten Antiquitäten, alten Kühlerfiguren, Gartendekoration, Zwergen usw. zu suchen ... ein Gedanke zündete ....