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ALLES STEHT KOPF

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Mir bleiben noch vierzig Minuten, um vor dem ersten Interview meine Notizen noch einmal durchzugehen. Aber fassen wir kurz zusammen. Vor etwa zwei Jahren erhielt ich eine E-Mail von einem Mann namens Jakob Köllhofer, der mich einlud, an einem Projekt teilzunehmen, bei dem »Schriftsteller zu Wissenschaftlern unterschiedlicher Institute der Universität Heidelberg geschickt werden« sollten, um herauszufinden, »ob die ›Naturwissenschaften‹ in der Lage wären, ein Konzept für eine ›neue Metaphysik‹ zu entwickeln«. Ich war fasziniert von Köllhofers Gebrauch der Anführungszeichen, zugleich aber verblüfft von der Idee. Wie kann die Beobachtung der Welt und selbst die daraus folgende Reflexion und Spekulation uns je zu dem Warum der Existenz der Welt führen? Man kann die Urknall-Theorie beweisen und trotzdem nichts darüber erfahren, warum der Urknall sich ereignet hat oder warum er sich in dem betreffenden Moment ereignet hat. Oder ob er sich ereignen musste. Und selbst wenn man all das herausfände, bliebe es immer noch ein Geheimnis, was davor war, und dann wiederum davor.

Im weiteren E-Mail-Austausch stellte sich jedoch heraus, dass sich Köllhofer in erster Linie für die Frage interessierte, ob die Wissenschaft in den Köpfen der Menschen allmählich die Religion ersetzte. Das schien eher ein anthropologisches Thema zu sein als harte Wissenschaft, etwas, zu dem ich unter Umständen tatsächlich etwas beisteuern könnte. Hinzu kam, dass in der ursprünglichen Einladung gestanden hatte, Köllhofers Arbeitgeber, das Deutsch-Amerikanische Institut, könne mir dafür »ein ansehnliches Honorar« anbieten. Wer wäre nicht neugierig, was in einem solchen Satz wohl mit »ansehnlich« gemeint war? Zudem hätte ich Gelegenheit, ein paar Spitzenwissenschaftler zu treffen und mit ihnen über das menschliche Bewusstsein zu sprechen.

Denn das Bewusstsein fasziniert mich schon seit einigen Jahren, ich brenne förmlich darauf, über das Thema zu reden und nachzudenken. Womit ich sagen will, dass ich seit ein paar Jahren im Gespräch mit Riccardo Manzotti bin und mit ihm eine der intensivsten und längsten Debatten meines Lebens führe. Und bei der Rückkehr in unser Hotelzimmer machte ich jetzt tatsächlich, als ich mich an den kleinen Schreibtisch dort setzte, den Fehler, vor der Durchsicht meiner Notizen über Sabina Pauen noch meine E-Mails zu checken. Und natürlich war eine Mail von Riccardo eingetroffen, mit einem Link zu einer Rezension des Philosophen Alva Noë über den Film Alles steht Kopf. Eine Filmkritik von einem Philosophen bekommt man nicht alle Tage zu lesen, daher machte ich gleich anschließend den nächsten Fehler, indem ich, statt Pauens Aufsatz über »Object Categorization and Socially Guided Object Learning in Infancy« noch einmal zu lesen, diese Kritik überflog.

An den Pixar-Zeichentrickfilm Alles steht Kopf werden Sie sich sicherlich erinnern. Ein Mädchen namens Riley macht darin eine emotional turbulente Phase durch, als ihr Vater eine Stelle in einer anderen Stadt annimmt und sie mit dem Umzug und ihrer neuen Umgebung klarkommen muss. Aber das Konzept des Films besteht darin, Rileys Psyche mithilfe von fünf winzigen Gestalten darzustellen, die in ihrem Kopf herumflitzen und um die Kontrolle über die Schaltknöpfe wetteifern, die Rileys emotionale Reaktionen steuern. Diese kleinen Homunkuli, die den Figuren anderer Pixar-Filme unheimlich ähnlich sehen, stehen explizit für die Gefühle Freude, Kummer, Wut, Angst und Ekel, aber da sie gleichzeitig auch voll ausgeprägte Individuen sind, wirft der Film die Frage auf, von der Alva Noë behauptet, sein Sohn hätte sie ihm schon beim Anschauen des Films gestellt, nämlich ob diese kleinen Gestalten in Rileys Kopf ihrerseits weitere, noch kleinere Gestalten in ihren eigenen Köpfen haben. Und die Frage, warum Riley das Gefühl hat, nur eine einzige Person zu sein und nicht fünf, oder fünf mal fünf oder fünf mal fünf mal fünf? Und so weiter.

Auch wenn es wenig überrascht, dass ein Pixar-Film nicht unbedingt das Nonplusultra in Sachen Psychologie, Ontologie oder Metaphysik ist, finde ich es doch interessant, dass Alles steht Kopf so breite Anerkennung fand und als innovativ, einsichtsvoll und lehrreich gepriesen wurde, und das, obwohl die arme Riley kaum mehr als eine Marionette zu sein scheint, die den Launen ihrer fünf inkompetenten Puppenspieler hilflos ausgeliefert ist. Entspricht das wirklich der Vorstellung, die die meisten Menschen von der Beziehung zwischen Körper und Geist haben? Noë bemerkt dazu:

Descartes (1596–1650) formuliert den Gedanken, den er allerdings nicht unterstützt, der Körper sei ein Schiff und das Ich hause im Körper wie der Lotse in diesem Schiff. Hume (1711–1776) brachte die Vorstellung voran, dass es kein Ich gibt, dass das, was wir das Ich nennen, tatsächlich nur ein Bündel von Wahrnehmungen, Gefühlen und Gedanken ist. Die zeitgenössische Kognitionswissenschaft verknüpft diese beiden Konzepte zu einer äußerst unbeholfenen Synthese: Wir sind das Gehirn, das wiederum nicht in Gestalt eines Ichs daherkommt, sondern als riesiges Heer von kleinen Ichs oder Instanzen, deren kollektive Handlungen das erzeugen, was von außen betrachtet so wirkt, als sei es ein und dieselbe Person.

Beim Lesen dieses Textes kann ich nicht umhin, Noë um seine synthetischen Fähigkeiten zu beneiden, die alles andere als unbeholfen sind, und ich frage mich, ob Sabina Pauen wohl Alles steht Kopf gesehen hat und bereit wäre, über die darin angesprochenen Themen zu reden, vor allem über die Frage, ob das bewusste Erleben tatsächlich im Kopf eingeschlossen ist und dadurch zustande kommt, dass kleine Menschen im Innern der Menschen einander wie durch Periskope betrachten (ein Effekt, der in Alles steht Kopf erzeugt wird, indem die Homunkuli ihre Augen benutzen, um Bildschirme anzuschauen, die das Material, das Rileys Augen wie Kameras einfangen, aufzeichnen). Oder ob es, das bewusste Erleben, irgendwie auch außen ist, oder zumindest aktiv aus Innen und Außen zusammengesetzt wird, aus der Person, die etwas erlebt, eine Erfahrung macht, und der Sache, die erfahren wird? Denn obwohl ich offiziell hier bin, um für Herrn Köllhofer einen Beitrag zu verfassen, der auf dessen Fragestellung eingeht, ob die Wissenschaft in den Köpfen der Menschen die Religion ersetzt – dafür erhalte ich die ansehnliche Summe von 10.000 Euro –, besteht mein tieferes Interesse doch darin, zu hören, was die Wissenschaftler, die ich treffen werde, von dieser Innen-Außen-Thematik halten, die im Grunde nichts anderes beschreibt als das Wesen unserer Verbindung zur Welt und das große Rätsel unserer Wahrnehmung in jedem einzelnen Augenblick: dass alles, was außen ist, wenn ich morgens die Augen aufschlage – die Wand, der Schrank, das Bettzeug, meine Partnerin –, sozusagen auch in mir ist, oder zumindest mir gegenwärtig, mir irgendwie eigen, und folglich an zwei Orten zugleich existiert, der Schrank im Zimmer und der Schrank in meinem Kopf. Wie kann das sein und was geschieht hier eigentlich konkret? Diese Frage beschäftigt mich, ist Thema meines langen Austauschs mit Riccardo Manzotti, Gegenstand unend licher Lektüre und in gewisser Hinsicht auch die Frage, die jeder Roman aufwirft: Wie passen das Erleben und die Erfahrungen der einzelnen Figuren mit der Welt als Ganzem zusammen, inklusive der Erfahrungen aller anderen Figuren? Wie stark sind wir voneinander getrennt, wie sehr miteinander verbunden? Inseln ganz für uns allein, oder Teile des Kontinents, Brocken des Festlands?

Bin ich also unter falschem Vorwand nach Heidelberg gekommen, oder greife ich zumindest die »ansehnliche Summe« quasi mit meiner ungelenken linken Hand ab, während meine (hoffentlich) kompetentere rechte mit etwas ganz anderem befasst ist? Nicht ganz. Denn nichts könnte wichtiger sein, wenn man sich die konkurrierenden Behauptungen von Wissenschaft und Religion anschaut, als die Frage, ob das Ich, der Geist, die Seele oder einfach das Bewusstsein, etwas Separates ist, das sich isoliert im Kopf befindet, oder ob es sich dabei um eine andauernde Zusammenarbeit zwischen dem Körper, dem Gehirn und der Welt handelt. Trifft Ersteres zu – ist der Geist abgetrennt und isoliert –, dann haben wir es mit dem Traum der Abstraktion zu tun, der Möglichkeit, dass das, was ich mir als »Ich« vorstelle, irgendwie vor dem letztendlichen, unvermeidlichen Verfall des Körpers gerettet werden kann, vielleicht gar in den Himmel aufzusteigen vermag, wie die Christen glauben, oder irgendwann in der Zukunft ganz einfach auf einen besonderen Computer hochgeladen werden kann, wie eine Reihe von Neurowissenschaftlern es für möglich halten. Wenn der Geist hingegen ein Phänomen ist, das von der Interaktion des Körpers mit der Welt abhängt, oder der Interaktion der Welt mit dem Körper, wenn er tatsächlich von dieser Interaktion abhängt und aufrechterhalten wird, dann endet zwangsläufig mit dem Tod des Körpers auch er.

Oder, wenn Ersteres zutrifft – der Geist von allem abgeschnitten im Kopf existiert, wo er Strippen zieht und Knöpfe drückt (allein oder im Team), um dem Körper Anweisungen zu erteilen –, dann wird unser Wissen über die Außenwelt immer Anlass für Misstrauen bieten. Wie kann ich eine Welt kennen, wenn ich nicht Teil von ihr bin, wenn ich in Platons Höhle gefangen und nicht in der Lage bin, die Realität draußen zu erleben, wenn ich Farben sehe, wo keine Farben sind, Gerüche wahrnehme, wo laut Galileo keine Gerüche sind? Ich mag auf das Paradies zusteuern oder potenziell auf Microchips unsterblich werden, aber meine Erfahrung wird, wie Christof Koch mir sagt, nichts als »Schwindel« sein. Ich bin eine Anomalie auf einem Plane-ten, der ganz anders ist, als ich ihn wahrnehme, ich bilde mir Sachen ein, die gar nicht da sind. Misstraue immer deinen Sinnen, rät uns Bacon. Es ist beunruhigend.

Aber wenn Letzteres zutrifft – wenn der Geist eine Folge der Begegnung zwischen Körper und Welt ist –, dann ist der Geist tatsächlich eins mit der Realität, denn dann ist der Geist das gemeinsame Geschehen von Körper und Umgebung, wobei die Umgebung natürlich auch andere Menschen mit einschließt; in diesem Szenario wird der Geist, der beileibe nicht isoliert und verblendet ist, zum Beweis einer realen Begegnung. In welchem Fall ich vielleicht nicht unsterblich bin, aber ebenso wenig einen Priester oder einen Neurowissenschaftler bräuchte, der mir sagt, was Sache ist. Meine Erfahrung ist das, was Sache ist. Sie geschieht tatsächlich.

Es hängt also einiges ab von Alva Noës vernichtender Kritik zu Alles steht Kopf, die, wie ich beim Downscrollen mithilfe des exzellenten WLANs im Hotel Panorama feststelle, von den meisten, die dazu einen Kommentar geschrieben hatten, gehasst wurde – zumeist Leute, die den Film charmant und unterhaltsam fanden und nicht verstehen, was der Philosoph für ein Problem damit hat; er ist ein Intellektueller, ein Langweiler, murren sie, obwohl die meisten aus dem Namen Alva schließen, dass es sich bei Noë um eine Sie und nicht um einen Er handelt. Sie stehen unter dem Einfluss kultureller Normen: Ausländische Vornamen, die auf »a« enden, sind normalerweise weiblich. »Die Frau braucht Hilfe!«, protestiert jemand. Und das, so wird mir klar, ist etwas, womit auch ich mich werde herumschlagen müssen, wenn ich behaupte, die derzeit gültige Standardsicht, nach der unsere bewusste Erfahrung im Kopf eingeschlossen ist, sei Unsinn. Die große Mehrheit der Leute scheint diese Vorstellung recht annehmbar zu finden. Sie besitzt den Status einer kulturellen Norm, wie die Sprache, die wir sprechen, oder unser Glaube an die Demokratie, oder schlicht und einfach gute Manieren. Dagegen anzukommen wird nicht leicht sein.

Aber die Zeit rast, und die guten Manieren verlangen jetzt von mir, zu meiner Verabredung um 10.30 Uhr nicht zu spät zu kommen. Laut Google Maps ist Sabina Pauens Büro nur fünf Minuten zu Fuß von hier entfernt, also gebe ich mir zehn. Folglich bleiben mir noch zwanzig, um meine Notizen durchzugehen.

Im Wesentlichen hat mir Pauen drei wissenschaftliche Forschungsberichte geschickt, einen über Gesichtserkennung bei Babys im Alter von neun Monaten, einen darüber, wie Kleinkinder sich Wissen über Werkzeuge und Utensilien aneignen, und einen, der untersucht, ob Einjährige anders reagieren, wenn ihre Reaktion auf einen Menschen oder ein Objekt durch einen Erwachsenen angeleitet wird. Die Terminologie ist teilweise beängstigend. Das Gesichtserkennungsexperiment wirkt anfangs ganz einfach, scheint kaum mehr zu umfassen als Babys, denen man Fotos zeigt, aber wenn man genauer hinschaut, wird es unheimlich komplex. Die Babys müssen im gleichen Alter sein, in etwa die gleiche ethnische Zugehörigkeit haben und der gleichen sozialen Schicht entstammen, und beide Geschlechter sollen gleich stark vertreten sein. Die Fotos müssen standardisiert und gründlich geprüft sein, sie zeigen ausschließlich weiße Gesichter von ähnlicher Form und Größe, mit neutralem Gesichtsausdruck, in ähnlicher Helligkeit und Farbgebung.

Die Abfolge ist entscheidend. Sollen die Babys »vorbereitet« werden, das heißt, soll ihnen ein Bild gezeigt werden, bevor der eigentliche Wiedererkennungstest beginnt, um die Testerfahrung von der vorhergehenden Erfahrung abzugrenzen? Wenn ja, soll dieses Vorbereitungsbild ebenfalls ein Gesicht zeigen, oder ein anderes Objekt, oder ein geometrisches Muster? Sollen den Babys gleich viele Männer und Frauen gezeigt werden? In welchem Alter? Abwechselnd oder zufällig gemischt? Sollen extrem hässliche oder extrem schöne Gesichter darunter sein, solche, die von der Konzentration auf männlich/weiblich ablenken? Wie lange soll jedes Foto gezeigt werden? Ein paar Millisekunden, eine Sekunde, zwei Sekunden? Wie oft sollen sich die Gesichter wiederholen, und sollen Wiederholungen in regelmäßigen Abständen oder zufällig erfolgen? Usw. usf.

Alle Babys müssen vor gleich großen Bildschirmen sitzen, im selben Abstand, auf dem Schoß der Mutter, aber die Mutter muss darauf achten, nicht mit dem Baby zu interagieren. Lässt sich das leicht gewährleisten? Während des Tests muss jemand überprüfen, ob das Baby tatsächlich auf den Bildschirm schaut, und wenn nicht, dann muss das notiert werden. Das Baby trägt dabei ein mit Elektroden gespicktes Haarnetz auf dem Kopf, damit in einem EEG die elektrischen Ströme unter der Schädeloberfläche aufgezeichnet werden können. Die Aufmerksamkeit liegt auf den mit der Gesichtserkennung verbundenen Wellenlängen, die übrigens nicht die gleichen sind wie bei Erwachsenen. Das Enzephalogramm wird mit der Diashow synchronisiert, sodass es hinterher leichtfällt, die Reaktionen den einzelnen Bildern zuzuordnen. Wenn das Kind nicht aufmerksam war, wird das Einzelergebnis ignoriert. Manchmal passiert auch noch etwas anderes, ein Schluckauf oder ein Juckreiz, und auch dann muss das Ergebnis verworfen werden. Manche Babys sind so wenig aufmerksam, dass die seltenen Momente, in denen sie es doch waren, nicht gewertet werden können, denn wie soll man die Gesamtwirkung der Bilderfolge, inklusive der Wiederholungen und so weiter, beurteilen, wenn das Baby nur einen Bruchteil davon angeschaut hat? Die Ergebnisse von 60 Prozent der getesteten Babys werden verworfen.

Sobald die Tests vorbei sind, beginnt die eigentliche Arbeit. Welche Wellenlängen wurden gemessen? Wie lange genau nach dem Zeigen jedes Fotos traten sie auf? Mit welcher Amplitude? Ist die Reaktion eine andere, wenn das Kind vorbereitet wurde? Ist die Reaktion auf männliche und weibliche Gesichter dieselbe? Bleibt die Reaktion gleich, wenn ein Bild wiederholt wird? Ist die Veränderung in der Reaktion bei männ lichen und weiblichen Gesichtern gleich? Hängt sie davon ab, ob das Kind männlich oder weiblich ist?

Um das alles erfassen zu können, musste ich mich einlesen in die Anatomie des Gehirns und die Enzephalografie – was genau kann ein Enzephalogramm uns sagen, wo sind die Grenzen seiner Aussagekraft – und mich dann an einige statistische Berechnungsmodelle erinnern, was die Aufzeichnung von Ergebnissen betrifft. Das war anspruchsvoll, aber auch faszinierend. Die wahnsinnige Detailgenauigkeit und die heiklen Voraussetzungen des Experiments an sich – ein Baby überhaupt dazu zu bringen, aufmerksam zu sein, die Mutter hinsichtlich der Elektroden am Kopf des Kindes zu beruhigen – sind schon außergewöhnlich. Und was, wenn die Person, die überprüft, ob die Augen des Babys auf die Fotos gerichtet sind, selbst einmal kurz wegschaut?

Das ist Wissenschaft. Die beharrliche Suche nach geregelten, vergleichbaren, wiederholbaren Bedingungen, damit man etwas immer wieder testen und schließlich mit hinreichender Sicherheit bestätigen kann. Man stellt eine Hypothese auf, die so formuliert wird, dass sie bewiesen oder widerlegt werden kann; in diesem Fall die Hypothese, dass Babys zwischen Männern und Frauen unterscheiden können, oder es jedenfalls tun, und daher schon vor dem Spracherwerb ein Bewusstsein für Kategorien besitzen; und weiterhin die Hypothese, dass Babys sich an ein Foto, das sie einmal gesehen haben, erinnern, und dass sich das an der Reaktion ihres Gehirn ablesen lässt, wenn sie das Foto zum zweiten Mal sehen.

Und so weiter. Hunderte, wenn nicht Tausende von Stunden sind in diese Studien geflossen, von denen jede einzelne auf einer Fülle vorhergehender Studien basiert, die in diesen neuen Studien alle gewissenhaft und wiederholt erwähnt werden, und von denen jede einzelne ein Team engagierter, hochgebildeter Mitarbeiter und teure, hoch entwickelte technische Geräte erfordert. Als ich mich auf den Weg zu meinem Interview mache, bin ich plötzlich verunsichert. Professor Pauen ist eine Autorität. Ich bin bloß ein Typ, der zwar selbst drei Kinder hat, sich an deren kognitive Fähigkeiten im Alter von neun Monaten, oder achtzehn Monaten oder zwei Jahren aber so gut wie gar nicht erinnern kann. Wie können wir normalen Menschen je dahinterkommen, worauf die Wissenschaftler in Sachen Gedächtnis, Wahrnehmung und Bewusstsein tatsächlich hinauswollen? Wäre es nicht besser, sich einfach ihrer Kompetenz zu beugen und sich von ihnen erklären zu lassen, wie das alles zusammenhängt?

Es regnet in Strömen. Meine frühmorgendliche Intuition war also richtig. An der Hotelrezeption stellt man mir freundlicherweise einen Regenschirm zur Verfügung. Ich hatte mir den Weg zum Interview auf Google Maps angesehen, aber jetzt scheinen die Straßen von Heidelberg nicht mit meiner Erinnerung übereinzustimmen. Ich habe kein Smartphone, aber ich habe die Karte auf meinem Computer gespeichert, der sich in meinem Rucksack befindet, eine Strategie, die der Philosoph Daniel Dennett gern als »outsourcing intelligence« (die Auslagerung von Informationen) bezeichnet und für eine der größten Errungenschaften der menschlichen Evolution hält; man übergibt Informationen an eine Reihe von Hilfsmitteln – Bücher, Einkaufslisten, Straßenschilder –, um nicht selbst an alles denken zu müssen und sein Gedächtnis dadurch zu überladen. »Supersizing the mind« (das Gehirn überdimensionieren) nennt es ein anderer Philosoph, Andy Clark.

Also bleibe ich unter einer Ladenmarkise stehen, klappe meinen Schirm zu, hole den Computer hervor und schalte ihn ein. Ich muss ihn mit einer Hand halten, um mit der anderen das Passwort einzugeben. Es dauert ewig, bis er hochfährt. Mir wird bewusst, dass mein rechter Schuh undicht ist. Ich habe diese Schuhe schon ziemlich lange. Ich gehöre zu den Menschen, die nur ungern Sachen austauschen. Mein Fuß wird nass. Dann klingelt mein Telefon. Einiges Jonglieren ist nötig, um es aus meiner Jeanstasche zu ziehen. Jetzt käme mir ein nicht-virtuelles Hilfsmittel gelegen, eine Krücke zum Beispiel. Es ist die Universität von Mailand. Mein Arbeitgeber. Soll ich rangehen? Nein. Komme ich zu spät zu meinem Interviewtermin? Höchstwahrscheinlich. Es gibt Philosophen und Neurowissenschaftler – viele –, die bestreiten, dass subjektive Gehirnzustände existieren. Angst, Schuld, Freude sind nur Wörter, die wir mit verschiedenen Verhaltensweisen verknüpfen. Wenn dieser sogenannte subjektive Zustand nicht mit einem beobachtbaren Verhalten oder zumindest mit einer mittels eines Enzephalogramms oder eines hoch entwickelten Prozesses der Gehirnabbildung objektiv verfolgbaren neuronalen Aktivität in Zusammenhang gebracht werden kann, dann können wir sicher sein, dass er nicht wirklich existiert. Dennoch, während ich mich weiterhin so verhalte, wie die meisten von uns es unter diesen Umständen tun würden, die Karte studiere, meinen Fehler finde – ich bin eine Ecke zu früh links abgebogen –, unter meinem Schirm weiterhaste und meinen undichten Schuh verfluche, ist mir sehr bewusst, dass ich gerade einen unangenehmen Gefühlscocktail erlebe, einen zermürbenden Mix aus Verwundbarkeit, Dummheit und schlechtem Gewissen. Warum ein schlechtes Gewissen? Weil es anmaßend von mir war, zu glauben, ich könnte diese ganzen Sachen je wirklich durchschauen. Und Zorn. Ich verschwende meine Zeit. Ich hätte mich nie darauf einlassen sollen.

Ist nun diese defätistische Stimmung, die mich beim Überqueren des Innenhofes eines ziemlich prächtigen alten Universitätsgebäudes plötzlich überfällt, ein reales Objekt in der materiellen Welt? Besitzt sie also eine physikalische Existenz, oder besitzt sie die nicht? Wenn ja, ist sie dann das Resultat des Zugriffs eines unseligen Homunkulus auf die Kontrollhebel in meiner Kommandozentrale da oben? Könnte man sie je mit einer schlauen Maschine an einer präzisen Stelle oder an mehreren präzisen Stellen in meinem Schädel verorten und messen? Oder besteht sie eher, wie der Philosoph David Chalmers meint, aus einem mysteriösen X-Faktor, der sich bisher noch jenseits unseres Wissenshorizonts befindet? Wie auch immer sich das verhält, dieses unselige, mit negativen Vorahnungen beladene Gefühl ist für mich jedenfalls äußerst präsent und real – ich fühle mich schlecht, also bin ich –, während ich die Treppe zum dritten Stock des Psychologischen Instituts der Universität Heidelberg hinaufsteige; und das, obwohl ich der Einzige bin, der je genau wissen wird, wie sich das Gefühl angefühlt hat, und obwohl es bis zum Mittagessen höchstwahrscheinlich wieder verschwunden sein wird. All das, und dazu noch mein feuchter Fuß. Ich hasse es, nasse Füße zu haben. Wie auch immer, ich werde mich durch diese miese Stimmung hindurchkämpfen müssen, wenn mein Interview erfolgreich verlaufen soll. Es gibt, so scheint es, ein Ich, oder ein Etwas, das jenseits defätistischer Stimmungen existiert und einfach weitermacht.

Zuerst eine breite alte Holztreppe, dann ein breiter Flur mit Holzboden. Geschliffene Dielen. Alles sehr deutsch. Pauens Tür liegt auf der linken Seite; ich bin sogar fünf Minuten zu früh da. Wie kann das sein? Folgt meine innere Uhr einer anderen Ordnung als die offizielle Uhr, ähnlich wie meine innere Temperatur nie mit der meiner Partnerin übereinstimmt? Der kleine Panikanfall mit dem Computer unter der tropfenden Markise kam mir ewig lang vor, hat aber in Wirklichkeit nur etwa ein oder zwei Minuten gedauert. Wenn das der Fall ist, war dann gar nichts real an meinem Eindruck, dass er lange dauerte?

Da ich das Gefühl habe, hinter der Tür Stimmen zu hören, setze ich mich auf eine Bank im Flur und ziehe noch einmal den Computer hervor, um einen letzten Blick auf meine vorbereiteten Fragen zu werfen. Eine junge Frau kommt und setzt sich neben mich. Ein Paar mit einem weinenden Baby tritt aus einer Tür gegenüber. »Dem Kleinen hat die Fotoerkennungs-Session wohl keinen Spaß gemacht«, sage ich zu der Frau neben mir. »Kann sein«, antwortet sie lächelnd. Es ist großartig, wie umstandslos die Deutschen bereit sind, Englisch zu sprechen. Stellen Sie sich mal vor, Sie sprechen in einer ähnlichen Situation eine englische Person auf Deutsch an und kriegen so eine prompte Antwort.

In den nächsten paar Minuten erzählt mir diese junge Frau davon, wie schwer es ist, die Babys dazu zu bringen, sich auf die Fotos zu konzentrieren. Aber es lohnt die Mühe, weil die Ergebnisse so faszinierend sind, die kleinen Gehirne so empfänglich. Als ein Paar mit einem Kleinkind auf dem Treppenabsatz erscheint, steht sie auf, um die Leute zu begrüßen, und führt sie zu einem Zimmer weiter hinten auf dem Flur. Um Punkt zehn Uhr, genau wie per E-Mail vereinbart, klopfe ich an die Tür, und eine Stimme bittet mich herein. Sabina Pauen ist allein im Zimmer. Hat sie vorhin mit sich selbst gesprochen? Oder war sie am Telefon? Oder habe ich mich getäuscht?

Sie ist eine attraktive Blondine im mittleren Alter mit einem freundlichen Lächeln. Ich setze mich, sodass wir uns über den Schreibtisch hinweg anschauen. Da wir beide nicht an solche Interviews gewöhnt sind, ist die Atmosphäre ein wenig gezwungen. Schon wieder flüchtige subjektive Gefühle; aber wie entspannt kann man sein, wenn man um zehn Uhr morgens mit einer völlig fremden Person eine Diskussion über das Bewusstsein führen möchte? Vielleicht wird jede ernsthafte Reflexion einem Erdrutsch gewöhnlicher Umstände abgetrotzt, kann das sein? Und jedes Buch gegen eine Flut von Ablenkungen geschrieben? Selbst die Wissenschaftler, die die objektive Existenz subjektiver Stimmungen bestreiten, wären gegen schlechte Laune aufgrund einer nassen Socke nicht immun. Obwohl mein eigenes Unbehagen jetzt vom Radar verschwunden ist, da ich mich dar auf konzentriere, eine freundliche Atmosphäre zwischen mir und dieser Frau herzustellen, teils in der Hoffnung, dass sie mir etwas Inter essantes erzählen wird, teils weil ich das immer tue, wenn ich mich mit jemandem treffe. Ich bemühe mich, freundlich zu sein. Das Deutsch-Amerikanische Institut hat sich da ein sehr ehrgeiziges Projekt einfallen lassen, sage ich zu ihr. Hat sie manchmal das Gefühl, dass die Menschen die Wissenschaft wie eine Religion behandeln?

»Auf jeden Fall hoffen sie immer, dass ich ihnen etwas Wichtiges sagen werde«, antwortet Doktor Pauen lachend.

»Vielleicht suchen sie nach Bestärkung durch eine Autorität?«

Fast ohne jede Vorrede sind wir schon mitten in unserem Thema. Pauen erzählt mir, dass verschiedene Verleger zum Beispiel scharf dar auf sind, dass sie ein Buch über ihre Arbeit schreibt, in dem sie erklärt, wie Kinder schon sehr früh im Leben Kategorien für Dinge, Tiere und Menschen einrichten.

»Sie möchten, dass ich ausformuliere, wie das Gehirn diese ersten Schritte hin zu Konzepten und Kategorien vollzieht.«

»Klingt gut.«

»Aber ich bin mir gar nicht so sicher, wie das genau geschieht. Wenn ich also ein Buch schreibe, dann nagele ich mich selbst auf eine Position fest, die sich sehr leicht widerlegen ließe. Ich würde dumm dastehen.«

War das nicht genau meine Sorge hinsichtlich des Samowars beim Frühstück gewesen?

»Die Leute wünschen sich von der Wissenschaft wasserdichtere Aussagen, als sie tatsächlich treffen kann«, vermute ich. »Ist es das?«

»Genau.«

Ich bin enttäuscht und ermutigt zugleich. Ermutigt, weil Sabina Pauen eine angenehme und gewinnende Art besitzt, mit der sie meine negative Stimmung schnell vertrieben hat, enttäuscht, weil sie mir offensichtlich nichts Bahnbrechendes darüber erzählen wird, wie Babys Konzepte entwickeln.

Sie fragt mich, ob ich die Texte gelesen habe, die sie mir geschickt hat, und ich sage, ja. Alle drei.

»Ich wollte Sie noch zum Gebrauch des Wortes ›Repräsentationen‹ fragen. Sie sagen in Ihrer Studie, dass Sie herausfinden wollen, wie lange ein Kind braucht, um ein Gesicht zu encodieren und eine Repräsentation dieses Gesichts zu etablieren.«

»Genau, das dauert länger als bei Erwachsenen. Erwachsene erkennen ein Gesicht innerhalb von Millisekunden; ein kleines Kind braucht dafür länger. Eine Sekunde vielleicht, oder anderthalb, im Alter von neun Monaten.«

»Aber in beiden Fällen gehen Sie also davon aus, dass es einen Code und eine Repräsentation gibt?«

Diese Frage erzeugt ein kurzes Schweigen. Dann sagt sie: »Das sind die Begriffe, mit denen wir die Tatsache beschreiben, dass das Kind von diesem Moment an anders auf das Gesicht reagiert, weil es das Gesicht schon einmal gesehen hat.«

»Aber es gibt keine Repräsentation im Kopf des Kindes. Ein Bild des Gesichts im Kopf, das vom Gesicht auf dem Bildschirm getrennt ist.«

»Nein, so meinen wir es nicht.«

Ich bin verwirrt. Was ist eine Repräsentation, wenn nicht ein Bild von etwas, das von diesem Etwas getrennt ist? Was ist ein Code, wenn nicht etwas, das dazu dient, eine verschlüsselte Version von etwas anderem zu erzeugen? Warum verwenden sie diese Worte, wenn das gar nicht gemeint ist?

»Es gibt also keinen Code und auch kein Bild, die im Gehirn abgespeichert sind?«

Dies wäre vielleicht der passende Moment, Alles steht Kopf zur Sprache zu bringen, wo Rileys Erinnerungen in verschlossenen, semi-transparenten Kugeln, jede so groß wie ein Krocketball, aber in verschiedenen Farben, die für verschiedene Gefühle stehen, aufbewahrt und in Regalen gelagert werden, die sich in einer Art riesigem, blitzsauberem Körperarchiv befinden. Aber ich fürchte, Professor Pauen könnte die Erwähnung des Pixar-Films als respektlos empfinden.

Sie überlegt inzwischen und seufzt. Hinter ihrer Arbeit stecke kein philosophisches oder metaphysisches Anliegen, erklärt sie. Sie und ihr Team versuchten nicht, die ultimativen Fragen zu Gedächtnis oder Bewusstsein zu beantworten. Was tatsächlich im Kopf geschieht oder nicht geschieht, wenn diese Hirnströme auftreten, vermag sie nicht zu sagen. Wofür steht eine N170-Komponente oder eine N160? Oder eine P1? Das sind nur Wellen negativer oder positiver elektrischer Potenziale – EKPs genannt, ereigniskorrelierte Potenziale –, die eine bestimmte Anzahl von Millisekunden – 170, 160 – nach einem Vorfall, oder »Ereignis«, wie dem Erblicken eines Gesichts auftreten. »Wir können nicht sagen, was das bedeutet oder wie es funktioniert, auch wenn die Neurowissenschaftler natürlich ihre Theorien haben.« Sie sei Kinderpsychologin, betont sie. »Was wir sagen können, ist, dass ein Muster besteht, nach dem die Reaktion eines neun Monate alten Babys auf ein Gesicht, das es zum zweiten Mal sieht, weniger ausgeprägt ist als beim ersten Mal. Oder zumindest ist das so, wenn es sich um das Gesicht einer Frau handelt; bei Männergesichtern hin gegen ist es nicht so.«

»Und Sie schließen daraus, dass die Kinder Kategorien unterscheiden können. Aber vermutlich wissen sie nicht, dass sie Kategorien unterscheiden.«

»In mehreren Experimenten haben wir verschiedene typische Reaktionen auf Gegenstände, Tiere und Menschen aufgezeichnet, und auf Männer und Frauen, die ein Bewusstsein für unterschiedliche Kategorien nahelegen. Und zwar schon in einem früheren Alter, als man zuvor angenommen hatte. Daher handelt es sich hier um bahnbrechende Erkenntnisse.«

»Könnte es nicht einfach so sein, dass Männer und Frauen und Tiere verschieden sind und deshalb unterschiedliche Reaktionen auslösen, ohne dass das Kind dafür Kategorien erschaffen muss?«

»Es ist aber so, dass diese unterschiedlichen Reaktionen im Alter von zum Beispiel sechs Monaten nicht auftreten. Da unterscheidet das Baby nicht. In diesen drei Monaten hat sich also etwas verändert, und jetzt reagiert das Kind auf männliche und weibliche Gesichter mit unterschiedlicher Intensität.«

»Wenn Sie es dazu bringen können, sich auf die Fotos zu konzentrieren.«

»Genau.«

Um die Stimmung locker zu halten, bemerke ich, dass ich oft selbst Schwierigkeiten hätte, Männer und Frauen voneinander zu unterscheiden.

Professor Pauen lacht und stimmt mir zu. Sie erklärt, dass die Fotos, ehe sie den Kindern gezeigt werden, von einer Reihe von Psychologiestudenten betrachtet werden, die sie in feminin und maskulin einstufen; alle uneindeutigen oder androgyn wirkenden Gesichter werden aussortiert.

»Sind sich die Studenten in ihrer Einstufung einig?«

»Meistens ja.«

»Dann unterscheiden die Babys im Grunde gar nicht zwischen Männern und Frauen, sondern zwischen einer kulturellen Norm von Weiblichkeit und Männlichkeit, die eine Gruppe von Psychologiestudenten festgelegt hat.«

»Stimmt, es kommt uns nicht darauf an, ob ein Baby einen Transvestiten von einer Frau unterscheiden könnte, sondern ob die Kinder mithilfe der Erfahrungen in ihrem Umfeld ein allgemeines Konzept von Frauen und Männern entwickelt haben. Deshalb arbeiten wir bei diesem speziellen Experiment auch mit kaukasischen Gesichtern, das heißt mit Gesichtern, die den gleichen ethnischen Hintergrund haben wie die Familien der Babys. Wir wollen nur herausfinden, wann Babys sich dieser Kategorien bewusst werden, und da sie nicht sprechen können, bestimmen wir es anhand ihrer neurologischen Reaktion auf die Gesichter. Wir möchten außerdem wissen, ob sie ein Gesicht wiedererkennen, das heißt, ob sie wissen, dass sie es schon einmal gesehen haben. Und alle Versuche lassen anhand der verminderten Stärke der Gehirnwellenreaktionen beim zweiten Anschauen vermuten, dass sie das Gesicht tatsächlich wiedererkennen, dass sie sozusagen schon an es gewöhnt sind.«

»Aber bedeutet Wiedererkennen, dass sich das Gehirn verändert hat? Dass die kurze Betrachtung eines Gesichts etwas im Gehirn verschoben hat und es deshalb beim zweiten Mal anders reagiert?«

»Wenn Sie es so ausdrücken wollen, ja. Darin zeigt sich die unglaubliche Plastizität des Gehirns. Es hat sich angepasst, damit es weiß, dass es das Gesicht schon einmal gesehen hat.«

»Aber weiß das Kind es? Ich meine, das Gehirn des Babys reagiert anders, aber ist dem Baby bewusst, dass es dieses Gesicht schon einmal gesehen hat und dass es jetzt anders reagiert?«

»Die Frage hat mir noch nie jemand gestellt«, sagt sie. Sie überlegt. »Wir nehmen es an, ja. In gewisser Hinsicht.«

»Okay, und würden Sie sagen, dass Wiedererkennen das Gleiche ist wie Erinnern? Ist es irgendwo ›gespeichert‹?«

»Wir können wirklich nicht sagen, ob das Baby eine spontane Erinnerung an das Gesicht erlebt.«

»Und Sie wissen auch nicht, warum Sie den Wiedererkennungseffekt bei weiblichen, aber nicht bei männlichen Gesichtern feststellen.«

»In diesem Alter. Das sollte ich betonen. Ein paar Monate später reagieren die Kinder auch auf männliche Gesichter mit Wiedererkennung. Aber nein. Wir können nur spekulieren, dass ihnen weibliche Gesichter in dem Alter einfach vertrauter sind, da die Welt der Babys hauptsächlich aus Frauen besteht und sie daher ein weibliches Gesicht schneller …«

»… verschlüsseln und eine Repräsentation erstellen.«

Sie lacht.

Ich stelle die allgemeinere Frage, wie die Eltern der Babys das Experiment und sie sehen. Ist es nicht ein bestimmter Elterntypus, der ein Kind hierherbringt, obwohl es dafür kein Geld gibt? Hoffen die Eltern nicht vielleicht, dass ihr Kind der Konkurrenz voraus ist? Oder ihr voraus sein wird? Beeinflusst das nicht das Testergebnis? Was, wenn die Kinder sich gar nicht für die Fotos interessieren?

»Oh, sie sind sehr oft kein bisschen interessiert!«

Es scheint öfter vorzukommen, dass Pauens Team ein Kind nach Hause schicken muss, ehe das Experiment abgeschlossen ist.

»Es geht aber darum, dass wir, wenn wir zwanzig oder dreißig Testergebnisse bekommen, die alle in die gleiche Richtung weisen, nachdem wir die Ergebnisse durchgerechnet haben, eine Studie veröffentlichen können, in der wir sagen, in diesem Alter unterscheiden Babys A von B.«

»Diejenigen, die den Test nicht abgeschlossen haben, tun das womöglich aber nicht.«

»Womöglich nicht, nein. Aber das Wichtige ist die Feststellung, dass einige es tun, selbst in diesem frühen Alter.«

»Wozu ist all das letztendlich gut?«

Die Aufgabe, »ein Interview zu führen«, zwingt einen, solche Fragen zu stellen. Mir ist schon während ich frage klar, dass mich die Antwort eigentlich nicht interessiert, sondern nur, wie Pauen die Frage einordnen wird, obwohl keines meiner Anliegen – weder die offizielle Frage »Ersetzt die Wissenschaft die Religion?« noch die inoffiziell verfolgte Frage »Was ist das Wesen des Bewusstseins?« – es erforderlich macht, Pauen auf diese Weise zu testen oder darüber nachzudenken, wie gut ihre Forschungsgelder angelegt sind. Ich lasse mich hier also von einer gewissen kulturellen Trägheit ablenken: Dies ist die Art von Frage, die ein potenziell empörter Vertreter der Öffentlichkeit einem Wissenschaftler stellen könnte.

»Das ist ein heikles Thema«, gibt Pauen zu und schaltet ebenfalls sofort auf Autopilot, erkennt und kategorisiert meine Frage, genau wie ihre Babys männliche und weibliche Gesichter erkennen und zuordnen. Etwas in ihrem Gehirn war darauf vorbereitet; sie hat das schon erlebt. Sie persönlich, sagt sie, empfinde ihre Arbeit als reine Forschung, sie verfolge keine Ziele jenseits der Bestätigung gewisser Hypothesen und der Veröffentlichung entsprechender Studien. Andererseits fragten die Leute sie immer wieder nach praktischen Anwendungsmöglichkeiten, und wenn ihr Team sich um Forschungsgelder bewerbe, sei es natürlich verlockend, einen direkten praktischen Nutzen der Forschungsergebnisse in Aussicht zu stellen, denn damit lie-ßen sich die hohen Kosten wesentlich leichter rechtfertigen.

»Ich schätze«, fasst sie zaghaft zusammen, »wenn wir feststellen können, wie die normale kindliche Entwicklung abläuft, in welchem Alter Kinder zwischen A und B unterscheiden, in welchem Alter sie lernen, dieses oder jenes Werkzeug zu benutzen, oder zum Beispiel zwischen einer funktionalen Eigenschaft eines Werkzeugs, wie seiner Länge oder seiner Form, und einer anderen zwar reizvollen, aber nichtfunktionalen Eigenschaft wie seiner Farbe zu unterscheiden, dann können wir sagen, ob ein bestimmtes Kind sich mehr oder weniger innerhalb der Norm bewegt, und wo jedes Kind in einem bestimmten Alter in der kognitiven Entwicklung stehen sollte, und wenn wir wollten, könnten wir aus diesen Erkenntnissen pädagogische Aktivitäten entwickeln, um die Kinder im richtigen Moment in die richtige Richtung zu lenken. Wir könnten ihre Entwicklung ein bisschen unterstützen.«

»Besteht da nicht die Gefahr, dass Sie besorgte Eltern noch darin bestärken, übertrieben viel Aufhebens zu machen? Wie macht sich mein Baby, wie kann ich es in seiner Entwicklung maximal fördern?«

»Das wäre natürlich zu bedenken«, sagt sie lachend, und in diesem Moment wird mir klar, dass ich sie mag.

»Übrigens«, sage ich zu ihr, »die Texte sind in ausgezeichnetem Englisch geschrieben. Ist es schwierig, auf Deutsch zu forschen und dann alles in Englische übertragen zu müssen?«

Seltsamerweise entpuppt sich dieses Kompliment, geboren aus dem Gefühl, dass ich Sabina Pauen mag und ihr gerne etwas Nettes sagen möchte, als meine lohnendste Frage bisher. Das Sprachproblem spiele eine große Rolle, sagt sie, vor allem wenn man etwas veröffentlichen möchte, das den sogenannten herrschenden Erkenntnissen vollkommen zuwiderläuft. Zum Beispiel behaupten sie und ihr Team Dinge über neun Monate alte Babys, die zuvor nur für ältere Kinder galten, nämlich dass sie schon vor dem Spracherwerb Kategorien unterscheiden können, was bedeutet, dass das Konzept der Kategorie auch ohne Sprache schon möglich ist. Eine Aussage, die viele anfechten.

»Wenn man Ergebnisse wie diese erzielt, stößt man auf Widerstand seitens der Gutachter, die die Studien lesen, das sind Leute, die sich womöglich einen Namen damit gemacht haben, etwas anderes zu behaupten, oder die einfach ihr Leben lang etwas anderes gelehrt haben. Sie wollen nichts wissen von Forschungsergebnissen, die ihnen zeigen, dass sie sich geirrt haben. Also behaupten sie, Ihr English sei schlecht und Ihr Artikel könne so nicht veröffentlicht werden. Oft denke ich, da wird eine leicht inkorrekte Sprache mit Dummheit gleichgesetzt.«

Das ist definitiv eine Reaktion, die ich in meinen ersten Jahren in Italien selbst kennengelernt habe.

»Die Wissenschaft hat also auch eine orthodoxe, konservative, dogmatische Seite?«

»O ja, auf jeden Fall.«

»Und in dieser Hinsicht gleicht sie tatsächlich einer Religion. Sie will nicht, dass ihr Glaube infrage gestellt wird.«

»Vermutlich, ja. Obwohl die wissenschaftliche Methodik vorschreibt, dass alle Fakten durch Experimente überprüfbar sein müssen, die beweisen könnten, dass sie falsch sind. Sie müssen widerlegbar sein, so sagt man, anfechtbar. Manchmal haben wir Studien mit aufregenden Ergebnissen rausgeschickt, die wir für absolut wasserdicht hielten, und sie wurden uns mit Kommentaren zur englischen Sprache zurückgeschickt. Daher ist es wohl ermutigend, aber zugleich auch deprimierend, dass Sie, ein Schriftsteller und Übersetzer, mir sagen, das Englisch sei ausgezeichnet.«

»Ja, es ist gut. Ich hatte absolut kein Problem damit.«

Es gibt keinen besseren Weg, Freundschaft zu schließen, als dem anderen die Möglichkeit zu geben, seinem Unmut Luft zu machen, und dann zuzustimmen, dass er oder sie schlecht behandelt worden ist. »Ich habe einen Freund«, fange ich an, »der jedes Mal wie ein Wahnsinniger darum kämpfen muss, dass seine Sachen veröffent licht werden.«

Aber ehe ich mir anschaue, wie sie auf Riccardos ernstlich radikale Ideen reagiert, denke ich, es könnte klug sein, sie zum Mittagessen einzuladen. Sie nimmt sofort an.

Bin ich mein Gehirn?

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